Kindheit: Kindergarten:
Einige Erinnerungen an
den Kindergarten sind Tamsin bis heute noch erhalten geblieben. "Einmal
haben alle dort geschlafen. Uns wurde eine Geschichte vorgelesen, während wir
schon im Bett lagen und wir mussten dabei Tierlaute nachmachen. Ich hatte keine
Lust darauf und bin wohl als erste Eingeschlafen.
Das Rollerfahren mochte
ich auch nie. Einmal gab es so einen Wettspieltag, wo jedes Kind verschiedene
Aufgaben bewältigen musste. Auch war ein Rollerrennen dabei. Ich dachte, es
wäre Zwang da mitzumachen und bin mit dem Roller eine Runde gefahren. Später
gab es Geschenke - ich bekam meine erste Schultüte. Gehört habe ich gerne
Kassetten von Regina Regenbogen. Im Kindergarten war so eine Plattform (mit
Rutsche), auf der man drauf rumlaufen konnte. Ich habe dort gerne gespielt und
so getan, als wäre das Reginas bunter Welt.“
Eine andere
Kernerinnerung ist weniger Berauschend. Tamsin glaubt sich daran zu erinnern,
wie ein anderes Kind sie einmal in den Hals gekniffen und hinter sich
hergezogen hat. "Ich saß dann alleine am Tisch und habe geweint, bis Dad
kam und mich abgeholt hat." Tamsin glaubt, dass dies der Auslöser war, der
sie zu dem gemacht hat, was sie bis heute noch ist. Schüchtern. Ängstlich.
"Ich glaube, von da an habe ich die anderen Kinder nicht mehr so gesehen,
wie vorher."
Einmal kam der
Weihnachtsmann, der ihr einen Arztkoffer schenkte. Darüber hatte sie sich
gefreut.
Irgendwann, sie erinnert
sich nicht an den Grund, hat sie ein anderes Kind angespuckt. Fand das lustig.
Bis sie Ärger bekam und es wieder abwischen musste.
Tamsin hatte eine
Freundin: Caro. Mit der hat sie oft gespielt. Während die Gruppe einmal im
Kreis saß und etwas gemacht hat, hat sie sich zusammen mit Caro hinter einer
Raumtrennung versteckt und kichernd zugesehen.
Soweit sie sich erinnert,
war sie damals in der Apfel-Gruppe. Es gab aber auch noch die Panda Gruppe.
Dort war ein Junge (Pit sein Name), der sie oft geärgert und vor dem sie immer
Angst gehabt hatte.
Als Fasching war, hat
ihre Mom ihr einen blauen Umhang mit bunten Federn genäht.
Tamsins Kindheit war
weder super gut, noch besonders schlecht.
Während sie anfangs viele
angenehme Zeiten bei ihrer Oma verbracht hat - singen, im Garten Raupen vom
Grünkohl sammeln und Schallplatten hören - hat sie die Vorschule jedoch verabscheut. Tamsin war ein Außenseiter. Sie stand
immer im Abseits. Alleine. Hat sich nie getraut, mal zu den anderen Kindern zu
gehen, mit denen zu spielen. Die Betreuer haben nur an ihrem Tisch gesessen und
sie ignoriert. „Ich stand einfach nur da, in der Mitte des großen Raumes und
tat nichts. Habe den anderen Kindern beim Spielen zugesehen. Wenn mal jemand an
mir vorbei wollte, habe ich mir hin und wieder den Spaß erlaubt, den Kindern
mit ausgebreiteten Armen den Weg zu versperren. Dann bekam ich Aufmerksamkeit. Bis
diese sich beschwert haben und ich damit aufhören musste.“
Hin und wieder bat Tamsin,
etwas malen zu dürfen und bekam daraufhin Papier und Stifte. Oft hat sie Nasen
gemalt. Und Käse, nach dem Lied „Polognese Blankenese.“ Das fand sie damals
echt toll!
Tamsin weiß noch, wie sie
ihren Dad einmal gebeten hat, mit ihr in das große Spielhaus zu gehen, weil sie
es unbedingt einmal von Innen sehen wollte, sich alleine aber nie reingetraut
hatte. Auch in der Kissenecke, wo aus großen Kissen immer Höhlen gebaut wurden,
war sie nur ein einziges Mal.
„Ich habe diese Vorschule
beim Kinderschutzbund gehasst! Sehr.
Nie wollte ich dahin. Einmal, gerade, als Dad mich hingebracht hat und wieder
nach Hause fahren wollte, habe ich gesagt, ich müsste auf Klo und wollte dort
nicht gehen, sodass er mich wieder mit nach Hause genommen hat, damit ich dort
gehen konnte. Ich war erleichtert und froh - und habe geweint, als er mich
danach genommen und doch wieder zurückgebracht hat.“
Im wöchentlichen
Musikunterricht haben die anderen Kinder sich oft beschwert, weil Tamsin
unabsichtlich komische Geräusche mit der Nase gemacht hat. Manchmal hatte sie
Kindern, die sich neben ihr hinsetzen wollten, einfach den Stuhl weggezogen,
weil sie es lustig fand, wenn die sich dann danebensetzen.
Der schönste Moment dort
war, als Tamsin sich ein Xylophon ausleihen durfte, um zuhause zu üben, weil
sie das mit den Noten nie kapiert hat. Später durfte sie vorspielen, was sie
gelernt hat.
Irgendwann nach dieser
Vorschule war Tamsin jeden Freitag für
1-2 Stunden im CVJM, dem Christlichen Verein junger Menschen. Auch dort wurde
gebastelt und gesungen. Auch dort war Tamsin nicht gerne. An vieles kann sie
sich heute kaum noch erinnern. Dort gab es einen großen Garten. Eine Terrasse.
Einmal war Tamsin mit
ihren Eltern am Wochenende bei einer Veranstaltung für Kinder in einer Schule.
„Beim Betreten der Schule bekamen alle Kinder ihrem Alter entsprechend einen
Stempel auf die Hand. Wir gingen dann in eine Aula; ein Theaterraum.“ Die
Kinder saßen vorne in mehreren Reihen auf dem Boden, die Eltern weiter hinten
auf Stühlen. Irgendwann wurden die Kinder dann den Farben der Stempel nach
aufgeteilt dazu aufgerufen, die Betreuer in verschiedene Räume zu begleiten.
Tamsin machte auch mit. Sie hatte einen blauen Stempel auf der Hand, und als
alle Kinder mit blauen Stempel den beiden Erwachsenen folgen sollten, tat sie
dies ebenfalls. „Wir waren ca. 15 Kinder. Haben uns in einem Kreis auf dem
Boden gesetzt. Plötzlich klopfte es an der Tür. Der Mann öffnete, und dort
stand eine Flasche Wasser und ein Glas. „Ihr seid bestimmt durstig. Dann werden
wir jetzt einen Trinkkreis machen.“, erklärte er daraufhin und befüllte das
Glas, welches daraufhin im Kreis herumgereicht wurde.
Schon damals fand Tamsin
es ekelhaft, sich mit anderen Menschen dasselbe Glas zu teilen. Aber sie musste
mitmachen. Das dachte sie damals zumindest. Zaghaft führte sie das Glas an ihre
Lippen, bedacht, nichts von der Flüssigkeit in sich aufzunehmen und tat so, als
würde sie trinken. „Na, du bist aber nicht sehr durstig, was?“, meinte der Mann
daraufhin. Schweigend reichte sie das Glas weiter.
Bei der ganzen Veranstaltung
ging es anscheinend darum, den Eltern etwas vorzuführen. Schwach erinnert sich
Tamsin, wie sie daraufhin mit den anderen Kindern eine „Pyramiede“ üben sollte.
Zusammen mit einigen anderen musste sie auf dem Boden knien. Dann wurde eine
Reihe Kinder auf ihrem Rücken gesetzt, und darauf dann noch eine Reihe. Es war
anstrengend und das Gewicht hatte ihr in Händen und Knien wehgetan. In der
Hoffnung, dass es schnell vorbei sein würde, hielt sie durch.
Irgendwann, sie weiß
nicht mehr, ob auf der Bühne oder beim Üben, hatte sie der Last nachgegeben.
Ihr war egal, ob die Kinder über ihr runterfielen, oder ob es Ärger geben würde.
Tamsin brach zusammen, erleichtert, dass es spätestens dann zu Ende war.
***
Heute erinnert Tamsin
sich an viele Nachmittage in ihrer Kindheit, an denen sie auf der Fensterbank
saß. Stundenlang. Sie hatte ein Computerspiel in der Hand und die Vorhänge
zugezogen. So saß sie da. Alleine. Hat gespielt und ab und zu nach draußen
geschaut. Es war schön. Eine andere Beschäftigung hatte sie nicht.
Bereits als Kind hat
Tamsin gerne alles möglichen Dinge gesammelt. Und das gerne in vielfacher
Ausführung.
Angefangen hatte es mit
Tamagotchis. Zu erst besaß sie nur eines, welches sie (Die Eltern) einem Jungen
auf dem Flohmarkt abgekauft hatte. Dies war Gelb durchsichtig und damals ihr
ganzer Stolz! An einem Band trug sie es immer um den Hals. Oft hatte sie es
sich um den Finger gewickelt und das Tamagotchi daran geschleudert. Einmal so
heftig, dass ihr das Band vom Finger
rutschte und das Spielzeug im Treppenhaus gegen mehrere Wände knallte, ehe es
auf dem Boden aufschlug. Dann war es kaputt – und Tamsin bittertraurig.
Es dauerte eine Weile,
bis sie ein Neues bekam.
Einmal schenkte ihre Mom
ihr Rex, einen Hund. Der ging auch schnell kaputt, und auch der neue Rex gab
schnell den Geist auf. Ein Dino, den sie ebenfalls vom Flohmarkt hatte, war ihr
neuer Stolz. Eines Tages gab es bei Woolworth Tamagotchis für 1€. Davon kaufte
sie sich direkt 10 Stück.
Die meisten trug Tamsin
immer um den Hals; bei der hohen Anzahl ein großes Gewicht. Sie fand es lustig,
die Tierchen manuell altern zu lassen, indem sie die Uhr einmal einen ganzen
Tag vor stellte.
Dann folgten die Jojos. Das
erste hatte sie nach langem Betteln von ihrem Vater geschenkt bekommen. Damals
hatten die zwischen 10 und 20 D-Mark
gekostet. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich den sogenannten Leerlauf
hinbekommen hat, wo das Jojo sich unten dreht und erst nach einer Weile wieder
hochkommt. Darauf war sie sehr stolz. Dann lernte sie die Affenschaukel, und
bezeichnete sich als Jojo Profi, denn sie war in ihrem Umfeld die einzige, die
das konnte. Auch dieses Jojo ging irgendwann kaputt. Es verhedderte sich so
sehr, dass sich die Schnur nicht mehr entknoten ließ. Daraufhin wurde dann ein
Band aus Wolle daran befestigt, aber der Leerlauf funktionierte nicht mehr und
das war dann nicht mehr so toll. Sie war sehr traurig. Nach einer Weile bekam
sie auch wieder ein neues. Und dann noch eins. Und noch eins. Irgendwann hatte
sie ungefähr 20 Stück. In allen erdenklichen Farben und Größen. Einmal ging ein
Anderes erneut kaputt, so dass sie die Schnur gegen eine aus Wolle ausgetauscht
hatte. Von dem hatte sie auch noch die Originalverpackung. Sie hat es dann
wieder eingepackt und zu Müller gebracht, der es dann für 10 € verkauft hat.
Das Geld hat sie dann bekommen. Daraufhin hatte sie noch mehr Sachen von sich
zusammengesucht und wollte die dorthin bringen, damit er die verkauft, aber das
hatte der dann abgelehnt.
Direkt gegenüber des
Hochhauses, indem sie im Erdgeschoss gewohnt hat, gab es jenen kleinen Laden.
Müller hat ihr Vater immer dazu gesagt, weil der Besitzer so wie es. In
Wirklichkeit Standort A&O Markt.
Bei Müller war sie gerne.
Dort gab es alles, was man brauchte, aber am liebste hatte sie sich dort
Süßigkeiten gekauft. Die bunten Tüten wurden einzeln zusammengestellt. Ihre
Mutter fand es immer unappetitlich, wenn der Verkäufer an der Kasse die Stücke
einzeln abgezählt und dazu mit den Händen angefasst hatte. Tamsin war das egal.
Jeden Morgen hatte ihre Dad dort Zeitung und Brötchen geholt. Die Kieler
Brötchen mochte sie am liebsten. Manchmal hat er ihr auch Schokolade
mitgebracht. Immer, kurz nachdem er ihre Mutter zur Arbeit gebracht hat, ist er
dort hingefahren. Tamsin war in der Zeit alleine zu Haus. Sie war schon wach
und hatte sich oft ein bisschen gefürchtet. So ganz allein in der großen
Wohnung. Auch wenn überall Licht brannte.
Tamsins wichtigstes
Lieblingsspielzeug war „Klapperauge“. Ein gelber Lego Katzenkopf mit wackelnden
Augen, den sie überall mit hingenommen hatte. Erst mit 23 Jahren ungefähr hat sie
ihn wiederentdeckt. Ihr Vater wollte alle alten Sachen und auch die Legosteine
verkaufen. Heute ärgert sie sich, dass sie dieses eine Stück nicht für sich
behalten hat. Es war eine schöne Erinnerung.
Als sie (im Kindergartenalter)
einmal mit den Eltern zum Einkaufen mit war, hat sie ein Lego Flugzeug von
Famila bekommen. Es war gelb mit roten Flügeln, und da sie in ihrer Kindheit
Flugzeuge sehr gerne mochte, wollte sie es unbedingt haben. In der Badewanne
hat sie mit einem Wasserflugzeug gerne gespielt. Ihre Mutter wollte jenes Lego
Flugzeug aber nicht kaufen. Vielleicht war es teuer. Tamsin wollte jedoch ihren
Willen durchsetzen. Sie musste dieses Flugzeug unbedingt haben. Sie hat
geschrien und solange gebettelt, bis ihre Mutter es gekauft hat. Soweit sie
sich erinnert, hat sie es sogar immer wieder in den Wagen gepackt, wollte es
mitnehmen.
Auch Drachen schloss
Tamsin schon in jungen Jahren in ihr Herz. Sie flogen, und alles was fliegen
konnte, war toll. Zuerst hatte sie nur einen Kinderdrachen. Einen gelben mit
bunten Streifen. Irgendwann ging der kaputt und viele Jahre später hat sie sich
denselben noch mal gekauft. Einfach, weil die Erinnerung so schön war.
Ihre Eltern sind mit ihr
auch zum Drachenfliegen zu verschiedenen Wiesen oder Stränden gefahren.
Ungefähr mit 10 Jahren entschied sie sich für Lenkdrachen. Die waren noch
besser. Ihre Sammlung an Drachen wuchs immer weiter. Bis sie auch davon über 20
Stück hatte. Wenn ihre Eltern mit mir zum Drachenfest fuhren, wo sie das
einzige kleine Mädchen mit einem Lenkdrachen war, war sie glücklich. Auch, wenn
sie nur am Rand im Abseits damit stehen durfte, weil ihre Eltern Angst hatten,
dass der Drachen fremden Leuten auf den Kopf fällt.
Manchmal hätte sie vom
Drachendoktor, der einen Laden in der Stadt eröffnet hatte, Stoffreste bekommen
und sich daraus eigene Drachen gebastelt. Fliegen konnten die jedoch nie.
Vogelkäfige in neun
verschiedenen Größen und Formen und Farben breiten sich, als sie ungefähr zwölf
Jahre alt war, auf ihren Schränken aus. Manchmal stellte sie auch vier Stück
übereinander auf dem Fensterbrett ab. Dabei hatte sie nur zwei Vögel. Manchmal
hatte sie auch nur einen. im Grunde hatte sie aber ganz viele. Polly war ihr
erster blauer Wellensittich, der noch ganz jung war und nicht fliegen konnte,
als sie ihn bekommen hat. Später stellte sich heraus, dass er ein Tumor hatte
und eingeschläfert werden musste. Tamsin saß traurig und verzweifelt mit dem
Vogel auf dem Finger hinter der zugezogenen Gardine auf dem Fensterbrett und
hat geweint, kurz bevor es soweit war. Glücklich war sie, als sie einen neuen
bekam. Charlie hieß er und war auch ein wenig zahm. Auch dieser lebte nicht
lange, weil die Tiere vom Züchter irgendwie überzüchtet waren. Ungefähr 8 bis
10 Wellensittiche hatte sie im Laufe ihrer Kindheit. Keine lebten länger als
ungefähr zwei Jahre. Alle wurden sie krank und starben. Nur einer, Jacky, den
Sie von einer Vogelausstellung bekam, lebte sehr lange. Er war sogar auch ein
bisschen zahm, im Gegensatz zu den Letzten. Mit einem Kanarienvogel, den Tamsin
freifliegend vor dem Hochhaus in einem
Käfig eingefangen und behalten hatte, vertrug dieser sich gut, ehe der starb.
