Tamsin
weiß nicht, was mit ihr los ist. Sie hasst ihr Leben, wie es ist. Und die
Leute, die ihr ständig das Gefühl geben, alles falsch zu sagen oder zu tun. Sie
ist traurig. In der WG ist sie nicht glücklich. Ein Mitbewohner schließt den
Kühlschrank nie ab und sie traut sich nicht, ihn darauf anzusprechen. Er ist
noch ruhiger als Tamsin selbst. Oder wie Tamsin bisher war. „Ich muss mich wohl
auch zurückhalten – verbal. Macht eh alles keinen Sinn.“
Um sich
abzulenken, war sie mit den Eltern in Lübeck. Im City Park. Nach einem Handy
gucken. Aber da war kein Gutes. Naja, keines, das besser wäre, als ihr Altes. Ein
Kauf lohnt sich nicht.
Sie schaut
nach einem Tablet, aber die Dinger sind teuer und technisch beschränkter, als
ihr alter Vista Rechner von 2007. Und klein! Lohnt sich auch nicht.
Gut. So
spart sie Geld.
Dies ist
ein weiterer Abend, an dem sie nicht in Ruhe einschlafen kann, weil er wieder
Tränen in die Augen steigen. Diesmal wegen Dave. Morgen will er zu ihr kommen,
und dann wollen sie zusammen über den Jahrmarkt gehen. Obwohl sie nur das
Schlimmste erwartet und nie das Positive sieht, grübelt sie unwillkürlich
darüber nach, wie es wohl sein würde, wenn mehr daraus werden würde. Darauf hat
sie so viele Jahre gewartet. So etwas war einer der Hauptgründe um endlich bei
den Eltern auszuziehen. Um eigene Entscheidung zu treffen. Um Freunde zu
finden, für die sie sich nicht rechtfertigen oder lange Erklärung abgeben muss.
Pünktlich zu Hause zu sein, alles zu berichten und sich ausfragen zu lassen.
Sowas ist schrecklich. Nun hat sie endlich ihr eigenes Heim, und doch lässt
diese elende Sorge sie nicht los. Andere haben Freunde und gehen offen damit
um. Aber sie darf das nicht, weil ihr ja verboten wurde, sich mit Menschen aus
dem Internet zu treffen. Sogar das Telefonieren mit denen wurde ihr
untersagt. Denn sie solle lieber mit
anständigen Leuten reden die sie auch kennt. Aber sie sieht das nicht ein.
Sie ist 28
Jahre alt und kann ihr Glück selbst in die Hand nehmen. Oder ihr Unglück. Wie
auch immer.
Aus Angst
vor dem Ärger muss sie dies aber geheim halten. Und das ist eine schwere Last.
Sie kann sich nur am Wochenende mit ihm treffen. Zumindest bei ihr. Denn in der
Woche könnte er gesehen würde und dann muss sie wieder Erklärung abliefern. Und
Ärger aushalten. Alles was sie so sehr hasst. Nur weil sie ist wie sie ist.
Nächtlicher Besuch muss angekündigt werden. Das machen alle und das kann sie
auch nachvollziehen. Aber sie darf das nicht tun, weil das ja alles verraten
würde, und deswegen darf es keinen nächtlichen Besuch geben. Sie hasst es, so
ein großes Geheimnis haben zu müssen, welches ihr immer wieder sehr zu schaffen
macht und was eigentlich völlig unnötig ist.
Ihr wurde das Verbot erteilt, weil sie ja so
schüchtern ist und sich nicht wehren kann und die Menschen nicht einschätzen
kann, weil sie selbst nie großen Kontakt zu anderen Menschen hatte. Dabei
findet sie selbst, dass sie andere Menschen anhand ihrer Schreibweise und ihres
virtuellen Charakters doch ganz gut einschätzen kann. Aber was soll’s. Es hat
keinen Sinn zu widersprechen. Einige Leute halten eben an ihren Überzeugungen
fest. Immer. Erstmal kann sie nichts tun als abwarten. Oder versuchen so schnell
wie möglich gesund zu werden und eine richtige eigene Wohnung zu finden. Eine
noch größere Hürde.
Gerne
würde sie mit jemanden über dieses Problem sprechen. Aber mit wem? Sie hat
niemanden den sie vertrauen kann. Und niemanden, der ihr dabei wirklich helfen
kann. Sie können es ja auch einfach Lügen und behaupten sie kenne diesen
Menschen von irgendwoher, von ihrer Maßnahme oder einen Kurs von damals welchen
sie in Wahrheit niemals besucht hat. Aber das ist auch falsch. Und warum soll
man sich selbst dazu herablassen zu lügen um etwas zu erreichen, was für den
Rest der Menschheit eigentlich ganz selbstverständlich ist?
Diese
Menschen, die Therapeuten und Betreuer wollen sie schützen. Sind besorgt und wollen,
dass es ihr gut geht. Genauso wie ihre Eltern damals. Die sie jahrelang in
ihrem Zimmer zurückgehalten haben und ihr alles verboten haben was Spaß macht.
Nur, weil sie sich daran verletzen könnte oder Menschen begegnen könnte, die
sie ärgern. So wie damals in der Schule.
„Ich fühle
mich einfach nur Elend und unglücklich. Ich habe ein großes Bedürfnis zu
kommunizieren. Wenn ich in der Maßnahme bin und Pause ist gehe ich aber immer
mit dem Handy nach draußen, weil drinnen kein Empfang ist, um dann mit den
Menschen im Internet zu schreiben. Denn sonst redet niemand mit mir. Ich sitze
im Gruppenraum und kann immer nur zuhören wie die anderen sich unterhalten.
Werde sehr selten miteinbezogen. Einige Leute stellen mir manchmal fragen aber
intensive Gespräche entwickeln sich daraus nie. Gegenfragen fallen mir schwer
und allein die Fragen zu beantworten ist für mich schon eine gute Leistung.
Noch nie habe ich es geschafft einfach mal spontan ein eigenes Thema anzufangen
mit irgendeiner Person. Ich kann sowas nicht. Also stehe ich alleine draußen
und gucke auf das Handy.“