Tamsin ist schockiert. Schnee! Ganz viel Schnee kam über
Nacht! Nun muss sie wieder die blöden Stiefel anziehen. Naja. Ärger bringt
nichts. Heute ist Donnerstag. Die nächste Woche hat sie Zwangsurlaub. Das Freut
und Ärgert sie gleichermaßen. "Endlich mal eine Woche, wo keine Schüler da
sind und damit auch kein Kiosk offen ist, und dann muss ich Frei nehmen!"
Und dann ist es auch noch so kalt, dass sie
keinen Klee einpflanzen kann.
Wie öde. Abends schreibt sie mit Dave über kranke
Filme. Er mag sowas. Tamsin auch.
Er hat auch Urlaub und will sich mit ihr treffen.
Tamsin hat noch kein neues Foto von ihrer neuen Frisur hochgeladen und sie hat
immer noch Angst, dass er sie wegen ihres Aussehens, ihres korpulenten Leibes
oder der banalen Tatsache, dass sie in einer betreuten WG wohnt, abservieren
könnte. Nicht, dass er den Eindruck macht, so ein Typ zu sein. Aber alles ist
möglich. Und zudem hat Tamsin nie Glück, sodass die Wahrscheinlichkeit, dass er
sie nach dem Treffen nichtmehr anguckt, schon groß ist. Zudem weiß sie nicht,
wie sie mit Don umgehen soll. Nach dem, was er so schreibt, kann man nicht
ausschließen, das er beim ersten Treffen mit einem Verlobungsring aufkreuzt und
ihr einen Antrag macht. Immerhin hat er sich schon nach einer Wohnung erkundigt
und meint, man solle sagen, dass sie Schwanger sei, um diese schneller zu
bekommen. "Immerhin könnte es ja passieren, dass sie schnell wirklich
schwanger werden würde, und dann wäre es keine Lüge mehr.", meint er.
"Ich will keine Hochzeit, Kinder, Liebe mit
und von jemandem, den ich nicht kenne. Andere Menschen warten damit Jahre!
Sowas ist normal! Allerdings mag sie auch nicht Nein sagen, sollte er
fragen.
Wenn Dave sie aus einem Absurden Grund
verschmäht, ja wer außer Don würde sie dann sonst noch wollen? Niemand!?
"Ich will nicht alleine Alt werden."
Wie
gestern hat Tamsin auch heute wieder wenig Lust zu
basteln. Sie überlegt sich ein Motiv und mal das letzte Ei an. Sie gibt sich
dabei besonders viel Müde. Zum einen, weil malen ihr Spaß macht – mehr als
schneiden und kleben, und zum anderen, weil dieses Ei dann wirklich besonders
aussieht. Beinahe drei Stunden sitzt sie daran, während die anderen Beiden aus
Socken mit Reis Hasen basteln und Bilder ausmalen. "Die Sachen dürfen alle
behalten werden.", freut Tamsin sich über die Eier. Das kam
unerwartet. "Ich habe also doch noch ein wenig Glück im Leben."
Nachdem
ihr Ei fertig ist, lässt Tamsin sich etwas Ausdrucken, dass sie
dann ausmalt. "Ich komme mir vor wie im Kindergarten.", denkt sie
dabei, denn Ausmalen bereitet ihr alles andere, als Freude. Aber was soll sie
sonst machen? Die Eier sind alle bemalt und auf Basteln und kleben hat sie noch
weniger Lust. "Vom langen Sitzen tut mir der Hintern weh."
Nachdem
auch dies Erledigt ist – sie bastelt aus dem ausgemalten Bild eine Karte, die
sie irgendwann, wenn es mal nötig ist, zu Ostern an irgendjemanden verschenken
wird. Ihre Eltern machen sich nicht so viel aus sowas, aus Ostern und
Geschenken an Ostern. "Das einzig Gute an Ostern sind die freien Tage, die
diesmal für mich auch nichts Besonderes sind, da ich an diesen Tagen sowieso
nicht in die Maßnahme bräuchte und deswegen nur die Therapiegespräche
ausfallen."
Äh,
ja... also, nachdem dies erledigt ist, darf Tamsin sich an den Computer setzen. Die neue Anleiterin ist nett
und nicht so stark von Bürokratie besessen, wie so manch anderer. Dennoch hat
auch sie nicht die Macht, Tamsin von der Kassentätigkeit zu
erlösen. Aber wenigstens ist die Maßnahme nun ein wenig erträglicher. Frau Ti
ist schon im Urlaub und heute waren sie insgesamt nur zu dritt und durften
einigermaßen früh gehen.
Tamsin versucht entspannt in den Urlaub
zu starten, wenn auch der Gedanke an die Kasse - ein Alptraum, der niemals
endet - ihr im Nacken sitzt und aus der Ruhe bringt. Noch hat sie die
Tabletten, die sie wegen dieses Probleme bekommen hat, nicht angerührt. Aber
noch hat es sie nicht so stark überwältigt, dass sie die Kontrolle über sich
und ihre Gedanken verliert und das gefühlt hat, taub wie ein Zombie die
altvertrauten Bewegungen auszuüben. Getränke einräumen. Geld einzahlen und dann
der Verkauf. Jeden Mittwoch. Zwei Stunden ungefähr - mit Pausen dazwischen.
"Warum nur nimmt es mich so sehr mit!?!?", fragt sie sich immer
wieder.
Das
geplante Treffen mit Dave bereitet ihr ebenfalls Unbehagen. Nicht wegen der
Angst vor Menschen und davor, kein Wort rauszukriegen. Sondern davor, dass er
wirklich nett und höflich ist und davor, dass er sie, nachdem er sie erstmal
richtig kennengelernt hat, doch noch abweist du sowas schreibt wie: "Du
bist zwar ganz nett, aber es passt einfach nicht." Oder noch schlimmer,
dass er sich einfach gar nichtmehr meldet. Tamsin ist sensibel und malt sich immer das Schlimmste aus.
"Ich rechne immer mit dem Schlimmsten." Denn sie sehnt sich danach,
einen Freund wie ihn zu haben... "Verdiene ich das überhaupt?"
"Man
muss sich selbst lieben, bevor man auch von anderen geliebt werden kann.",
so ein Spruch, den sie mal gehört hat und an den sie fest glaubt. Und Tamsin hasst sich. Ihr verdorbener Charakter, der sie zwingt,
bei jedem Patzer von anderen schamlos zu lachen und sich an dem Unglück anderer
zu ergötzen. Sie will nicht so sein, ist aber so – und das schon seit früher
Kindheit. "Oft habe ich gelacht, wenn andere Leiden und mich daran
erfreut, weil es mir zeigt, dass es jemanden noch schlechter geht als
mir."
So
auch heute kurz vor Feierabend. Während die anderen anfangen aufzuräumen,
bleibt Tamsin am PC sitzen und schreibt.
Niemand sagt etwas, und insgeheim freut sie sich darüber - obwohl sie gerne
aufstehen und sich bewegen würde - dass sie tun darf, was sie gerne tut und
nicht tun muss, was anstrengend ist und ihr keinen Spaß macht. "Ein wenig
mies fühle ich mich schon." Sie hätte den Staubsauger nehmen und einfach
anfangen können. "Aber das geflickte Rohr ist durchgebrochen und er saugt
so schlecht.", bemerkt sie demotiviert, als Kara, die sich kurz hingesetzt
hat, weil ihr der Rücken wehtat, langsam anfängt. "Bin ich ein schlechter
Mensch???"