Später kam Jacky dann mit einem Nymphensittich zusammen. Allerdings hätte sie
sich den lieber nicht kaufen sollen. Er kam aus einer Voliere und war sehr wild
und bissig. Er hat nur geschrien und gefaucht. Die ganze Familie war froh, als
er wieder weg war. Er ist weggeflogen.
Ihre Eltern waren von den
Käfigen nicht so begeistert. Vom Sperrmüll und vom Flohmarkt hat sie die
überallher gesammelt. Einmal sollte sie selbst einen auf dem Flohmarkt
verkaufen. Das wollte sie nicht, weil sie den so schön fand. Daraufhin hat ihr
Vater ihn im Keller zu einem ganz kleinen Klumpen zusammengetreten, um den
endlich loszuwerden.
Tamsins
erster Fernseher
Irgendwann mit 12 Jahren
bekam sie einen eigenen Fernseher. Der war winzig, ohne Fernbedienung. Die
Bedingung ihrer Eltern damals war, dass Tamsin nicht zu lange davorsitzen
durfte, sonst würde ihr Dad den Antennenstecker ziehen! Tamsin hatte immer
Angst gehabt, dass er dies täte und wenig geschaut. Dafür hat sie viel Musik
gehört. Irgendwann hat Tamsin sich mal getraut, den TV nachmittags
einzuschalten – und es kam kein Bild. Ihr Dad musste das Radio für den TV
gehalten haben und hat den Stecker gezogen! Da hatte Tamsin ein schlechtes
Gewissen. Der dachte, sie würde den ganzen Tag fernsehen! Getraut, die Sache
aufzuklären hat sie sich nicht. Sie hat gewartet, bis der Stecker wieder drinne
war.
Sie glaubt, sich zu
erinnern, dass ihr Dad irgendwann mal vergessen hat, den wieder reinzustecken.
Erst, als die Mutter eines Abends mal mit ihr Fernsehen wollte, fiel das auf.
Irgendwie hat Tamsin eine
Angst entwickelt, dass sie immer nur ganz leise TV gesehen hat, auch das Radio
leise gestellt oder ausgeschaltet hat, wenn der Ansager etwas erzählt hat und
den TV sogar blitzschnell ausgeschaltet hat, wenn die Eltern sich ihrer Tür
näherten. Da das Gerät keine Fernbedienung besaß, hat sie mehrere Steckdosen
mit Schalter verbunden, und wenn sich die Zimmertür öffnete, hat sie sofort den
Schalter gedrückt. Ihr Mom hat das jedoch immer gemerkt und sich gewundert,
dass Tamsin den Fernseher immer ausschaltet.
Nachmittags liefen
täglich Animeserien auf RTL2. Zuerst hat Tamsin die auf MC Kassetten
aufgenommen die immer im Auto unterwegs gehört hat. Ganz leise waren die
Aufnahmen. Das Rauschen war grässlich. Oft hatte sie auch Musik aufgenommen;
Russendisko, die sie im Auto hören wollte, was ihr Dad immer nervig fand.
Auf dem Flohmarkt hatte
sie ein SNES gefunden, welches zunächst nur im Wohnzimmer bleiben musste. Später
durfte sie dann ihr SNES in ihrem Zimmer anschließen und spielen. Das konnten
die Eltern nicht kontrollieren oder ausschalten.
Irgendwann hat sie für
einen VHS Recorder gespart und angefangen, gute Filme auf Video aufzunehmen. Da
hatte sie immer Angst, dass die Eltern das leise Summen der Aufnahme hören
würden. Eines Nachmittags hatte Tamsin eine Serie aufgenommen und dabei ganz
Laut Musik eingeschaltet, weil ihr Dad nicht wissen sollte, dass sie etwas
aufnimmt, oder denkt, sie würde Fernsehen und den Stecker zieht.
Insgesamt 3 Fernseher
hatte Tamsin. Allesamt winzig klein. Der erste ging schnell kaputt. Der zweite,
ein kleiner roter Kasten, hielt auch nicht lange. Der dritte war mit Videotext!
Wow! Oder eher… Mist! Dort gab es einen SMS Chat auf der Seite 286. Einen
großen Teil (ca. 300€) hat Tamsin damals für Telefonkarten ausgegeben. Ihre
Eltern dachten schon, sie würde 0190-Nummern anrufen. Dabei hat sie dort nur
mit den Leuten geschrieben und eine Frau namens CAT gerne geärgert, indem sie
deren Namen kopiert hat. Heute ärgert sie sich darüber, so viel Geld für so
einen Mist ausgegeben zu haben. Seither gibt sie kein Geld mehr für virtuelle
Güter aus. Es lohnt sich nicht!
Kurz hatte sie eine alte
schwarz-weiß-Kiste von der Oma in ihrem Zimmer. Die stand am Fußende des
Bettes. Tamsin war fasziniert von der Größe, nur leider war der Lautsprecher
defekt, sodass der Ton unwillkürlich ganz laut wurde. Ein Schlag gegen die
Seite hat geholfen.
Nach dem Umzug 2005 bekam
sie den alten TV ihrer Eltern, weil die von da an den der Oma mitbenutzt
hatten. Das ca. 70cm große Röhrengerät war für Tamsin damals riesig! Leider hat
der linke Lautsprecher geknistert. Für 250€ hat sie sich dann von STOLZ einen
Neuen gekauft. Zu der Zeit kamen gerade die ersten Flachbildschirme auf den
Markt. Aber die waren unbezahlbar! Naja, der Ton von dem schweren Ding war
zumindest super!
Doch auch der reichte ihr
irgendwann nichtmehr. Bei einem Baumarkt gab es einen für 999€. Den wollte
Tamsin haben! Geld gespart hatte sie. Doch ihre Eltern waren dagegen. Das war
viel zu teuer! Tamsin war damals echt sauer. Einmal gab es eine Aktion: 20% auf
alles! Tamsin rechnete, dass der TV dann nur noch 800€ kosten würde, nahm ihr
Geld und fuhr mit der Mutter dahin. Empört war Tamsin dann, als das Gerät
plötzlich 1200€ kostete! Die hatten einfach den Preis angehoben, damit dieser
sich auch durch die Aktion nicht änderte.
Erst gegen 2009 konnte
Tamsin sich einen HD Fernseher leisten. Sie war echt froh, das Gerät vom
Baumarkt nicht gekauft zu haben, denn das hatte keine echte HD Auflösung.
Irgendwann hat Tamsin
ihren PC daran angeschlossen und 3D Filme in Rot/Blau geschaut. Das war cool!
Monate später, ca. 2011, gönnte sie sich einen 3D Fernseher. Ein Traum wurde
wahr! Während 3D Geräte einige Jahre später wieder vom Markt verbannt wurden,
weil andere Menschen davon Kopfweh bekommen oder die Brille nicht mögen, liebt
Tamsin ihren Fernseher heute noch, im Jahre 2018!
Schulzeit &
Mobbing:
Seit der Grundschule
hat Tamsin einige Erfahrung mit Mobbing. Leicht hatte sie es nie. Sie war ruhig
„stumm“ und hatte sich nie gegen verbale Pein gewehrt, was andere dazu
verleitete, dies schamlos auszunutzen.
Irgendwann, in der 2.
oder 3. Klasse hieß es auf einmal: „Die Jungs wollen Tamsin verkloppen!“ Ob das
wahr war, fand Tamsin selbst nie heraus. „Alles, was ich noch darüber weiß,
ist, dass die Mädchen mich zu einem kleinen Busch hinter der Turnhalle gebracht
haben, in dem ich mich dann mit klopfendem Herzen versteckt habe. Eine von
ihnen blieb immer bei mir, während die übrigen vor der Halle Wachehielten. Ich
habe mich dann mit derjenigen unterhalten. Das war eigentlich ganz nett.“ Dies
ging über mehrere Wochen so. „Vielleicht wollten sie mich wirklich beschützen.
Vielleicht war es auch nur ein Spiel, dass sie sich ausgedacht hatten. Egal.
Immerhin waren sie nett und ich genoss die Zeit, mit jemandem zusammen allein
in diesem Busch zu hocken und flüsternd zu plaudern. Das war besser, als immer
alleine auf derselben Stelle auf dem Schulhof zu stehen, Möwen zu beobachten
und zu warten, dass die Pause endlich vorüber war.“
Danach erfand neben
Rot- und Hochticker jemand das Spiel „Mein
Schild.“ Jemand klaute Tamsin das Namensschild aus ihrem Schulranzen.
Tamsin wollte es sich wiederholen und rief „Mein Schild!“ Schnell entwickelte
sich ein Spiel daraus, in dem alle immer um eine längliche Hecke auf dem Hof
liefen und Tamsin hinter derjenigen herlief, die ihr Schild in Händen hielt.
Anfangs war es spaßig. Die Rolle des Fängers war immer unbeliebt, aber Tamsin
hat gern mitgespielt, um nicht alleine sein zu müssen.
Aber nach einigen
Wochen wurde denen auch dies zu langweilig. „Einmal haben sie sich versteckt.
Ich wusste es, bin aber trotzdem weiter um die Hecke herumgelaufen, einfach,
weil ich mich nicht wieder alleine in meine Ecke zurückgehen wollte.“
Richtige Feinde hatte
sie damals noch nicht. Bis auf einen Jungen, Andreas M., sder sie beim Spielen
einmal umgerannt hatte, sodass sie hinfiel und an den Armen blutete. Im Winter
wollte er sie mit einem Schneeball abwerfen. „Ich stand da wie üblich alleine
an der Wand und habe zugesehen, wie er eine Ladung Steine hineingeknetet
hatte.“ Tamsin bekam Angst und ist dann vor der Mauer auf- und abgegangen. Der
Bengel folgte ihr. Wie ein Scharfschütze ging er in die Hocke, wartete geduldig, zielte. Offenbar wollte er beim
ersten Mal treffen. Als es dann klingelte lief Tamsin zur Tür und erschrak, als
die Steinkugel knapp über ihrem Kopf zerschellte.
Bereits in den ersten Schuljahren
hat Tamsin kaum bis gar nicht gesprochen. Weder mit Lehrern, noch mit anderen
Kindern. Die haben daher auch nicht mit ihr gesprochen. Das gefiel Tamsin
nicht. Sie wollte Aufmerksamkeit. Daher beschloss sie irgendwann, ihre Stifte
durch die Klasse zu werfen. Anfangs haben die anderen Kinder gelacht und die zu
ihr zurückgeworfen. Das fand Tamsin lustig. Bis die Kinder anfingen, die Stifte
zu behalten, bis Tamsin keine mehr hatte, die sie werfen konnte.
Da sie
sich nicht zu sprechen getraut hat, bestanden ihre Antworten auf Fragen der
Lehrer aus Grimmassen. So steht es in ihren Zeugnissen. Damals saß sie noch
neben Nathalie, die nett zu ihr war. Mit der konnte Tamsin sprechen. Bis Tamsin
im 3. Schuljahr das Klassenzimmer gewechselt wurde. Es ging in den alten Teil
der Schule. Links war die Fensterseite, da saßen die Mädchen. Rechts im
Schatten die Jungs. Tamsin war in der Klasse nicht sehr beliebt. Da war ein
Mädchen namens Frauke. “Frauke die Pauke”, hat Tamsin sie immer geärgert. Eins
der wenigen Dinge, die sie gesprochen hat. Sie fand das lustig. Die anderen
hingegen mochten das nicht. Aber Tamsin wollte nicht aufhören.
So kam
es, dass sie einen Einzeltisch an der anderen Wand hinter den Mülleimern bekam.
Wollte niemand neben
ihr sitzen, oder war es, weil die strenge, eitle Lehrerin ihr eins auswischen
wollte? Tamsin war darüber nicht froh, aber sie weiß noch, dass sie es immer
gut fand, zum Entsorgen ihrer Taschentücher nicht aufstehen zu müssen. Allerdings hätte sie gerne bei den anderen Mädchen gesessen
und nicht ganz alleine in der “Abgeschiedenheit”. Die Jungs waren gemein zu
ihr. Vom Unterricht bekam Tamsin dort nicht viel mit. Wurde auch selten
beachtet.
Einmal im
Jahr fand Kindervogelschießen statt. Tamsin hat sich immer sehr bemüht. Einmal,
es war in der 4. Klasse, wo alle ihre Fahrräder
bunt Dekoriert hatten, um dann hinter der Kutsche herzufahren, wurde
Tamsin Erste ihrer Klasse! Grund dafür war, dass sie den Ball 2x von 3x in das
Loch in einer Torwand getroffen hatte. Das war richtig einfach, und dafür gab
es am meisten Punkte! Die anderen Spiele, wie Ringe werfen oder Vogelpicken
waren eher schwierig.
Tamsin
war stolz, zu den wenigen zu gehören, die dann in der Kutsche mitfahren und
sich als erste ein Geschenk aussuchen durfte. Sehr zum Ärger von Caro, die eher
wenig Punkte hatte und viel später dran war. Denn dort gab es ein Paket mit
einem blauen Regenschirm, den sie ebenfalls haben wollte, wie Tamsin damals gut
wusste. Dennoch hat sie sich nach längerem Überlegen dieses Geschenk geschnappt.
Im Laufe der
Veranstaltung wurden im großen Tanzsaal weitere Spiele gespielt. Auf der Bühne
lief Musik. Eines der Spiele bestand daraus, dass jeder sich einen Luftballon
um den Köchel binden musste. Dann haben die Kinder sich diese gegenseitig
zertreten. Wer am Ende den letzten Ballon hatte, hat gewonnen.
Dort hatte Tamsin nie
Glück.
Wenig erfreulich
waren die Reihentänze. Diese wurden in den Sportstunden fleißig geübt. Jeder
bekam einen festen Tanzpartner. Alle haben sich zu zweit hintereinander
aufgestellt und dann wurden vorgegebenen Richtungen entlang geschritten. Die
Regel war, dass jedes Mädchen mit einem Jungen an der Hand gehen musste.
Niemand mochte Tamsin. Und so wurde ihr der unbeliebte Anderes M., der sie
gerne geärgert hat, zugewiesen. Tamsin glaubt, dass er ihre Hand immer
besonders fest zugedrückt hat, um sie unauffällig zu quälen.
Während einer
Faschingsfeier hat Tamsin sich einmal als Drachen verkleidet. Aus leuchtend
orangefarbener Pappe hatte sie einen Drachen ausgeschnitten und sich umgehängt.
Tamsins
erste Lehrerin, über die sich alle Eltern immer beschwert hatten, weil die nie
richtig durchgreifen konnte, ging beim Klassenraumwechsel von der Schule. Die
neue Lehrerin, Frau W., war streng. Hat Tamsin noch weniger verstanden. Tamsin
bekam Förderunterricht von Sonderschul-Lehrern. Sie war immer traurig, dass sie
in den Haupt-Stunden die Klasse wechseln musste und nicht das machen durfte,
was die anderen machen.
Wenigstens
war es dort nett. Sie war mit einem anderen Jungen aus der Nebenklasse dort.
Oft hatte er sie sogar abgeholt, weil Tamsin sich nicht alleine durch das
Schulgebäude zu gehen getraut hat. Die Lehrerin dort war nett! Frau G. hatte
ihr sogar mal einen Brief aus dem Urlaub geschrieben.
Tamsin
glaubt heute, dass es Frau W. damals gar nicht aufgefallen war, dass Tamsin in
gewissen Stunden wo anders war. Es gab nämlich einen Tag, da hat Tamsin vor der
Tür zum Förderraum im Flur auf den Sonderschul-Lehrer gewartet. Nach der Pause.
Plötzlich kam Frau W. “Tamsin, was machst du hier? Geh in die Klasse!”, hatte
sie geschimpft.
Tamsin
war verwirrt. Sie hatte doch hier den Deutsch Unterricht! Ihr Ranzen war in
diesem Raum. Der Herr U. würde gleich kommen.
