Samstag, 30. Juni 2018

Sorgen häufen sich an


Tamsin weiß nicht, was mit ihr los ist. Sie hasst ihr Leben, wie es ist. Und die Leute, die ihr ständig das Gefühl geben, alles falsch zu sagen oder zu tun. Sie ist traurig. In der WG ist sie nicht glücklich. Ein Mitbewohner schließt den Kühlschrank nie ab und sie traut sich nicht, ihn darauf anzusprechen. Er ist noch ruhiger als Tamsin selbst. Oder wie Tamsin bisher war. „Ich muss mich wohl auch zurückhalten – verbal. Macht eh alles keinen Sinn.“

Um sich abzulenken, war sie mit den Eltern in Lübeck. Im City Park. Nach einem Handy gucken. Aber da war kein Gutes. Naja, keines, das besser wäre, als ihr Altes. Ein Kauf lohnt sich nicht.
Sie schaut nach einem Tablet, aber die Dinger sind teuer und technisch beschränkter, als ihr alter Vista Rechner von 2007. Und klein! Lohnt sich auch nicht.
Gut. So spart sie Geld.

Dies ist ein weiterer Abend, an dem sie nicht in Ruhe einschlafen kann, weil er wieder Tränen in die Augen steigen. Diesmal wegen Dave. Morgen will er zu ihr kommen, und dann wollen sie zusammen über den Jahrmarkt gehen. Obwohl sie nur das Schlimmste erwartet und nie das Positive sieht, grübelt sie unwillkürlich darüber nach, wie es wohl sein würde, wenn mehr daraus werden würde. Darauf hat sie so viele Jahre gewartet. So etwas war einer der Hauptgründe um endlich bei den Eltern auszuziehen. Um eigene Entscheidung zu treffen. Um Freunde zu finden, für die sie sich nicht rechtfertigen oder lange Erklärung abgeben muss. Pünktlich zu Hause zu sein, alles zu berichten und sich ausfragen zu lassen. Sowas ist schrecklich. Nun hat sie endlich ihr eigenes Heim, und doch lässt diese elende Sorge sie nicht los. Andere haben Freunde und gehen offen damit um. Aber sie darf das nicht, weil ihr ja verboten wurde, sich mit Menschen aus dem Internet zu treffen. Sogar das Telefonieren mit denen wurde ihr untersagt.  Denn sie solle lieber mit anständigen Leuten reden die sie auch kennt. Aber sie sieht das nicht ein.
Sie ist 28 Jahre alt und kann ihr Glück selbst in die Hand nehmen. Oder ihr Unglück. Wie auch immer.
Aus Angst vor dem Ärger muss sie dies aber geheim halten. Und das ist eine schwere Last. Sie kann sich nur am Wochenende mit ihm treffen. Zumindest bei ihr. Denn in der Woche könnte er gesehen würde und dann muss sie wieder Erklärung abliefern. Und Ärger aushalten. Alles was sie so sehr hasst. Nur weil sie ist wie sie ist. Nächtlicher Besuch muss angekündigt werden. Das machen alle und das kann sie auch nachvollziehen. Aber sie darf das nicht tun, weil das ja alles verraten würde, und deswegen darf es keinen nächtlichen Besuch geben. Sie hasst es, so ein großes Geheimnis haben zu müssen, welches ihr immer wieder sehr zu schaffen macht und was eigentlich völlig unnötig ist.
 Ihr wurde das Verbot erteilt, weil sie ja so schüchtern ist und sich nicht wehren kann und die Menschen nicht einschätzen kann, weil sie selbst nie großen Kontakt zu anderen Menschen hatte. Dabei findet sie selbst, dass sie andere Menschen anhand ihrer Schreibweise und ihres virtuellen Charakters doch ganz gut einschätzen kann. Aber was soll’s. Es hat keinen Sinn zu widersprechen. Einige Leute halten eben an ihren Überzeugungen fest. Immer. Erstmal kann sie nichts tun als abwarten. Oder versuchen so schnell wie möglich gesund zu werden und eine richtige eigene Wohnung zu finden. Eine noch größere Hürde.
Gerne würde sie mit jemanden über dieses Problem sprechen. Aber mit wem? Sie hat niemanden den sie vertrauen kann. Und niemanden, der ihr dabei wirklich helfen kann. Sie können es ja auch einfach Lügen und behaupten sie kenne diesen Menschen von irgendwoher, von ihrer Maßnahme oder einen Kurs von damals welchen sie in Wahrheit niemals besucht hat. Aber das ist auch falsch. Und warum soll man sich selbst dazu herablassen zu lügen um etwas zu erreichen, was für den Rest der Menschheit eigentlich ganz selbstverständlich ist?
Diese Menschen, die Therapeuten und Betreuer wollen sie schützen. Sind besorgt und wollen, dass es ihr gut geht. Genauso wie ihre Eltern damals. Die sie jahrelang in ihrem Zimmer zurückgehalten haben und ihr alles verboten haben was Spaß macht. Nur, weil sie sich daran verletzen könnte oder Menschen begegnen könnte, die sie ärgern. So wie damals in der Schule.

„Ich fühle mich einfach nur Elend und unglücklich. Ich habe ein großes Bedürfnis zu kommunizieren. Wenn ich in der Maßnahme bin und Pause ist gehe ich aber immer mit dem Handy nach draußen, weil drinnen kein Empfang ist, um dann mit den Menschen im Internet zu schreiben. Denn sonst redet niemand mit mir. Ich sitze im Gruppenraum und kann immer nur zuhören wie die anderen sich unterhalten. Werde sehr selten miteinbezogen. Einige Leute stellen mir manchmal fragen aber intensive Gespräche entwickeln sich daraus nie. Gegenfragen fallen mir schwer und allein die Fragen zu beantworten ist für mich schon eine gute Leistung. Noch nie habe ich es geschafft einfach mal spontan ein eigenes Thema anzufangen mit irgendeiner Person. Ich kann sowas nicht. Also stehe ich alleine draußen und gucke auf das Handy.“

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