Einige
Minuten später kam Frau W. zurück, war auf dem Weg in die Klasse. Tamsin stand
immer noch alleine vor der Tür. Was genau passiert war, weiß Tamsin heute nicht
mehr. Sie weiß nur, dass sie sich damals sehr unwohl gefühlt hat, als die Frau
sie abermals streng angesehen und befohlen hat: “Du stehst ja immer noch hier. Geh
endlich in die Klasse!”
In einer
großen Pause hat Tamsin sich so sehr gewünscht, dass es Klingelte, dass sie
sich einbildete, die schrille Glocke zu hören. Erleichtert ging Tamsin die
Treppe hinauf. Sie wunderte sich, warum sie die einzige war. Alle anderen
spielten noch draußen. Aber es hat doch geklingelt! Verwundert betrat sie das
Klassenzimmer. Zwei Mädels waren dort. Sie hatten Tafeldienst. “Was willst
du?”, hatte eine von denen gefragt? “Es ist noch Pause, geh wieder raus,
Tamsin!”
Doch
Tamsin war sich sicher, dass die Pause zu Ende war. Also nahm sie auf ihrem
Stuhl Platz. Niemand kam. Die Mädels ärgerten sich und drohten, es der Lehrerin
zu petzen, dass Tamsin in der Pause einfach drinnen geblieben war.
Ärger gab
es später nicht. Hm.
So etwas wie eine
gute Freundin hatte Tamsin… naja… nur in früher Grundschulzeit.
Da war Natalie, die
jeden Tag nach der Schule mit zu ihr nachhause kam. „Wir haben beinahe täglich
Mirakoli gegessen, die Dad gekocht hat, und dabei das Video von der Addams
Family geschaut. Wir haben Papierflieger gebastelt und die nach den Charakteren
des Films benannt. Und mit Luftballons und Karten gespielt. Haben Höhlen aus
Decken gebaut und viel Spaß gehabt – bis Tamsin sitzen geblieben ist und
Natalie den Kontakt abgebrochen hat. „Wahrscheinlich haben die anderen Kinder
gesagt: Wir sind jetzt Viertklässler. Wir spielen nicht mir Drittklässlern!“
Vielleicht lag es
aber auch daran, dass Tamsin sie eines Tages zusammen mit ihrer neuen
„Freundin“ Caro im Fahrstuhl eingesperrt hatte. Sie hat geweint und als Strafe
hat ihrer Schwester Tamsins Drachen durchgebrochen.
Tamsin blieb sitzen,
musste die 3. Klasse wiederholen, und die neue Klasse war weniger brutal. Glück
im Unglück?
Tamsin kannte Caro
noch aus dem Kindergarten, weshalb sie schnell zusammenfanden. So eine richtig
schöne Freundschaft wie mit Natalie wurde es jedoch nicht. Naja, vielleicht war
es das am Anfang. Denn da war noch Tanja, die Tamsin nicht leiden konnte, weil
Tamsin schüchtern war, und das verstand Tanja nicht. Die hat ihre eigenen Popel
gegessen und Tamsin gerne geärgert. „Caro kam oft zu mir und wir haben SNES
gespielt.“
Allerdings musste
Tamsin jeden zweiten Tag auch zu ihr rüber. Dort hatte Caro das Sagen, was
gespielt wird. „Sie hat immer gerne Arzt gespielt!“ Tamsin mochte keine
Barbies, doch die Tage, an denen Caro mit diesen Puppen spielen wollte, war für
sie ein wahrer Segen! „Ich habe Arzt spielen so sehr gehasst, wie sie es
geliebt hat! Damals waren wir, ich glaube erst zwölf Jahre alt. Ihre Eltern
waren beide Nachmittags arbeiten.“ Tamsin bekam immer richtig Angst, wenn die
irgendwann am frühen Nachmittag die Wohnung verlassen hatten und Tamsin mit
Caro ganz alleine war.
„Beim „Arzt“ Spielen
haben wir uns immer gegenseitig untersucht. Ich weiß noch, wie ich auf dem Bett
lag und mir die Kleidung ausziehen sollte. Auch die Unterhose. Die „Behandlung“
bestand daraus, dass sie mir Wäscheklammern in die Haut gezwickt hat. In Bauch,
Brust, Beine, Arme. Ich habe es über mich ergehen lassen, weil ich Angst vor
ihr hatte und Caro immer komisch wurde, wenn ich bei ihr nicht spielen wollte,
was sie vorschlug – im Gegensatz zu bei mir, wo sie stets zurückhaltend war.
Einmal hat es so
wehgetan, dass ich geweint habe. Es war so unangenehm und schmerzhaft, das mir
Tränen kamen. Caro war plötzlich ganz nett und hat aufgehört. Von da an habe
ich öfter, wenn sie Arzt spielten und es mir zu unangenehm wurde, geweint. Doch
daran gewöhnte sie sich schnell und die Tränen wurden irgendwann nutzlos,
sodass ihr Mitgefühl dahin schwand.“
Tamsin weiß noch, wie
sie einmal mit heruntergelassener Hose auf dem Bett lag und plötzlich Caros Mom
hereinkam! „Was hat das zu bedeuten!“, empörte diese sich.
„Wir sind dann
schnell rausgegangen und Caro hat sich anscheinend sehr geschämt. Ich hingegen
war erleichtert. Ich glaube, von dem Tag an hat sie sich mit dem „Arzt“-spielen
ein wenig mehr zurückgehalten.“
„Die Tage, an denen
wir Mario auf dem SNES gespielt haben – bei ihr oder bei mir-, waren stets fröhliche
Tage!“
Tamsin war damals nicht
sehr Umgänglich. „Da war Nadja, das Mädchen aus der Nachbarschaft und Tochter
des Pizzabäckers. Sie war dick und hatte auch keine Freunde. Sie war ganz nett,
netter als die anderen – und Caro! Sie wollte Zeit mit mir verbringen, spielen.
Ich hingegen habe ihr immer die Zunge rausgestreckt. Nur einmal war ich bei ihr
und wir haben ein Gläserspiel gespielt. War eigentlich ganz nett. Als sie ein
anderes Mal sagte, ich könnte sie besuchen, habe ich nur bei ihr geklingelt und
bin mit dem Fahrrad schnell weggefahren. Dabei habe ich mich darüber
schlappgelacht, wie sie an der Tür auf mich wartet.“
Ein paarmal kam sie zu
Tamsin zu besuch, aber sie musste immer auf ihre kleinen Brüder aufpassen, die
mitkamen und alles kaputtgemacht haben. Das war letztlich so nervig, dass
Tamsin das Mädchen schließlich auch nicht mehr bei sich haben wollte.
Der Ferienpass.
Jedes Jahr in den
Sommerferien musste Tamsin zusammen mit Caro einen Ferienpass mitmachen. Caro
fand das gut. Zusammen haben sie sich ausgesucht, welche Kurse sie mitmachen
wollen. Töpfern, Basteln, Radtouren und Zeltlager.
Tamsin dagegen war
immer wütend, dass sie das mitmachen musste. Lieber wäre sie jeden Tag zuhause
geblieben. „Einmal haben wir eine Radtour zu Ecki, dem Anleiter, gemacht.“ Dort
wurde gegrillt und Trommeln gebastelt.
Das Zeltlager war in
Lenste am Strand und dauerte 5 Tage lang. Ungefähr 8-10 Leute schliefen in
einem Zelt. Anfangs konnte sich keiner entscheiden, wer wo schlafen wollte und
so wurden die Betten einmal rundherum getauscht. Tamsin war froh, nicht in
einem Holzbrett schlafen zu müssen. Schließlich fand sie ihren Platz direkt
neben dem Eingang. Caros Bett war neben ihr, sodass sie von den anderen fremden
Kindern ein wenig abgegrenzt war.
Die anderen erzählten
Schauergeschichten über das Essen. Über ekelige Wurst. Aber auch sonst hätte
Tamsin dort wohl nichts gegessen. Mit Caro hatte sie im Kiosk einmal Jogurt
Schokolade gekauft. Anschließend wollten sie noch eine Schokolade essen. Tamsin
wollte aber lieber Marzipan anstatt Joghurt, und Caro war beleidigt, als Tamsin
nicht nochmal die andere gekauft hatte.
Toll war die dortige
Disko. Als dort das Lied „Spirit of the Hawk“, welches damals sehr beliebt war,
gespielt wurde, war Tamsin richtig glücklich.
An einem Tag sollte
ein Ausflug in eine Schwimmhallte stattfinden. Caro hatte ihre Eintrittskarte
verbummelt und wollte daraufhin die von Tamsin haben. Die hatte sie sich dann
auch einfach genommen. Tamsin konnte sich nicht durchsetzen. Verzweifelt ging
sie dann zu Ecki, der gerade mit anderen beim Kartenspielen vor dem Zelt war.
Es dauerte eine Weile, bis er sie endlich angesehen hatte und sie den Mut fand,
ihn anzusprechen um die Sache zu erklären. Daraufhin wurde alles schnell
aufgeklärt.
Eine schöne
Erinnerung hat Tamsin an einen nächtlichen Strandspaziergang. Am Lagerfeuer
sitzen und Geschichten erzählen.
In der Freizeit hat
sie mit Caro gerne Hochticker gespielt. Tamsin war es wichtig dass Caro Spaß
daran hatte, und so hat sie oft freiwillig die unbeliebte Rolle des „Fängers“
übernommen.
Am letzten Tag dort
bekam Tamsin ihre Periode zum ersten Mal. „Ich habe Bauchweh. Was ist bloß
los!?“, fragte sie sich, als sie während des Spieles immer wieder auf Klo
gegangen ist, irritiert darüber, dass sie nicht konnte und die Bauchschmerzen
nicht weggingen.
Dennoch hatte sie den
Rückweg mit dem Fahrrad gemeistert und war sehr erleichtert, als sie endlich
wieder Zuhause war.
Während der
Grundschulzeit war Tamsin im Sportverein. Einmal in der Woche ging sie zum
Turnen und zum Schwimmen. Anfangs war das schwimmen nicht übel. Sie ist froh,
es gelernt zu haben. Irgendwann kam sie in eine Gruppe mit Caro. Dazu kam ein
Problem mit den Ohren. Das Wasser lief nichtmehr raus. Ständig musste sie zum
HNO, um die Ohren freimachen zu lassen. Das war so nervig, dass Tamsin
nichtmehr zum schwimmen wollte. Anfangs hat die Mutter sie gedrängt, es weiter
zu versuchen. Tamsin hat geweint. Letztlich durfte sie dann mit Schwimmen
aufhören.
Das Turnen am
Dienstag war für sie auch nicht so berauschend. Mit Caro ist sie immer
hingegangen, denn der hat es gefallen. „Einmal habe ich das Rad von meinem
Roller abgeschraubt, weil ich nicht mit dem Roller mit ihr hinfahren wollte.
Caro sagte dann, sie fährt dennoch mit dem Roller. Alleine hinterherlaufen
wollte ich nicht, also habe ich das Rad wieder angeschraubt.“ Oft hat Tamsin
sich gegen derartiges gewährt, indem sie sich weigerte, die Jeans anzuziehen,
ohne die sie das Haus nicht verlassen durfte. Dad wurde wütend. Und Tamsin
musste sich fügen.
Die erste
Klassenfahrt ging nach Büsum.
Zusammen mit Caro und
Tanja, welche Tamsin nicht ausstehen konnte, weil sie nicht verstand, dass
Tamsin immer so ruhig war, teilten sie sich ein Zimmer. Über den Deich und
durch das Wattenmeer zu gehen war interessant.
Traurig war Tamsin
jedoch, weil sie im Hochbett nicht oben schlafen durfte. Einmal wollte Caro sie
lassen, doch dann wurde am Abend doch wieder getauscht, weil die wohl Angst vor
dem Bett über sich hatte. Tamsin musste abends immer das Licht ausmachen, weil
sie von unten den kürzeren Weg hatte. Einmal hatte sie sich geweigert, weil sie
das ungerecht fand. Tanja hat geschimpft. Tamsin bekam Angst und gab
schließlich mürrisch nach.
Hinter der Herberge
gab es einen großen Spielplatz. An dem Tag, wo alle dort gespielt haben fühlte
Tamsin sich glücklich und nahezu frei von allen Ängsten.
Auf einem
Stadtspaziergang hat Tamsin sich mit Caro Kolben Hirse gekauft. „Wir haben die
Aufmerksamkeit genossen, als wir das Vogelfutter vor den Augen der anderen dann
gegessen und so getan haben, als wäre sowas ganz normal. Wir standen dann im
Mittelpunkt!“
Als sie mit einem
Krabbenkutter gefahren sind, wurden Krabben zum „pulen“ und essen verteilt.
Tamsin wollte die nicht essen, aber Caro meinte, jeder muss das essen.
Daraufhin war die beleidigt, als Tamsin die Krabbe einfach über Bord warf und
ungestraft damit davonkam.
Schöner war der
Ausflug zur Hallig Hooge. „Wir wäre in einem Sturmflut Kino.“ Das Wetter war
schön sommerlich.
Am Ende mussten alle
die Zimmer aufräumen. Als Belohnung dafür gab es ein kleines Geschenk mit Seife
und Krimskrams.
Nach dem Wechsel auf
die Hauptschule besserte sich ihr Leben kaum. „Ich weiß noch, wie ich alleine
schräg neben einer Reihe Mädchen saß. Ich und Caro trugen damals blaue
Plastikröcke von Kik. Eine von ihnen hatte mich auf dem Flohmarkt gesehen – sie
hatte dort verkauft. Seither trugen wir die Spitznamen Mülltonne und Flohmarkt. Während des Unterrichts haben mir die
Weiber ihren Müll über den Tisch zugeschoben. Safttüten. Tempos. Ich war ja
ihre Mülltonne.“ Den Tränen nahe, hat
Tamsin sich irgendwann gewehrt und ihnen ihren Müll einfach zurückgeschleudert.
Die Lehrerin Frau A. wurde aufmerksam. Eine von denen meinte dann, dass Tamsin
einfach ihren Müll zu ihnen
überwirft. Grundlos. Ermahnt wurden dann alle. Auch Tamsin.
Bis zum 8. Schuljahr war
Caro in Tamsins Klasse. Dann blieb die sitzen. Tamsin war froh, dass sie nach
der Grundschule zu ihr in die Klasse gekommen war, weil eine Lehrerin angeblich
dafür gesorgt hatte. So war Tamsin nicht ganz alleine. Jedoch war es oft so,
dass Caro sie nichtmehr angekuckt hatte, sobald jemand anderes als Tamsin ihr
Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Bot zB. jemand Caro Eintritt in die
Arbeitsgruppe an, war Tamsin für sie wie Luft. Wurde Caro von anderen wenig
beachtet, war Tamsin wieder gut genug. Einmal hat Caro sich mit Janine, die von
allen immer „Pferdefresse“ genannt wurde, gegen Tamsin verbündet. Niemand
mochte Janine. Die hat oft die Arbeit verweigert, geschimpft und den Unterricht
gestört. Einmal hat die Lehrerin eine ganze Stunde gewartet, bis Janine ihr
Heft aufschlägt. Die Klasse musste auch warten. Viele waren deswegen
unzufrieden.
Naja, da gab es diese
eine Stunde, an die Tamsin sich noch gut erinnert. In der Klasse saßen alle an
Gruppentischen. Tamsin saß Caro und Janine gegenüber. Während des Unterrichts
haben die beiden dann angefangen, Tamsin auszulachen und zu beleidigen. „Die
weint gleich.“, hatte Janine sich gefreut. Caro, begeistert über die
Aufmerksamkeit von der anderen, hat heiter mitgemacht. Natürlich so leise, dass
die Lehrerin nichts mitbekam, was Tamsin sich damals sehr gewünscht hätte. Die
verbale Qual dauerte an, bis Tamsin mit nassen Augen in die Pause laufen
konnte.
Janine war zusammen
mit Tamsin und 2 anderen in einer Fördergruppe, die in den Hauptfächern anders
unterrichtet wurden. Eigentlich war Janine nett. Sie redete mit Tamsin und
behandelte sie normal; nicht so abweisend wie die meisten. Jedoch war sie auch
sehr kindisch. Sie klaute gerne Sache. Waren sie alleine in der Fördergruppe,
wollte sie Tamsin immer die Stifte klauen. Sogar vor deren Augen. Tamsin hat
das geärgert.
Einmal war Tamsin mit
ihr alleine in der Klasse. Der Förderschullehrer sollte kommen, kam jedoch
nicht. Janine wollte den PC einschalten, der dort stand, wusste aber nicht, wie
das geht. Tamsin hat geschwiegen. Irgendwann wurde ihr langweilig und sie hat
Tamsin mit Wasser nassgespritzt. Das hat Tamsin geärgert und sie ist nach Hause
gegangen. Es war eh die letzte Stunde gewesen, und Ärger gab es am nächsten Tag
auch keinen.
An einigen Tagen war
Janine beinahe so etwas wie eine Freundin für Tamsin. Mit der konnte sie
angstfrei sprechen. Während des Förderunterrichts hat Tamsin sie einmal in das
Doppelfenster eingesperrt. Der Lehrer konnte sich nicht gut durchsetzen.
Einmal gab es ein
Treffen bei Caro, die nicht glücklich war, dass Janine und Tamsin nur albernen
Quatsch gemacht hatten.
Während der 7. Klasse
wurde das Projekt Schülerzeitung gestartet. Dazu ist Tamsin in einer kleinen
Gruppe durch die Stadt gegangen, um Spenden zu sammeln. Jeder Spender sollte
dafür ein gratis Exemplar erhalten. Von einem Teeladen erhielten sie sogar 20€.
Anschließend mit der
Gruppe zusammenzusitzen und über die Artikel nachzugrübeln hat Spaß gemacht. Tamsin
hat Witze von Otto vorgeschlagen, war jedoch die einzige, die das lustig fand.
Das Projekt wurde
jedoch nie beendet.
Das Geld wurde in
einem Umschlag im Tresor im Lehrerzimmer gelagert. Eines Tages kam Sina in die
Klasse und rief erschrocken: Das Geld ist weg!
Alle haben
aufgebracht danach gesucht. Es gab einige Verdächtigungen. Doch gefunden wurde
das Geld nie.
In der 6. Klasse fand
eine Klassenfahrt in den Wildpark Eekhold statt. Die ganze Klasse schlief in
einem Nurdachhaus; Mädchen links, die Jungs gegenüber. Auf Luftmatratzen auf
einer kleinen Anhöhe.
Gegessen hat Tamsin
dort so gut wie nie. Die Klasse wurde in 5 Gruppen aufgeteilt, von denen jede
an einem Tag mit Kochen dran war. Am ersten Tag war Tamsin dran. Es gab
Spaghetti Bolognese. Das gefiel ihr nicht so gut, und sie hat dann nur ein paar
Nudeln gegessen.
Pizza, Wurst und das,
was es an anderen Tagen gab, lehnte sie ab.
„An den Tagen sind
wir durch den Wildpark gegangen.“ Das war ganz nett.
Im Laufe der Woche
bekam Cora großes Heimweh. Nachts lag sie wach, hat geweint. Zusammen mit Caro entstand
der Plan, von da abzuhauen und nach Hause zu laufen. Tamsin sollte auch
mitkommen. Allerdings wurde dieser Plan nie durchgeführt.
An einem Abend hatte
Tamsin zusammen mit Caro ein Gespräch bei den beiden Lehrerinnen. Vielleicht,
weil sie so traurig war. Tamsin hatte eine MC Kassette dabei, von denen sie
damals oft viele aufgenommen hatte. „Wir vier haben uns dann die Kassette
angehört, auf der ich und Caro über Zampo rumgealbert haben; ein Name aus einer
Animeserie.“ Tamsin fand das lustig. Danach ging es ihr besser.
Dann war da so ein
Junge, Ralf, der nur Unfug im Kopf hatte. Tamsin glaubt, dass auch er es war,
der ihr einmal Steine in die Gummistiefel gefüllt hatte. Da Tamsin die
Angewohnheit hat, die Schuhe vor dem Anziehen immer auszukippen, trat sie nicht
darein, sondern verteilte alle Steine auf dem Boden vor ihrem schlafplatz.
Egal.
An einem Tag hatte
Ralf größere Äste auf dem Waldweg verteilt. Bei einem Spaziergang mit Caro und
ein paar anderen bekam Tamsin das mit. „Als wir dann abends im Dunkeln mit der
ganzen Klasse da endlanggegangen sind, sind einige darüber gestolpert.“
Nachts wurde die
Klasse für ein Versteckspiel in zwei Gruppen aufgeteilt. Abgesehen davon, dass Tamsins
Taschenlampe den Geist aufgegeben hatte und ihre Ersatzlampe sehr dunkel war, war
dies ganz lustig.
Tamsin war jedoch
froh, als sie wieder zuhause war.
Ihre ewige
Traurigkeit konnte Tamsin nie verbergen. Selten hat sie gelacht. Wenn
überhaupt. Frau A. hatte sie oft streng ermahnt: „Lächle mal. Guck doch nicht
immer so!“ Tamsin hat nie verstanden, was die von ihr wollte. Worüber sollte
sie lächeln? Frau A. hat gemeckert, aber das war ihr dann auch egal. Die hat
Tamsin nie verstanden.
In der 7. Klasse
wurde Frau A. krank. Niemand wusste, was sie hatte oder wann sie wiederkommen
würde. Die Folge waren viele Stundenausfälle, wenig Vertretung - beinahe das
ganze Schuljahr lang. Tamsin war immer froh, wenn alle nach 4 St. nach Hause
durften. Einige andere haben sich über den Ausfall beklagt, weil es dadurch
auch weniger zu lernen gab. Tamsin war das egal. Sie mochte die Schule nicht. Auch
nicht das Klassenzimmer, das im dritten Stockwerk unterm Dach lag.
Einmal bekam Tamsin,
die wieder alleine in der Pause rumstand, von Tanjas Bruder, der sie nicht
leiden konnte, im Vorbeigehen einen auf die Nase. Das war die erste und einzige
gewaltsame Attacke.
Irgendwann in
späteren Zeiten hatte sich eine Gruppe aus einer anderen Klasse um sie herum
versammelt und ihr verbal schwer zugesetzt. „Irgendjemand aus der anderen
Klasse wollte mich mal fotografieren. Handys mit Kamera waren da gerade neu auf
dem Markt. Aber ich stand mit dem Rücken zur Sonne, sodass das Licht die Kamera
blendete. Der Kerl wollte, dass ich mich umdrehe, weil er ja mein Gesicht sehen
wollte. Aber das tat ich nicht.“ Sein Pech. Und dabei blieb es dann, bis Cora
und Sina, die das sahen, mich reingeholt hatten.
Heftig
gesteigert hat es sich dann noch in der Berufsschule. Im Jahr 2007.
2004 –
Konfirmation
Im Jahre 2003 fing
Tamsins Konfirmationszeit an, in der sie zusammen mit Caro jeden Mittwoch für
eine Stunde am Konferunterricht teilnehmen musste. Dort traf sie auch einige
Kameraden aus der ersten Klasse wieder.
So übel war der
Unterricht gar nicht. „Wir haben Bibelaufschlagen gespielt und über Gott
geredet.“ Einmal hatte eine Gruppe Jungs zum Fenster reingeguckt und den
Unterricht gestört. Der Pastor hatte dann die Vorhänge zugezogen. Es war
lustig, denn das Thema Gott war oft nicht sonderlich spannend.
An zwei
Konfirmantenfreizeiten musste Tamsin teilnehmen. Caro nahm auch an einer
dritten im Sommer teil. Tamsin wollte nicht.
„Ich war immer froh, wenn
es vorbei war. Beim ersten Mal hatten wir beide unsere Bettdecken mitgenommen,
weil wir nicht wussten, ob es dort Decken geben würde. Gegessen hatte Tamsin
dort so gut wie nichts. Sie hatte Angst. Ohne Caro hätte sie das wohl nicht
durchgestanden. Allerdings verstand die sich auch gut mit anderen Kindern,
sodass sie einmal bei denen am Tisch gefrühstückt hatte. Für Tamsin war da kein
Platz mehr frei, sodass sie bei Jenny, die sie aus der ersten Klasse kannte,
saß. Da war es ihr sehr unangenehm, stumm dazusitzen und nichts zu essen,
während die sie angestarrt hatte. Damals waren sie befreundet gewesen, bis
Tamsin sitzenblieb und in eine andere Klasse kam. Darüber war sie damals sehr
traurig. „Ich fand es unappetitlich, dieses Essen, das aus der dortigen
Großküche kam. Diese Marmelade, die aus großen Eimern in kleine Schalen gefüllt
und jeden Tag erneut auf den Tisch gestellt wurde.“ Tamsin mochte nichts essen,
was nicht von ihrer Mom gekocht wurde.
Draußen war es kalt. Hat
geschneit. Nachtwanderungen wurden gemacht. Tamsin hatte oft vor den Jungs
Angst, dass die sie mit Schneebällen abwarfen. Die Abende waren anstrengend und
danach war sie immer richtig müde!
Abends saßen alle Kinder
– es waren ca. 30 Stück – im großen Kreis im Wohnzimmer.
Das Tollste war, als dort
einmal ein Film geschaut wurde, weil es den ganzen Tag lang geregnet hatte. Das
war sehr entspannend im Gegensatz zum Rest.
Einmal wurden mehrere Themengruppen
gegründet. Zusammen mit Caro ging Tamsin in die Theatergruppe. Mit einigen
anderen Frauen wurde ein kleines Stück einstudiert, dass vom Glauben an Gott
handelte. Dies sollte dann in einer Kirche in einer anderen Stadt aufgeführt
werden. Das Gute für Tamsin daran war, dass sie und Caro den ca. 10 Km langen
Hinweg mit dem Auto bewältigen durften, und nicht wie alle anderen zu Fuß gehen
mussten. „Wir mussten ja noch alles aufbauen und uns vorbereiten und den Text
lernen. Auch wenn es für uns beiden je nur zwei Sätze waren.“ Tamsin war sehr
nervös. Jedoch hatte es ihr auch Spaß gemacht.
Nach dem Theater meinte
jemand amüsiert: „Tamsin hat so undeutlich gesprochen, dass man nichts
verstanden hat, und Caro war viel zu leise!“
Während der 2,5 Tage dort
auf Schloss Ascheberg hat Tamsin nicht geduscht.
Einmal hatte sie ein Bett
erwischt, dessen Matratze stark nach Urin gestunken hat. Darin hatte sie es
beide Nächte ausgehalten.
Einmal hatte sie eine
goldene Bettdecke mit. In dem Zimmer gab es 2 Doppelhochbetten. Einmal waren
die Kinder aus dem Bett gegenüber schon früh wach. Tamsin wollte
weiterschlafen. Daraufhin haben sie an ihrer Decke gezerrt. Sie ihr
weggerissen. Dann haben sie Tamsin mit ihren Knicklichtern beworfen. Das tat weh.
An liebsten hätte Tamsin die Dinger einfach aus dem Fenster geworfen, jedoch
fehlte ihr der Mut dazu.
Während der Konferzeit
hat Tamsin sich mit Caro und zwei etwas älteren, jungen Frauen regelmäßig
nachmittags zum Singen getroffen. „Lauda to si“ war das schönste Lied, weil es
nicht so langsam und einschläfernd war, wie die meisten Kirchenlieder.
In dieser Zeit hatte
Tamsin ihr erstes Handy. Oft hat sie sich mit Caro einen Spaß daraus gemacht,
kostenlose 0800er Nummern anzurufen und quatsch zu reden. Als sie einmal bei den
Frauen kurz alleine waren, weil die noch etwas zu erledigen hatten, rief Tamsin
die Polizei an. Nur zum Spaß. „Damals war ich 13. Ich fand das lustig – im
Gegensatz zu dem Singen.“
2006/7 – Jobb. Diese Maßnahme hat Tamsin verändert
Nachdem
Tamsin mit der Schule fertig war, kam sie in eine Berufsvorbereitende Maßnahme.
Das Programm bestand aus: Montag und Freitag Berufsschule, dazwischen Arbeit in
einer Einrichtung.
Tamsin
kam in eine Gruppe für Problemkinder/Schulabbrecher,
die den Haupt- oder Sonderschulabschluss nachmachen wollten. Tamsin hatte einen
Abschluss, aber sie hätte ihn wohl verbessern können, was leider nicht geschah.
Schuld daran waren die Mitschüler, die sie so sehr gequält hatten, dass Tamsin absolut
keine Motivation mehr hatte.
Die
Montage waren der reinste Horror. Diese Typen dort
waren richtige Asis. Sie bewarfen sogar den Lehrer im Unterricht mit
Papiermüll. Der hats leider mit Humor genommen. Wahrscheinlich hatte er auch
Angst vor denen und wollte heftigere Eskalationen vermeiden. Immer, wenn alle
vor der Klasse standen, auf den Lehrer warteten und die Typen um Tamsin
herumstanden und auf sie einredeten, wie behindert, stumm und blöd sie doch
sei, weil sie so schüchtern war, dachte Tamsin nur eines: Bitte lass es nur
bei Worten bleiben.
Zu Tamsins eigener Erleichterung blieb
es auch immer beim verbalem "Mobbing".
Da war einer, der immer wollte, dass Tamsin
weggeht, und zwar zu den Behinderten. Dorthin, wo sie hingehört. „Geh weg! Hau
ab!“, hat er sie oft gedrängt. So einen Typ gab es in ihrer alten Schulklasse
ebenfalls. Der hatte immer in Richtung Sonderschule gezeigt und gemeint: Geh
dahin, wo du hingehörst, los!" Tamsin hatte zunächst nie verstanden, wohin
er zeigte und was er von ihr wollte.
Einmal sollte jeder aus der Klasse ein Referat
halten. Dazu hatte jeder ein Plakat angefertigt; Tamsin über das Sonnensystem.
Alle haben ihre Arbeiten mitnachhause genommen. Doch da war ein Kerl, der
ziemlichen Mundgeruch hatte, der meinte: "Wir dürfen die Plakate nicht
mitnehmen!" Er wollte, dass sie ihres in der Klasse ließe. Da die Klassen wöchentlich
gewechselt wurden und dann andere Schüler dort sind, hätte Tamsin ihres wahrscheinlich
verloren, hätte sie auf ihn gehört. "Ich wusste, dass er mich
verarscht."
Während des Unterrichtes saß Tamsin manchmal mit
dem Rücken zur Tafel, weil die Tische so blöd standen. Anstatt trotzdem
zuzuhören, hatte sie nervös auf ihre Hände gestarrt und geträumt, weil ihr
Gegenüber die Jungs saßen, denen sie nicht in die Augen schauen wollte. Die
Mädchen saßen an anderen Tischen, aber vor denen hatte sie auch Angst, weil
einige von denen sie auch gerne mal geärgert hatten. Eine von denen war
besonders vorlaut.
Die Lehrer hielten Tamsin für dumm. Haben Sachen
erklärt, die sie eigentlich wusste, zB. wie man einen Computer einschaltet.
Aber eigentlich waren die auch nett.
Abends kam Tamsin oft weinend und erschöpft nach
Hause. Doch ihre Eltern wollten sich in das Mobbing nicht einmischen, weil sie
glaubten, dann würde es nur noch schlimmer werden. Und so ertrug Tamsin es, bis
das Jahr vorüber war.
Tamsin
gehört zu den Menschen, die mit plötzlichen, harten Veränderungen nicht gut
umzugehen vermögen. Als sie im Jahre 2006 aus der Schule in eine
berufsvorbereitende Maßnahme geschickt wurde, wurde plötzlich alles anders.
Ja…
Am
Anfang war Tamsin noch frohen Mutes. Etwas Neues kam. Der normale Alltag des
Erwachsenen-Lebens. Geld. Für die Teilnahme erhielt sie 250€/Monat, was sie
sehr motivierte, da sie mit dem Geld machen konnte, was immer sie wollte, ohne
etwas abgeben zu müssen. Sie hat für eine Camara gespart. (500€ - und die ist
dann auch noch durch ihre eigene Dummheit kaputtgegangen)
In
der Maßnahme gab es drei Bereiche zur Auswahl: Malen, Holz und Küche. Tamsin
hatte sich für Malen entschieden, weil sie gerne malt. Damals wusste sie nicht,
dass es hauptsächlich um das einfarbige Streichen von Wänden ging - eine recht
ermüdende Tätigkeit. Daher war sie enttäuscht, als es nach einem Eignungstest
auf einmal hieß, sie würde in die Holzwerkstatt kommen. Angeblich waren im
anderen Bereich schon alle Plätze belegt. Komisch, da Tamsin doch schon ganz am
Anfang gesagt hatte, dass sie gerne dorthin wollte.
In
der Holzwerkstatt war sie das einzige Mädchen. Die Jungs in dem Bereich waren
einigermaßen neutral ihr gegenüber, ganz im Gegensatz zu denen im Malerbereich,
die in den Pausen immer über sie gelacht haben, als Tamsin alleine starr und
steif vor der Tür stand, weil sie sich nicht zu den anderen auf die Bänke oder
in den Pausenraum traute. Mit ihren langen, dunklen Haaren und einer roten
Plastikjacke hatte sie immer ausgesehen wie ein britischer Soldat. „Guck dir
mal an, wie die aussieht, haha!“, hatte einmal einer über den Hof gerufen,
Tamsin nachgeäfft und lachend mit dem Finger auf sie gezeigt. Alle starrten
belustigt zu ihr rüber. „Doch gut, dass ich nicht in den Malerbereich kam!“
Einmal
hatte ein toter Vogel neben dem Eingang gelegen. An dem Tag mussten alle
draußen auf den Anleiter warten. Es stank höllisch. Ein Typ hat ihn auf einen
Stock aufgespießt und ist damit herumgelaufen. Tamsin hatte Panik, dass er den
stinkenden Kadaver auf sie werfen würde, was zu ihrer Erleichterung jedoch
nicht geschah.
In
der Holzwerkstatt hat Tamsin immer ruhig vor sich hingearbeitet, bemüht, alle
Aufträge anständig fertigzustellen. "Gearbeitet wird im Stehen!",
lautete eine Anweisung, die ihr aber ziemlich egal war, weil sie keinen Sinn
darin sah, Schmerzen zu ertragen, wenn sie doch vermieden werden konnten. So
saß sie oft auf ihrem kleinen, harten Hocker, und wenn ein Werkstück von Hand
geschliffen werden musste, ließ sie sich damit immer besonders viel Zeit.
Sitzen tat gut.
Oft
versank sie dabei in ihrer eigenen Gedankenwelt. Manchmal so sehr, dass ihre
Tagträume sie zum Lachen brachten, was die anderen ein wenig irritierte. Einmal
meinte einer irritiert zu den anderen: „Die fängt manchmal plötzlich ohne Grund
an zu lachen. Was hat die bloß?“ Aber das war ihr egal.
Tatsächlich
war da sogar einer, der sie zu mögen schien. Er hat normal mit ihr geredet und
dabei auch erfahren, dass Tamsin gerne Animes schaut. Leider kannte sie damals
nur die aus dem Fernsehen. Darum hatte er ihr eine DVD mit neuen Animes
gebrannt. Tamsin hat die angenommen, allerdings war sie nicht fähig, seine
Freundlichkeit zu erwidern. Sie nahm die DVD, murmelte ein Danke und ließ die
Tür zwischen sich und ihm - er hat sie ihr in den Umkleideraum gebracht -
einfach zufallen. Andere Versuche von ihm, Kontakt aufzubauen, blockte sie ungewollt
ab. Nie zuvor war ein "Mann" nett zu ihr. Das war verwirrend.
Ungewöhnlich. Damit konnte sie nichts anfangen. Und so beendete er seine
Versuche irgendwann und ignorierte sie, so, wie sie ihn ungewollt ignorierte.
Das
war vermutlich der erste und einzige echte, ernste Versuch, den je ein fremder
Mensch unternommen hat, um sich mit ihr anzufreunden.
Inzwischen
bedauert sie ihr Verhalten. Sehr.
Aber
was hätte schon daraus werden können? Nie hätte sie den Mut gefunden, ihren
Eltern davon zu erzählen, oder alleine etwas mit ihm zu unternehmen.
Frau
Kote war ein Name, der Tamsin unwillkürlich zum Lachen brachte. Die Jungs aus
der Mathematik Gruppe, die 1x wöchentlich stattfand, amüsierten sich darüber. „Als
einmal der Name fiel, musste ich lachen. Die Frau ging in den Ruhestand. Kannte
die gar nicht. Komisch. Daraufhin haben die Jungs immer den Namen gesagt und gelacht,
wenn ich dann lachen musste.“
Nach
weniger als einem halben Jahr bekam Tamsin die Folgen der Veränderungen in
diesem neuen Leben zu spüren: Montägliche Übelkeit. Dazu unerträgliche
Kopfschmerzen, die im Laufe des Tages immer stärker anschwollen und manchmal
sogar bis zum nächsten Tag andauerten. Aber immer nur Montags! „Gegen
Nachmittag fing es an. Mir wurde plötzlich übel. Jedes Mal kurz vor 17 Uhr
hatte ich das Gefühl, mich jeden Augenblick übergeben zu müssen.“ Die Werkstatt
war aufgeräumt und der Anleiter sagte noch ein paar Worte zum Abschluss des
Tages. Tamsin weiß noch, wie sie auf ihren Tisch gestützt in Gedanken um
Feierabend gebettelt hat. Sobald es dann soweit war, war sie als erste draußen!
„Gottseidank hat diese Übelkeit, sobald ich meine blaue Arbeitshose ausgezogen
und das Gebäude verlassen hatte, meistens rasch nachgelassen.“ Jedoch nicht
immer.
Beinahe
Täglich gab es Pommes vom Imbiss oder anderes Fastfood, da Tamsins Mom um 17
Uhr nicht mehr kochen wollte und Kochen auch zu lange gedauert hätte, da Tamsin
einfach zu großen Hunger hatte. Tamsin hat den ganzen Tag über nichts Anderes
zu sich genommen, außer ein paar Kekse und Energydrink. „Ich wollte nicht
zusammen mit der großen Gruppe speisen.“ …mit denen, die über sie lachen.
Außerdem mag sie das normale Standartessen, dass in Kantinen serviert wird,
nicht allzu sehr.
Warum
kam diese Übelkeit immer nur montags? Lag es an dem Mobbing, dass Tamsin so
große Angst vor der Maßnahme und den Leuten in der Schule hatte? An ihrer
Ernährung? Oder an dem Holzstaub, wie eine Dame aus dem Büro vermutet hatte?
Niemals
wurde dies geklärt.
Nach
einem halben Jahr wurde Tamsin dem Hauswirtschaftsbereich zugeteilt. Vielleicht
würde es ihr dort bessergehen, hofften die Betreuer.
Von
da an hieß es täglich: putzen, bügeln, Tische eindecken, abwaschen, wischen,
fegen usw. Im Grunde war diese Arbeit nicht übel. Tamsin hat es sogar genossen
ganz alleine auf den Gängen zugange zu sein, zu fegen und die Tische
einzudecken. Dabei wurde sie selbst nicht so dreckig. Das tat sie gerne, und
sie tat es gut, weswegen sie dies von da an fast täglich machen durfte. Die Frauen,
die dort eine Ausbildung machten, waren nett. Erwachsen. Anders als die
kindischen Gören aus der Berufschulklasse.
Leider
konnte Tamsin auch dort ihre mutistischen Züge und Sprachbarrieren nicht
überwinden. Die montägliche Übelkeit schwand zwar nicht gänzlich, auch nicht
die Kopfschmerzen, dennoch fühlte sie sich in diesem Bereich gleich viel
wohler.
Abgesehen
von den Fuß– und Rückenschmerzen - einem neuen Problem. Dort konnte sie nicht
immer wie in der Holzwerkstatt auf einem Hocker sitzen. Bereits gegen Mittag
verspürte sie, wie ihre Füße gegen die ununterbrochene Belastung protestierten.
Anschließend meldete sich ihr Rücken. Tätigkeiten, bei denen nur auf einem
Fleck zu Stehen war, beschleunigten ihr Leiden. Tamsin begann, von einem Bein
aufs andere zu treten. Beugte sich in unregelmäßigen Abständen vor und zurück.
Doch der Schmerz ließ sich nicht vertreiben. Er kam. Täglich. Und er war
unermesslich! „Es war schrecklich!“
Der
Tag verlief so:
Den
Wagen zusammenstellen und die Tische für das Frühstück eindecken.
Toiletten
Putzen.
Wäsche
zusammenlegen.
Kurze
Pause.
Tische
abräumen, abwischen und fürs Mittagessen eindecken.
Putzen/Fensterputzen,
WCs, je nachdem was anfällt.
Mittags:
30 Min. Pause.
Tische
abräumen, Speisesaal Fegen, wischen.
Flure
Fegen & Wischen.
Danach
evtl. beim Tellerwaschen helfen und das Geschirr wegräumen.
Evtl.
noch die Küche schrubben.
Berichte
Schreiben.
Feierabend.
Irgendwann
fasste Tamsin den Mut, von ihrem Leid zu berichten. Sie hat es nichtmehr
ausgehalten. Wenn sie wolle, so hieß es anfangs, könnte sie jederzeit in die
Holzwerkstatt zurück. Tamsin erinnert sich noch genau, wie sie damals
vorsichtig gefragt hatte: „Wann kann ich denn eigentlich in die Holzwerkstatt
zurück?“
„Warum das denn? Gefällt es dir bei uns
nicht“, erwiderte die Hauswirtschaftsleiterin argwöhnisch. Sie war dagegen.
Wollte, das Tamsin da bleib, weil ihre Arbeit dem Bereich sehr zugute kam.
„Doch,
es ist nett hier. Ich habe aber vom ununterbrochenen Stehen und Laufen ständig
starke Schmerzen in Rücken und Füßen.“
„Wir werden sehen. Sammle die Fußmatten ein.
Heute bist du mit Absaugen dran!“, kam die zickige Antwort.
Alle
der zehn schweren Fußmatten einzusammeln und im Lager einzeln abzusaugen - was
für eine umständliche Arbeit! - zählte zu den unangenehmsten Tätigkeiten.
Tamsin hat dies gehasst. Warum hätten die nicht liegenbleiben und direkt
abgesaugt werden können?
Da
Tamsin im Grunde gar nicht so gerne zurück in den anderen Bereich wollte und
ihr Kummer lediglich mit den Schmerzen zu tun hatte, wurde beschlossen, dass
Tamsin statt einem Wechsel nun öfters Sitzpausen einlegen durfte, um ihren
Körper ein wenig zu entlasten. Dabei durfte sie Dinge abschreiben oder
abzeichnen, was sie gerne tat. Immer hat sie sich damit besonders viel Zeit
gelassen, denn ihr grauste davor, aufzustehen und der vertrauten Qual neuen
Einzug in ihrem Verstand zu gewähren.
Doch
das kurze Sitzen half letztlich nicht viel. Die Schmerzen kamen dennoch wieder.
Unerträglich! „Nach Feierabend bin ich mit krummen Rücken vorgebäugt nach
draußen gehumpelt. Täglich.“ Tamsin wollte, dass es aufhört. Doch hat sie sich
beklagt, erntete sie von den Anleitern nur nutzlose Sprüche: „Daran gewöhnst du
dich schon. Das ist ganz normal. Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Du bist
noch jung; du musst das schaffen! Schau her, ich bin doppelt so alt wie du und schaffe
das.“
Wenn
Tamsin alleine die Toiletten putzen oder anderweitig alleine zugange sein
könnte, was eher selten geschah, weil sie meistens von Kollegen unterstützt
wurde, gönnte sie sich heimliche sitzpausen. Schließlich stand sie nicht unter
Zeitdruck.
Das
Mobbing an den Schultagen dauerte weiter an. Oft hat Tamsin zuhause geweint.
Hat ihre Mutter gebeten, in der Schule anzurufen, damit dies endlich geklärt
wurde und die Typen in die Schranken gewiesen wurden. Doch das tat diese nie.
„Wenn wir uns einmischen, wird es nur noch schlimmer.“, so deren Meinung.
Tamsin
hat es weiter ertragen.
Was
dieser Hölle, zu der ihr Leben geworden war, noch mehr Zunder gab, waren nicht
nur die Schmerzen, sondern die lange Zeit, die das Leid überhaupt erst
entstehen ließ. Acht Stunden täglich nur auf den Beinen zu sein ist hart, und
diese Pein war Tamsins ewiger Begleiter, sogar über den Feierabend hinaus.
Daheim
angekommen war Tamsin so sehr erschöpft, dass sie alle Tätigkeiten, die mit
Stehen und Arbeit zu tun hatten, vermied. Sogar am Wochenende. Putzen,
Aufräumen, Einkaufen, Duschen - das alles war wie Arbeit, und von Arbeit hatte
sie wirklich genug! Tamsin hatte endlich Zeit für sich, und die wollte sie mit
Aktivitäten füllen, die ihr Freude bereiten, sie ablenken, sie wieder zum
Lachen brachten!
Freunde
hatte sie seit Schulabschluss keine Mehr. Genaugenommen, seit dem Umzug in
diese 2KM von der Stadt entfernte Dorf: Kröß. Ihre einzigen Freunde waren das
Internet und der Fernseher. Damit verbrachte sie ihre Freizeit. Sobald sie
aufstand, kam der Schmerz wieder, pochte in ihren Hacken und Zehen. Darum
vermeid sie es, aufzustehen. Ihre Eltern erledigten alles Wichtige, sodass
Tamsin sich um nichts zu kümmern brauchte.
„Wenn
ich nicht bei JobB war, saß ich zuhause. Ich saß! Ich saß vor dem PC und habe
die freie Zeit genossen. Selbst Duschen wurde zur unangenehmen, zeitraubenden
Arbeit. Ich habe mich gehenlassen, habe nur noch sonntags geduscht, weil jede
freie Sekunde, die ich nicht stehen musste, wie Urlaub für mich war. Und den
wollte ich genießen!“
Heute
schämt Tamsin sich dafür. Ihre Mom war traurig, weil ihre ungepflegte Tochter
ihr peinlich war, doch Tamsin war es egal. Die zwanzig Minuten konnten
sinnvoller genutzt werden, als mit unter der Dusche zu stehen. Ich weiß noch,
wie Mom einmal mit tränenden Augen zu mir meinte: „Wasch dich doch bitte. Du
riechst! Ist dir das nicht unangenehm?“
Mir
war das damals egal.
Tamsins Einführung
ins Berufsleben:
Zwischendurch
gab es einige Praktika.
-Eines
im Kino, das Tamsin selbst vorgeschlagen hat. Sie interessierte sich für die
Technik mit den Filmspulen. Zudem hatte sie erwartet, dort bestenfalls nur zu
putzen.
Stattdessen
landete sie an der Kasse. Naja, an der Popkornausgabe nebenan. „Hätte ich das
nur geahnt!“ Tamsin, die sich nicht einmal traut, ihrer Chefin guten Morgen zu
sagen, sollte plötzlich Kunden bedienen! Ohje! Tamsin hatte Angst. Hat den Kunden
den Rücken zugedreht, damit die sie nicht ansprechen. Nach zwei Tagen wurde das
Praktikum vom Betrieb aus abgebrochen. Die damalige Betreuerin bei JOBB war
irritiert. "Du, dein Chef hat bei uns angerufen und gemeint: So geht das
nicht. Sie brauchet nicht mehr zu kommen. Sie arbeitet nicht mit. Was ist denn
da vorgefallen? Kannst du mir das erklären!?"
-Das
zweite Praktikum in der Wäscherei hat Tamsin sich aus dem einzigen Grund
gezwungen durchzuhalten, weil sie da schon um 14Uhr Feierabend hatte. Jedes Mal
mit dem Bus nach Neustadt zu fahren war anstrengend. In der Wäscherei konnte
sie nicht einmal in der Pause sitzen, weil es nur eine Bank gab. Dort saßen die
Raucher. Tamsin hat gearbeitet, wie sie konnte. Getan, was ihr gesagt wurde.
Auch, wenn der salzige Geruch dort ihr in der Nase brannte. Einmal musste sie
das Klo putzen. Eine Frau wollte das. Eine andere war dagegen, aber die andere
Frau hatte sich durchgesetzt und Tamsin den Eimer in die Hand gedrückt.
Ja…
Es war anstrengend und unangenehm.
-Im
Dritten wurden ihre „Probleme“ erkannt, weshalb sie in eine
Behindertenwerkstatt geschickt wurde. „Ich dachte, ich könnte in die
Montageabteilung. Gelangweilt ein Teil aufs andere Stecken und dabei schlechte
Musik aus einem plärrigen Radio hören.“ Stattdessen landete Tamsin in der
dortigen Großküche, was ihren Hass gegenüber Großküchen nicht gerade mindern
konnte. Ewiges Stehen, Tellerwaschen/abtrocknen und eingefrorene Kartoffeln
schneiden, die furchtbar gestunken hatten. „Ich wusste vorher gar nicht, dass
ich dort in die Küche kommen würde.“ Um 16 Uhr war da Feierabend. Waren wir
einmal früher mit der Arbeit fertig, wurde auf das Feierabends-signal gewartet.
„Manchmal standen alle schon um 15 Uhr an der Tür und haben gewartet. Einfach
nur rumgestanden und gewartet! Gab ja nichts mehr zu tun.“ Manchmal hat Tamsin
sich den einzigen, freien Stuhl geschnappt.
In
der Pause saß Tamsin bei den Behinderten. Essen wollte sie dort nichts. Das
braune Dreckwasser, in dem das Kochgeschirr abgewaschen wurde, hatte ihr
jeglichen Appetit geraubt. Dazu die riesigen Töpfe und diese eisernen Bottiche,
die gar nicht mehr richtig sauberzukriegen waren. Und die vielen Gerüche….
Das
alles hatte ihr nicht gefallen. Aber die Betreuerin von JOBB meinte, Tamsin
solle es weitermachen und es würde verlängert werden. Tamsin, die sich nicht
durchsetzen kann, nickte stumm. Aber dann wurde es doch nicht verlängert.
-Während
eines Schulpraktikums 2005 musste sie ein halbes Jahr lang jeden Mittwoch ins
Praktikum. In einer Druckerei in ihrem Heimatdorf. 8-16Uhr. In der halben
Stunde Pause ging sie nach Hause, um dort schnell Nudeln zu essen. Oft
verbrachte sie die Tage so: Zuschauen. Neben der Frau am PC sitzen und zusehen,
wie Bilder bearbeitet wurden. Tamsin versank dabei in ihren Tagträumen,
erleichtert, beim langen Sitzen keine Schmerzen zu haben. Denn an anderen Tagen
musste sie stehen! Lange im Druckraum neben der Maschine stehen und zusehen,
wie der Mann Papiere bedruckt. Manchmal durfte sie mithelfen; Blöcke leimen
oder etwas aufräumen. Aber oft stand sie nur stumm in der Ecke und trat von
einem Bein aufs andere. Den ganzen Tag. Es war schrecklich! Froh war sie immer,
wenn sie aus Folien Schriften ausstechen durfte. Selten sogar im Sitzen. Dafür
hatte sie einmal zum Dank 8€ erhalten. Das war nett. Klar, sie hätte es nicht
annehmen dürfen, weil sie nur Praktikantin war, aber solche bürokratischen Regeln
sind ihr herzlich egal!
Tamsins
einzige Motivation, die JOBB-Maßnahme durchzuhalten, war das Geld und die
Tatsache, dass diese Maßnahme nach einem Jahr wieder vorbei sein würde.
Nun,
das war sie. Damals hat Tamsin nicht bedacht, dass diese Maßnahme zeigen sollte,
wie ein normales Arbeitsleben aussieht. Normal.... „Soll so ein Leben wirklich
Normalität sein?“
Bis
heute ist es Tamsin unmöglich, dies zu akzeptieren. Denn selbst ohne Mobbing
und vielleicht sogar ohne Schmerzen erscheint ihr ein Vollzeittag wie ein
unerträglich hoher Berg vor ihrem inneren Auge, den sie jeden Tag aufs Neue zu
erklimmen gezwungen ist, nur, um, sobald sie oben angekommen ist, benommen
einen Abhang hinunterzugleiten, wieder aufzustehen und denselben Akt tagtäglich
immer wieder und wieder aufs Neue zu durchleben.
Kein Mensch dort hat
je die je Hand gegen sie erhoben. Dafür war Tamsin immer dankbar.
2007 – 2014 - ein
Computerleben
Nach JOBB, Mitte 2007
ging Tamsin mit ihren Eltern ins Jobcenter, weil sie nicht wusste, wie es weitergehen
sollte. Tamsin hatte große Angst, eine Arbeit zu bekommen, bei der sie wieder
den ganzen Tag lang bis abends auf den Beinen sein müsse.
Gesprochen hatte
Tamsin dort gar nicht. Sie konnte nicht. Ihre Eltern hatten alles erzählt.
"Ich sollte dann in eine Maßnahme gehen, wo meine Stärken und Schwächen
herausgefunden werden würden." Tamsin war gerade dabei, einen Hartz4
Antrag auszufüllen, in dem unter anderem anzukreuzen war, ob man gerne im Stehen
oder im Sitzen arbeiten möchte – letzteres durfte sie nicht ankreuzen; ihre Mom
meinte, sie müsse jede Arbeit annehmen und lange stehen wäre ganz normal. Ganz
nach dem Motto: Hauptsache Arbeit, egal welche!
Da wurde der Berater
plötzlich stutzig. Er verschwand kurz und kam dann mit der Aussage wieder: >Ihre
Tochter kann kein Arbeitslosengeld bekommen. Auch keine Arbeit. Sie ist nicht
vermittelbar.<
Der Antrag wurde
zerrissen.
Tamsin war unfassbar
erleichtert. Keine Arbeit. Keine Schmerzen. Keine Panik und kein Leiden mehr.
Damals wusste sie nicht, was dann auf sie zukommen würde…
In früher Kindheit,
gerade als sie in die Schule kam, dachte sie, dass nach der Schulzeit alle
Arbeit wieder vorbei sein würde und sie nur noch zuhause sein und tun könnte,
was Spaß macht. Darauf hatte sie sich immer gefreut. 18 Zu sein und Frei zu
sein! Komisch, dass etwas Derartiges dann tatsächlich eintraf. Allerdings war
Tamsin kein Kind mehr, das gerne den ganzen Tag mit Spielen verbrachte.
Nun… Nachdem Tamsin
keine Ausbildung, geschweige denn einen Job bekam, verbrachte sie die nächsten
7 Jahre daheim - vor ihrem Computer. Anfangs fand sie dies toll. Ausschlafen,
keine Schmerzen vom Stehen und Spaß haben bis nach Mitternacht!
Sie hat im Internet
gechattet, bis ihr die Augen zufielen. Von morgens bis spät nachts. Ihre Mom hat
gekocht. Oder ihr Dad tat dies in der Woche. Viel ungesundes Zeug, schnell und
einfach. Ihre Mom hat alles Nötige erledigt. Geputzt, Bett bezogen, gekocht… Und
Tamsin hat den ganzen Tag gechattet. Gut, dass sie ab 2006 eine Flatrate bekam
und nicht wie am Anfang über ein langsames Modem nur eine Stunde täglich online
sein durfte, weil nach Minuten abgerechnet wurde.
So vergingen die
Jahre.
Bis der Chat im Jahre
2010 Anfing den Bach runterzugehen. Alles veränderte sich. Die Leute wurden
erwachsen und Chatten verwandelte sich in eintönigen Smalltalk. Sexuelle
Anfragen nahmen zu, sodass Tamsins Freude zunehmend schwand. Ihre Nicknamen
wurden 2010 geklaut und gesperrt. Sie entschloss sich daraufhin, ihre Zeit
sinnvoller zu nutzen, indem sie begann, Geschichten zu schreiben. Romane. Im
Laufe der nächsten Jahre wurde sie darin immer besser.
Aber auch das war
irgendwann nichtmehr genug. Tamsin wollte raus! Nicht mehr 24 Stunden/Jährlich
in ihrem Zimmer hocken. Sie wollte etwas erleben. Sie wusste, wenn sie nichts
daran änderte, würde sie mit 50 Jahren noch dort hocken. Ohne Freunde. Niemals
heiraten. Todesgedanken kamen auf. Depressionen. Ein ewiges Leben in Isolation
wollte sie nicht.
2013 – Tamsins erster
Freund
Tamsin lernt einen
Mann im Internet kennen. Naja, sie kennt dort viele, doch Rene wohnte in ihrer
Nähe und er hatte ein Auto. Nach vielen Unterhaltungen im Videochat will er
sich mit ihr treffen, im Kino. Da Tamsin dort alleine nicht hinkommt, muss sie
es ihren Eltern sagen. Das war echt schwer. Tagelang hat sie darüber
nachgedacht, wie sie damit anfangen sollte. René wurde ungeduldig. Erst am
Abend vor dem großen Tag hat sie sich notgedrungen überwunden. Das musste sie.
Sie hätte es ewig bedauert, hätte sie die Chance auf ein Leben mit Freund nicht
genutzt.
Ihre Mom war
begeistert. Ihr Dad hingegen dachte, Der Typ wäre ein Türke, der sie verprügeln
oder vergewaltigen wollte. „Man, war mir das unangenehm, als erwachsene Frau zu
meinem ersten Date in Begleitung der Eltern aufzutauchen!“ Mit den Eltern hatte
sie vor dem Kino gewartet.
Doch das war erst der
Anfang.
„Das erste Date war
toll! Das fand Rene auch. Auch wenn das Kino nicht beheizt und kalt war.“ Von
da an hat er sich öfters mit ihr getroffen. Immer hat er sie mit dem Auto
abgeholt. „Wir sind zu ihm in seine Wohnung gefahren, haben Videos geschaut uns
sind spazieren gegangen. Einmal wollte ich im Dunkeln über den Friedhof gehen.
Das wollte er nicht, weil sowas verboten ist. Ich war enttäuscht. An einem
anderen Abend haben wir uns Alkohol besorgt. Ich fand es toll, so viel trinken
zu können wie ich will, ohne dass jemand mich zurückhält. Danach haben wir
Stargate geschaut. Ich war jedoch so besoffen, dass ich nichtmehr klar denken
oder gerade stehen konnte. Habe ständig nach dem Wetter gefragt - und dann
alles wieder ausgekotzt.“
Lästig waren jedoch
die Eltern. Alles wollten sie wissen. Tamsin durfte nicht raus, ohne sich
vorher bei denen abzumelden. Sie musste vor 23uhr zurück sein, ehe die schlafen
gingen.
„Mom hat mich dann
erstmal zum Frauenarzt geschleift, damit ich die Pille bekomme. Über alles hat
sie mich ausgefragt und darüber geredet, wie das mit dem „Verkehr“ so läuft.“
„Darüber zu reden ist
doch ganz normal!“, meint die Mutter, als Tamsin verlegen den Kopf senkt. „Dein
Dad und ich tun es auch. Das ist
alles ganz natürlich.“
Doch Tamsin mag nicht
darüber reden, und sie mag ihr auch nicht erzählen, was sie so mit ihrem Freund
unternimmt.
„Dann habe ich das
erste Mal bei ihm übernachtet. Wie haben gekuschelt. Zum richtigen Verkehr kam
es jedoch nicht, weil sein Glied komisch verwachsen und ich zu eng war.“
Am nächsten Morgen bekam sie sofort einen Anruf von ihren Eltern, ob es ihr
gutgeht. Zwar hatte sie gesagt, dass sie diesen Abend nicht heimkäme, aber die
haben sich enorme Sorgen gemacht. Wollten dann sogar seine Handynummer haben.
„Meine Güte, das ist mein Leben und meine Sache, was ich tue! Muss ich über
jede Kleinigkeit Rechenschaft ablegen!?“
Das neue Glück ließ
schnell nach. Tamsin zeigte ihr wahres Ich. Und das war keineswegs die heitere,
gefühlvolle, redegewandte Person, wie er sie aus dem Internet kannte.
„Du bist wie eine
Puppe.“, hat Rene geklagt. Beim Kuscheln lag Tamsin oft einfach nur da, weil
sie zu schüchtern war, selbst die Initiative zu ergreifen. Anfangs mochte er
sie, obwohl sie so wenig spricht. Tamsin war nett, ruhig. Aber dann…
Tamsins Unfähigkeit
mit Gefühlen umzugehen und die nervigen Eltern sorgten schließlich dafür, dass
diese Beziehung nach 2 Monaten zerbrach. „Ich konnte nicht auf ihn zugehen, ihn
umarmen. Küssen, ja, wenn er den Anfang machte. Aber Gefühle zu zeigen, das war
nicht mein Ding. Einmal hatten wir uns deswegen gestritten. Wir lagen auf dem
Sofa und haben gekuschelt. Ich habe
immer gewartet, bis er anfing und mir zeigte/sagte, was ich tun soll. Von
alleine konnte ich es nicht. Hatte ja auch noch keine Erfahrung. Irgendwann
stand er auf und ich erkannte, dass er nicht glücklich war. Plötzlich fing er
zu weinen an. Zunächst war ich verwirrt. Anstatt dann zu ihm zu gehen, den Arm
um ihn zu legen und etwas Tröstendes zu sagen, stand ich einfach nur an der Tür
und habe gewartet, dass er mich nach Hause fährt, während er da saß und geweint
hat.“
„Du bist eiskalt!“, hatte er daraufhin geschimpft.
Tamsin schwieg.
Aber er wollte nicht,
dass es so endet.
„Wir haben
miteinander geschrieben und uns dann nochmal getroffen. Sind am Strang
langgegangen. Das war schön. Dann haben wir uns auf eine Bank gesetzt. Ich war
schüchtern. Hatte Angst, etwas zu sagen oder zu tun. Wir wussten oft nicht, was
wir machen sollten. Oft wollte er auch nur drinnen sitzen, Fernsehen und
kuscheln. Fand das auf Dauer etwas ermüdend.
Wir haben uns wieder
gestritten und dann hat er mich nach Hause gefahren. Mom hatte sich gewundert,
warum ich schon so früh zurück bin. Ich wollte nicht darüber reden.“
Ich sah keinen Sinn
mehr in dieser Beziehung.
„Damit der Verkehr
möglich wurde, hatte er sich dann operieren lassen, und ich musste es auch,
weil mein Unterleib irgendwie zugewachsen war, sodass eine Untersuchung nicht
möglich war.“ Davon wusste er jedoch nichts.
Zum Verkehr kam es
jedoch nie, da die Beziehung nach zwei Monaten von Tamsin her beendet wurde.
Die Sache mit den Eltern wurde ihr einfach zu viel. Diese ständigen Fragen über
dies und das… Dazu die Abhängigkeit. „Ich konnte keine Geschenke kaufen, weil
ich nie alleine in die Stadt kam. Ich
konnte ihm nicht einmal ein Getränk anbieten, da dies sich in der Küche im
Elternhaus befindet und die Eltern über alles Bescheid wussten.“ Sicher, sie
hatten nichts dagegen, doch es hat Tamsin genervt. Immer hat sie das Rollo
zugezogen, weil sie nicht wollte, dass jemand durch das Fenster reinschaut.
Beim Abschied wollte/konnte sie ihn nicht küssen, weil ihre Eltern aus dem
Fenster zusehen könnten und Tamsin dann wieder mit Fragen und Kommentaren
konfrontierten.
„Ich kann und werde
mich erst wieder auf einen Mann einlassen, wenn ich eine eigene Wohnung habe!“
2014 – BQOH. Tamsin
fängt an zu Leben
Im Alter von 25 fing Tamsin an mit der Wohnungssuche. Sie wollte raus. Weg von den
Eltern. Etwas erleben. Frei sein! "Ich musste warten, bis ich 25
bin, weil ich als Arbeitslose vorher
keinen Anspruch auf Kostenübernahem der Miete hätte."
Tamsin ging ins
Jobcenter, wissend, dass sie vielleicht Arbeit bekommen könnte, die ihr nicht
gefällt. Aber selbst das war ihr in dem Moment lieber, als auch nur noch einen
Tag länger durchgehend in ihrem Kinderzimmer rumzugammeln. "Ich
wollte raus. Ich wollte eine Wohnung und eigenes Geld! Selbst ein Leben wie
damals im JOBB 2007 erschien mir hin und wieder angenehmer, als diese
unerträgliche Langeweile noch länger auszuhalten."
Bereits vor ungefähr zwei Jahren spürte Tamsin den
unermesslichen Wunsch nach Veränderung. Doch die konnte sie nicht erreichen.
Wie auch? Ihre Eltern kamen ihr oft vor wie Gefängniswärter. Die bestimmten,
wann Tamsin rausging und wohin. Alleine konnte Tamsin nicht raus.
Vielleicht, wenn sie gewollt hätte. Aber sie hatte Angst, und die Aussagen
ihres Dads "Betrete keine Feldwege, sonst wirst du überfallen,
ausgeraubt und vergewaltigt" waren nicht gerade ermutigend.
Einmal ist Tamsin alleine mit dem Rad durchs Dorf gefahren. Naja, das hatte sie
schon öfters getan. Doch immer dieselbe Strecke abzutreten erschein ihr
eintönig. Ihre Eltern wollten jedoch nicht, dass sie einen neuen Weg einschlug.
Abseits des öden Dorfes. "Aus Frust habe ich behauptet, das Dorf zu verlassen
und über Janshof zu fahren. Ein nahes Nachbardorf. Das hatte ich mich dann aber
nicht getraut und bin wieder nur durch unser Dorf gefahren. Die Strecke dauert
ca. 7 Min. Plötzlich bemerkte ich hinter mir ein langsames Auto. Wer war es?
Die Eltern! Sie kamen mir hinterher, um zu kontrollieren, dass ich auch ja den
erlaubten Weg fahre!"
Später meinten diese, es wäre nur ein Scherz gewesen. Lachten. Tamsin hat
geweint.
Wäre es nach ihrem Dad gegangen, wäre Tamsin heute noch
isoliert. Alleine in ihrem düsteren, kleinen, schmuddeligen Zimmer. So lange,
bis der Schimmel ihr die Luft abschnürt. "Ich hatte nie Lust, immer die
Spinnen und Asseln totzumachen. Es ärgerte mich, dass Dad die Löcher nie zu
machen wollte. Daher habe ich den unsichtbaren Unrat unter dem Bett etc.
ignoriert."
Auch das Essen hing ihr zum Hals raus. Tamsin konnte nicht
kochen. Da Mom arbeitet, hat ihr Dad das übernommen. Allerdings war auch er
darin auch kein Meister, und so bestand ihre Versorgung hauptsächlich aus
Tiefkühlzeug und Fertiggerichten. Da sie davon nie richtig satt wurde, brachten
ihre Eltern ihr abends oft noch etwas vom Imbiss mit, wenn Dad die Mom von der Arbeit abgeholt hat. Pizza.
Etwas von McDonalds. Drüber hat Tamsin sich immer gefreut. "Es gab Tage, da aß ich um 11:00
fertig-Bratkartoffeln und hatte schon am frühen Nachmittagen wieder extremen
Hunger. Ich habe viel Schokolade und Torte gegessen. Und Chips. Wenig Obst."
Knapp einen Monat nach ihrem 25. Geburtstag: Tamsin ging von
sich aus zum Jobcenter. Sie wollte Hartz4 beantragen, weil sie Geld zum Leben
brauchte, und zwar mehr als das, was sie Jährlich zum Geburtstag bekam. Das
hatte sie dann immer gespart, um sich dafür Sachen wie einen neuen Fernseher
oder einen neuen PC zu kaufen.
Gekocht wurde auf Sparflamme. Ihre Mom hatte oft Geldsorgen. Daher
mussten sich alle stets mit dem Billigsten zufriedengeben. Wenn ihre Mom kochte, dann oft nur sowas
wie Miracoli. Der Spruch: "Das ist zu teuer, dafür haben wir kein Geld."
bestimmte den Alltag. Zum Einkaufen kam Tamsin daher ungern mit. Was sie
wollte, was immer zu teuer. Wenn sie zwei Sachen wollte, musste sie sich für
eine Entscheiden und die andere wieder weglegen, weil beide zusammen zu teuer
wären.
Dies war der Grund, weshalb Tamsin den gemeinsamen Einkauf zu
hassen anfing. Außerdem wollten ihre Eltern täglich einkaufen. Wütend wurde
Tamsin, wenn die ihr versprachen, heute einmal nicht einkaufen zu gehen, es
dann aber doch Taten. Wollte Tamsin nicht mit in den Laden, weil sie nichts
brauchte oder das, was sie wollte, sowieso zu teuer war, musste sie im Auto
warten. Die dauerte. Ihre Mom hielt nach Angeboten Ausschau, verglich Preise, vergaß
manchmal ein Teil und musste dann nochmal zurück in den Laden, oder ging direkt
in zwei Geschäfte nacheinander, wenn es in einem etwas gab, was in dem anderen
fehlte. Dieser Zeitaufwand ärgerte Tamsin sehr. Es kam vor, dass sie ihre Mom
in den Laden begleitete, nur, damit es schneller ging und um zu drängeln. Tamsin
war dann häufig so wütend, dass sie lautstark durch den Laden rief und
schimpfte. Egal, was andere Leute davon dachten.
Oft musste Tamsin auf schöne Dinge verzichten, weil diese zu teuer waren. Dass ihr
Dad gewinnspielsüchtig ist und sein Geld für Briefmarken und Postkarten
rausgeworfen hat, spielte keine Rolle. Oft hat Tamsin sich darüber
geärgert, weil sie es nicht verstand, dass ihre Mom die Sucht stets guthieß, „weil es sein könnte, dass man ja doch mal etwas gewinnt.“
Dieses Leben war vorbei, als Tamsin ihr Hartz4
bekam.
Die Sachbearbeiterin war nett – im Gegenzug zu den Leuten am
Empfang, die sie ungläubig angestarrt hatten; entsetzt über die junge Frau, die
da plötzlich stand, ohne Akte, ohne Job. "Sie müssen arbeiten!",
hatten die betont. Tamsin hat sich geschämt.
Zu ihrem Glück kam Tamsin 2014 direkt beim ersten Besuch beim JC direkt zu BQOH, eine
Maßnahme, die ihr Leben positiv verändert hat. Mit netten Leuten. „Die Chefin
von dort kam vorher ins JC, um sich vorzustellen. Meine größte Sorge war die
Zeit. Hatte Angst, täglich bis Abends dort sein zu müssen.“
Obwohl sie in Vollzeit eingetragen war, war Tamsin bereits kurz
vor 14 Uhr Zuhause. Aufgrund der morgendlichen Abwechslung konnte sie ihre übrige
Freizeit wieder sinnvoll nutzen, ohne sich zu Tode zu langweilen. „Mir wurden
die wichtigen Dinge im Leben wieder bewusst.“
Nach Feierabend hat ihr Dad zwar immer noch gekocht, aber Tamsin konnte
lernen, die wichtigen Dinge, die sie hat, wieder zu schätzen. Bei BQOH hat sie
gelernt, dass jeder Mensch wertvoll ist. Dass auch sie etwas kann. Dass das
Leben schön sein kann. Und dass es Hoffnung für sie gibt. Auch wenn sie diese
nicht immer gleich erkennt.
Bei BQOH hat Tamsin sich oft mit Wohnungssuche beschäftigt. Sie wollte in der Stadt
wohnen, damit sie alle Geschäfte zu Fuß erreichen kann. Dann könnte sie in
Teilzeit arbeiten, weil sie dabei anders als wie in Vollzeit mit weniger Geld
zurechtkommen würde. In Vollzeit zu arbeiten, nur um ein Auto und unnötigen
Luxus zu finanzieren, ist für sie ein NoGo.
In der Maßnahme kam das erste Mal eine betreute WG zur Sprache.
Die dortige Chefin hat Tamsins Probleme mit den Ängsten schnell erkannt; wusste, dass
Tamsin mehr brauchte, als nur eine eigene Wohnung.
Und so fing alles an.
Der Anfang bei BQOH bereitete
Tamsin nahezu Panik. Zwei Tage zuvor bekam sie Ausschlag, der zwei Tage später
wieder weg war.
Die Eltern brachten sie hin,
ehe sie zwangsläufig lernen musste, mit dem Bus zu fahren. Einige Teilnehmer
hatten sie darin eingewiesen. Aus Angst vor Menschen Kontakt ging sie in den
Verkaufsbereich. Dort fand normaler Unterricht statt. Arbeitsblätter ausfüllen
und mal was vorlesen. Ein anderer Grund für die Wahl dieses Bereiches war ihr
Platz, den sie am ersten Tag direkt neben der Toilette erhalten hat. Die hatte
nämlich Angst, dahin zu gehen, und das hätte sie wohl nicht geschafft, würde
sie am anderen Ende des Gebäudes in einer anderen Gruppe sitzen.
Jeder Tag begann mit Frühsport.
Der durchschnittlich 2 Kilometer lange Weg durch oder um die kleine Stadt hat
ihr am Ende richtig Spaß gemacht. Nicht immer haben sich Menschen mit ihr
unterhalten, dennoch fühlte sie sich dabei wohl.
Ausflüge gab es anfangs
wenige. Während der Sommerzeit vermehrte sich dies. Dies war immer ganz schön.
Küche, Verkauf und Pflege, die drei Gruppen kamen dabei zusammen. Es wurde
immer Kaffee und Brötchen mitgenommen. Manchmal haben wir draußen im Wald
gegessen. Oder anderweitig unterwegs.
Projekte bereitete ihr nach
dem Wechsel in den Pflegebereich große Freude. Dort wurden beispielsweise
Plakate über Pflanzen oder die Elemente erstellt. Hauptsache ich wurde dabei am
Computer gearbeitet, wo sie die einzige war, die sich mit dem Programm
auskannte und den anderen immer alles erklären musste. Diese Projekttage hatten
ihr solche Freude bereitet, dass sie es an einigen Tagen sogar bedauert hat,
früh Feierabend zu haben. Ungefähr 45 Minuten vor Ende der Maßnahme und bevor
auch alle anderen gingen, abgesehen von denen, die auch mit den Bus fuhren,
hatte sie Schluss. Einen späteren Bus, mit dem sie erst nach 14 Uhr zu Hause
gewesen wäre, musste sie nicht nehmen.
Der ein Leiter des
Verkaufsbereich ist war Fotograf. Während der Ausflüge war das Fotografieren
und Filmen erlaubt. Es gab keine Datenschutzbestimmungen. Nach jedem Ausflug
wurden alle gemachten Aufnahmen in einer whatsapp-gruppe miteinander geteilt.
Tamsin hatte während der Maßnahme zwei Fotopräsentationen erstellt, in denen
die Bilder zusammen mit thematisierte Musik vorgeführt wurden. Auch das fanden
alle sehr toll.
Tamsin hatte wirklich Glück,
dass er es diese Maßnahme gab. Dort war sie glücklich. Die Leute dort waren
sehr nett. Alle. Im Pflegebereich herstellt nahezu ein familiäres Klima. Man
hat sich gegenseitig unterstützt. Niemand wurde geärgert oder ausgelacht. Abgesehen
von einer kassiertätigkeit, die eigentlich gar nicht so unangenehm war, weil
nur die anderen Teilnehmer die sich Brötchen kaufen abkassiert werden mussten,
gab es keine unangenehmen Aufgaben.
Bis auf eine kurze Phase, in
der die Chefin in Urlaub war und die Vertretung veranlasste, dass Tamsin den
Bereich wechseln sollte. Im Verkaufsbereich war sie schon. Im Pflegebereich
kennt sie bereits alles. Daher sollte sie in die Küche. Dort hat es ihr
natürlich gar nicht gefallen. Anstatt die ganze Zeit zu setzen, zu schreiben
oder zu zuhören, sollte sie von da an den halben Tag lang stehen. Hilfsarbeiten
in der Küche verrichten. Sachen zuschneiden. Am Kochtopf selbst durfte sie so
gut wie nie stehen, weil sie nicht kochen konnte und niemand ihr dich zugetraut
hat. In der Maßnahme wurde nur einmal wöchentlich gekocht. Der Koch war am
Dienstag da. Tamsin wollte nicht in diesem Bereich bleiben. Wollte keine
Zwiebeln schneiden. Wollte keine Schmerzen vom langen Stehen haben. Die Anleiterin des Küchenbereichs war ein
bisschen streng und zickig. Tamsin hat geweint. Jedenfalls nur, wenn es niemand
sah. Doch anfangs durfte sie nicht zurück in ihren alten Bereich. Erst, als die
Chefin wieder kam und ein Gespräch geführt wurde, wurde sie widerstrebend in
den Pflegebereich zurück gelassen.
Im Sommer wurde ein Grillfest
veranstaltet. Mit spielen und Musik.
Zum Ende der Maßnahme wurde
eine Bootsfahrt in Lübeck veranstaltet. Es gab ein großes Abschlussessen.
2017 – JobB. „JobB
bedeutet Kummer!?“
Da die alte Maßnahme
leider ausgelaufen war und keine Verlängerung mehr stattfand, worüber alle sehr
traurig waren, hatte Tamsin einige Monate Pause gemacht, ehe sie einen
allesverändernden Anruf bekam. JobB – eine neue Maßnahme für Frauen wurde
eröffnet, hieß es.
Zwischendurch war sie
im FAW, einer Werkstatt (1€ Job), die sie nach 2 Wochen wieder verlassen hatte,
weil sie mit den Männern und der Arbeit nicht klar kam.
Bei dem Wort „JobB“ rutschte
ihr Herz ein ganz kleines Stück tiefer, spürte sie bei der Erinnerung an
damals, 2007, wo sie von morgens bis abends in einer JobB-Maßnahme auf den
Beinen war, Schmerzen ertrug und dennoch weiter geschuftet hat. Einzig der
Gedanke, dass dies nach einem Jahr wieder vorbei sein würde, verlieh ihr damals
die Kraft, es zu überstehen. „Ich konnte kaum noch gerade gehen, meine Füße
schmerzen vom ewigen Stehen und Gehen, als würde man mir rostige Nägel
eingehämmert haben. Mein Rücken schmerzte, und die Behauptungen der Anleiter,
ich würde mich noch daran gewöhnen, trieben mir nach Feierabend stets die
Tränen in die Augen.“
Kaum zuhause, muss Tamsin
sich setzen – und da bleibt sie die restlichen drei Stunden des Tages, ehe sie
ins Bett geht. „Ich war so kaputt, dass selbst Duschen zu viel für ich war. Mom
hat sich uns Essen gekümmert, hat alles erledigt, wie Putzen, Einkaufen, Wäsche
und das, wozu Tamsin nur am Wochenende Zeit gehabt hätte – sofern die
Motivation dagewesen wäre, es zu tun. „Ich saß jede freie Minute am Computer.
Da hatte ich keine Schmerzen und konnte mich ablenken.“
Die Furcht, dass ein
derartiges Leben irgendwann zum lebenslangen Alltag werden würde, ist auch
heute noch allgegenwärtig.
„Es fällt mir schwer,
von diesen Gedanken loszukommen. Die Erinnerungen kommen immer wieder hoch.“
Dieses neue JobB war nicht so unerträglich wie 2007, und doch fühlte Tamsin
sich oft, wie in eine alte Zeit zurückversetzt. „Ich muss Dinge tun, die ich nicht
mag und finde keinen Weg, diesem Zwang zu entrinnen. Nachdem es zunächst alles
ganz harmlos war, wir anfangs sogar um 11uhr Feierabend hatten, um uns langsam
an die Steigerung der Arbeitszeit zu gewöhnen und wir nahezu täglich am PC
sitzen konnten, fing Anfang 2018 mit dem Wechsel der Chefin die unangenehme
Phase an: „Ich muss jeden Mittwoch an die Kasse. Es ist laut und stressig, und
der psychische Schmerz ist heute beinahe genauso unerträglich, wie damals der
Körperliche. Dienstags muss ich in die HWI. Was ich selbst möchte, ist egal. Wenn
gesagt wird, ich soll im stehen alle Arbeits-Schuhe von den Schülern putzen, ja,
dann tue ich es.“
Wenn Tamsin am frühen Morgen mit der Toiletten-Runde anfing,
war ihr Tag gelaufen. 13 WCs waren es. Einige waren unnatürlich voll ruiniert, doch
noch schlimmer war der Gestank.
Nach der
Einweisungszeit ließ die Putzfrau sie das immer öfters alleine machen. Tamsin
weiß nicht, ob die derweil anderen Aufgaben nachging, oder eine Pause gemacht
hat.
Seit ihre Chefin
Anfang 2018 ausgewechselt wurde, gibt es dort keine Freude mehr. Keine
Motivation. Kein Tag mehr, an dem sie
mit Freude hingeht. Keine Tätigkeit, die ihr Spaß macht und kaum noch
Computerarbeit.
Angeblich hat das
Jobcenter veranlasst, dass Tamsin diese Arbeiten ausführen muss, um zu
beweisen, dass es ihr wirklich nicht guttut und sie nicht nur sagt, dass sie
das nicht machen möchte, weil sie es nicht will. Und, um zu lernen, dass man
sich nicht nur die schönen Dinge im Leben aussuchen kann. Frau Ti, die allen
Anweisungen und der Bürokratie huldigt, konnte keine Ausnahme machen und Tamsin
von den Aufgaben befreien, selbst, wenn diese mit Tränen in den Augen da stand.
Stand Tamsin wie
betäubt an der Kasse und kassierte die Schüler ab, stand die Frau gerne daneben
und hat Tamsin jedes Mal erahnt, wenn Tamsin die Leute nicht begrüßt oder Danke
gesagt hat. Für Frau Ti war das ein Spaß. Es würde Tamsin guttun, meinte die
lachend. Ja.
Es war laut. Alle
haben durcheinander geschrien. Die Stimmen der Kunden waren kaum zu verstehen.
Anschließend mussten
die Getränke zurück in den verschlossenen Raum und der Speisesaal gereinigt
werden. Tamsin fand es stets unangenehm, die klebrigen Essensreste vom Boden
und den Tischen zu wischen.
„Es gab Zeiten da
saßen wir Wochenlang nur im EDV Raum.“ In Vollzeit war das recht ermüdend, aber
immer noch angenehmer als die Kassentätigkeit. „Ich fühle, wie es mich
verändert. Ich bin leicht reizbar, dauerhaft frustriert und verzweifelt und
depressiv. Wenn ich die langen Flure fegen muss und merke, wie mir der Schmerz
in den Sohlen aufsteigt und denke, dass ich abends nach Feierabend müde ins
Bett falle, komme ich mir vor, wie in eine alte Zeit zurückversetzt.“ Das
Schicksal ist wie ein Boomerang, der immer wieder zu mir zurückkommt. „Es gibt
gute Zeiten, doch die schlechten kommen immer wieder zurück, schlagen auf mich
ein und treffen mich da, wo es wehtut.“
Als Tamsin
zwischendurch in die WG einzog, bekam sie jeden Montag frei, um an den dortigen
Kochgruppen teilnehmen zu können. Freitags musste sie nach dem WG Frühstück
los. Die alte Chefin sagte, es nur am Anfang zur Eingewöhnung so, die neue Chefin
meinte dann, sie könne auch diesen Tag frei nehmen, da es sich nicht lohnte,
für 2 Stunden hinzukommen.
Plötzlich war die
auch wieder weg.
Erst gegen Mitte 2018
fing die Maßnahme an, ihr wahre Freude zu bereiten. Sie durfte am PC
Geschichten schreiben. Alle Leute waren davon begeistert. Tamsin bekam Teilzeit,
durfte nun immer eine Stunde früher heim. Zusammen mit den übrigen beiden
freien Wochentagen war dies recht entspannend. Die neuen Anleiter waren nett
und es gab kaum noch üble Zwänge. Nervig war nur der lange Weg dorthin und
zurück.
Anfangs hat Tamsin
geweint, nach JOBB zu müssen. Am Ende hat sie fast geweint, weil sie es
nichtmehr durfte. „Ich durfte Geschichten schreiben, die dann der Gruppe
vorgelesen wurden.“ Das war schön! Ich bekam Lob und Anerkennung. Habe mich
nützlich gefühlt.
Ende 2017 – Tamsins
Auszug
Anfang 2016, als Tamsin zu JOBB kam, hat sie von dem Thema „Auszug in eine WG“ berichtet.
Ihre neue Chefin tat alles, um sie in der Sache zu unterstützen und
den Auszug zu beschleunigen. Hat mit ihr diverse WGs besichtigt.
Eine neue Stadt kam für Tamsin nie in Frage. So weit weg von den Eltern. … "Ich habe mir 3 WGs in
verschiedenen Städten angeschaut. Eine sogar in Lübeck." Als sie dort das
gemeinsame Badezimmer sah, schwand ihre Begeisterung. Sich ein WC mit anderen
zu teilen – mit Fremden? Überall lag Wäsche herum, es war unordentlich... das
war schier unerträglich.
Letztlich war ihr Bedürfnis nach Freiheit größer als diese Sorgen.
Tamsin
hat sich für eine neue Stadt entschieden, weil dort eher ein Platz frei werden
würde. Tamsin tat es, weil sie einfach raus wollte, egal wohin. Davor hatte sie
Angst, aber letztlich ist diese neue Stadt viel schöner, als das tote Kaff, in
dem sie ihre Kindheit verbracht hatte - mit leerstehenden Passagen und
schlechten Geschäften. Das modernste dort ist McDonalds.
Am 4.10.17 nahm Tamsins Leben eine ereignisreiche Wende: Sie erfüllte
sich ein Wunsch, von dem sie seit Jahren träumte: Sie konnte das Elternhaus
verlassen!
Tamsin zieht in eine psychosoziale WG, weg
von ihren Eltern. Von nun an muss sie ihr Leben alleine meistern. Von diesem Tag an war sie auf
sich alleingestellt. Musste alles, was ihre Eltern stets für sie taten, alleine
erledigen – was ihr aufgrund ihrer Ängste unmöglich ist.
„Das Haus liegt in einer 30 Min. Autofahrt entfernten Stadt.
Direkt in der Stadtmitte an einem See.“
Ja…
Jeden Tag hatte sie nach Wohnungen geschaut, Anzeigen durchforstet, aber nur
selten eine gefunden, die im Stadtzentrum lag und bezahlbar wäre. Und dann
bekam sie immer nur Absagen. Vielleicht sollte es so sein. Mit ihren Phobien
hätte Tamsin wohl kaum alleine leben können.
Das Leben in der WG
Trotz
anfänglicher Verzweiflung und JOBB hat Tamsin sich dort gut eingefunden. Sie
hat gelernt, alleine einzukaufen und wird langsam mutiger. Da das Haus direkt
im Zentrum liegt, gibt sie der Versuchung in die Geschäfte zu gehen gerne nach.
Das Haus, in das sie einzog, war gut. Dort hat sie ein eigenes
Bad. Und auch die Betreuer erschienen ihr schon damals am nettesten. Offen.
Freundlich. Zusammen mit der Lage des Hauses schien diese WG wie für sie
gemacht.
Ein halbes Jahr nach dem Umzug:
Tamsin fühlt sich
dort wohl. Die Leute sind nett. Bei Gruppengesprächen wird sogar auf die
Ruhigeren Rücksicht genommen. Niemand wird ausgegrenzt. Das gemeinsame Kochen
macht ihr Spaß. Bisher kam es erst einmal vor, dass sie etwas nicht essen
mochte. Blumenkohl. Tamsin hasst auch Zwiebeln, und auch darauf nehmen die anderen Rücksicht. Naja, meistens. Tamsin muss sie
nichtmehr schneiden.
Ein Jahr
später:
Alte Sorgen
schwinden, neue tauchen auf. Einkaufen ist kaum mehr ein Problem. Dafür
Busfahren. Tamsin weint, wenn sie daran denkt, mit dem Bus an fremde Orte zu
fahren. Auch wegen den hohen Kosten. Kann sie sich das auf Dauer leisten?
Freunde hat
sie immer noch keine Gefunden.
Die Diagnose
geht voran.
Anstelle in
eine neue Maßnahme kam Tamsin in die Tagesstätte.
1,5 Jahre
nach dem Umzug:
2018 - Tamsins längster Freund
Dave ist seit
ca. 4 Jahren, wo sie ihm im Internet kennenlernt hat, ihr geheimer Freund. Ihr
Geheimnis. Der Kontakt macht sie Glücklich.
Dave hatte sich schon
früher mit ihr treffen wollen. Aber da Tamsin bei den Eltern gewohnt hat, ging
das nicht. Sie wollte nicht, dass es wie damals mit Rene wird. Dass sie nur auf
die Eltern angewiesen ist, die sie immer hinfahren und abholen, immer dabei sind
und alles wissen wollen. Das hätte sie nicht noch einmal ausgehalten. Also hat
sie ihn verschwiegen. Sie musste mit dem Treffen warten, bis sie ausgezogen
war. Ein Grund, weshalb sie diesen Auszug so schnell wie möglich hinter sich
bringen wollte. Egal wohin. Na ja, egal in was für ein Haus. Der Ort war nicht
egal. Sie wollte immer im Stadtzentrum wohnen. Dieser Wunsch hatte sich Ende
2017 erfüllt.
Dabei hatte sie die
Hoffnung auf diesen Menschen schon einmal gänzlich aufgegeben. Zum einen, weil
er gesagt hatte, dass er Musik macht. Er ist schlank und sieht gut aus. Tamsin
hielt sich für minderwertig gegenüber solchen Menschen. Und auch auf seinen
Bildern erschienen sein Äußeres dem ihren weit überlegen. Tamsin ist etwas
korpulent, arbeitslos und wohnt bei den Eltern. Dazu die Angststörung. Welcher
Mann würde so jemanden schon wollen!?
Für eine ganze Weile
brach der Kontakt ab, was Dave schade fand. Aber Tamsin war sich sehr sicher,
dass sowieso nichts draus werden würde. „Ich ließ den Kontakt abbrechen. Wollte
uns eine Enttäuschung ersparen. Ich dachte, er wäre so ein „cooler“ Typ, der
mit meinen Problemen/Charakter nicht umgehen könnte.“
Erst kurz vor ihrem Umzug
hatte sie beschlossen, wieder mit ihm zu schreiben. Und sich mit ihm zu
treffen. Er war freundlich und die Tatsache, dass er sie in den Jahren, die
sich sie virtuell kannten, nie auf intime Dinge angesprochen hatte, ließ ihn in
einem guten Licht dastehen. Er war anders als die anderen Männer. Günstig war,
dass Tamsin zu dem Zeitpunkt in Lensahn - wo er wohnt - in einer Maßnahme war
und täglich kostenlos mit dem Bus dorthin fahren konnte.
„Es kam mir vor, als wäre
er traurig, dass ich ihn so sehr/lange auf Abstand halte. Er mochte mich, weil
wir viele gemeinsame Interessen haben.“ Irgendwann haben sie sich im Sommer das
erste Mal getroffen. Er kam zu Tamsin, in ihre Stadt. Dann sind sie ein bisschen
spazieren gegangen, am Wasser, durch die Stadt und haben geredet. Er wirkte
vertrauenserweckend, sodass sie beschloss, zu sich nach Hause mit ihm zu gehen
und einen Film zu sehen. Dann haben sie Nudeln gekocht; Nudeln gekauft und die
dann in der Küche zubereitet und zusammen gegessen. Er war etwas schüchtern.
Tamsin war nervös. Was würde er von ihr halten?
Am Ende sagte er, dass es
ihm gefallen hat und er sie gerne wiedersehen würde. Das hat Tamsin gefreut.
Auch ein zweites Treffen
gab es. In seiner Stadt. Am Teich im Stadtpark. Saßen auf einer Bank, haben Bier
getrunken, ein bisschen gegessen und geredet.
Inzwischen kennen Sie
sich in der Wirklichkeit über ein Jahr und alles wirkt harmonisch. Das Gefühl,
das es da draußen einen Menschen gibt, der sie mag, erheitert sie. Gleichzeitig
macht es sie traurig. Traurig vor Glück?
Tamsin hofft, dass mehr
daraus werden wird. Dass ich ihr Leben endlich zum Guten wendet. Ihr Wunsch ist
es, irgendwann mit jemanden, vielleicht mit ihm, zusammenzuziehen. Mit jemanden
zusammen zu leben, der nett ist und sie so mag wie sie ist. Nebenbei eine gute
Arbeitsstelle finden. Eine, an der sie Freude hat. Wo sie nicht in Vollzeit bis
abends bleiben muss, damit sie auch noch Zeit zum Leben hat. Zeit, das Leben zu
genießen. Und dabei trotzdem unabhängig ist. Ihr eigenes Geld verdient. So
viel, dass es zum Leben reicht. Sie würde dafür auch auf ein Auto und andere
teure Sachen verzichten, wenn dies mehr freie glückliche Lebenszeit bedeutet.
Irgendwann mag sie auch
ein Kind haben. Und für das will sie auch Zeit haben. Sie würde es nicht in
einen Kindergarten abschieben, wo andere es erziehen und es von anderen Kindern
womöglich geärgert wird. Und abends müde heimkommen – und zu müde zu sein, sich
mit ihm zu beschäftigen.
Trotz der Harmonie plagen
Tamsin zwischendurch Zweifel, ob er wirklich der Richtige für sie wäre. Sicher,
sie ist froh, dass es einen Menschen gibt, der sie wirklich gernhat. Aber…
Die Zukunft ist ungewiss.
Dann ist (war) da auch
noch Don.
Auch den kennt sie
beinahe vier Jahre übers Internet. Angeblich sei er in sie verliebt und wolle
sie unbedingt treffen, sie heiraten. Weil die Entfernung doch etwas größer ist
und es daher so schwierig zum Treffen kommt, meinte er, dass man sich direkt
eine gemeinsame Wohnung suchen kann und sich weiter kennenlernen kann, wenn man
zusammenwohnt. Jemanden heiraten, die man ausschließlich über den Computer
kennt und er zweimal gesehen hat. Der aufdringlich ist und sehr nervig sein kann?
Tamsin kann den Kontakt
jedoch nicht abbrechen. Auch wenn sie weiß, dass es falsch ist, zwei Männer in
ihrem Leben zu haben. Zwar ist sie mit ihm nicht zusammen und will das auch
nicht, aber er will es und glaubt, dass es so ist, und das ist falsch.
Manchmal stützt sie sogar
ihre letzte Hoffnung auf ihn. Wenn es mit Dave nichts wird und höhere Mächte
sie irgendwann zwingen, das genormte Standard-Leben der Menschheit zu führen, welches
nur aus Arbeit essen und schlafen besteht. Vollzeit. In einem Job der
anstrengend und schmerzhaft ist. In einer Fabrik, wo man täglich 8 Stunden
stehen muss. Oder in einer
Behindertenwerkstatt. Ewiges Unglücklichsein wie in der Maßnahme 2007. Ja, dann
denkt sie, dass sie zu ihm flüchten kann. Sie könnte ihn heiraten. Dann wäre
sie nicht mehr allein und müsste nicht dieses elende Leben führen. Auch wenn er
sich für sie sogar die Haare lang wachsen lässt, weil sie sowas mag, weiß sie
nicht, ob sie mit ihm glücklich werden könnte. Er ist aufdringlich. Oft gibt es
Streit.
2019 stellte sich dann
heraus, dass alle seine Versprechen gelogen waren. Er wäre nie der perfekte
Mann mit den langen Haaren, der alle ihre Träume wahr werden lassen kann. Er
wollte lediglich eine Frau fürs Bett. Na ja, vielleicht wollte er wirklich
heiraten und eine Familie gründen, aber um das zu kriegen, hätte er ihr sogar
das Blau vom Himmel versprochen!
Gut, dass Tamsin sich
rechtzeitig von ihm lösen konnte.
2019 – Tagestätte und Therapie
Ende 2018 ging
Tamsin nach JOBB in die Tagestätte über. Dort soll sie den sozialen Kontakt mit
Menschen erlernen. Dies fällt ihr sehr schwer, vor allem, weil dort viele Leute
sind, die Tamsin aufgrund ihrer Zurückhaltung wenig Beachtung schenken.
Zwischendurch
fährt sie mit dem Zug nach Lübeck zur Diagnostik. Ihre aktuellen Diagnosen sind
nicht mehr sonderlich zutreffend. Erst, wenn man genau weiß, was mit Tamsin los
ist, kann ihr geholfen werden. Anfangs hatte ihre Betreuerin sie nach Lübeck
gefahren und dort begleitet. Es dauerte, bis Tamsin sich den Weg mit dem Zug
alleine zugetraut hatte – und das auch nur, weil ihr eine Mitbewohnerin alles
gezeigt und erklärt hatte.
Während ihrer
Tagesstätten Zeiten erlebt Tamsin ein ständiges Auf und Ab von Gefühlen. Mal
ist sie Glücklich. Mal traurig. Dann wieder fröhlich – bis ein einziges
falsches Wort von jemandem ihr erneut Tränen in die Augen treibt. Erlebt hatte
sie diese Gefühlsschwakungen zuerst immer nur, wenn sie mit den Eltern
unterwegs war und diese einkaufen wollten. Das hat immer so lange gedauert und
Tamsin hatte keine Lust, hat im Auto gewartet, während der Zorn in ihr
brodelte. „Es war, als wäre ich ein anderer Mensch.“
Während Jobb
2016 erlebte sie rasche Schwankungen von Freude in trauriger Verzweiflung, als
sie immer wieder im Kiosk arbeiten musste. Diese Stimmungsschwankungen vertieften
sich, als die Maßnahme vorbei war – und das so sehr, dass bereits einfache
Anweisungen von den Betreuern in der TS ausreichten, ihre Stimmung umzukippen. Aufgaben,
die ihr damals keinerlei Probleme bereitet hatten. Tamsin spürt, wie dies sie
beeinträchtigt. „Obwohl ich glücklich sein sollte, jeden Tag ausschlafen zu
können und vor 14 Uhr zuhause bin, muss ich mich ständig über Probleme ärgern,
die eigentlich gar keine sind.“
Mein
Wunschleben – oder nur ein Traum?
Tamsin wünscht sich, das Leben zu leben, das sie sich selbst
vorstellt. Und nicht das Leben, das andere ihr vorschreiben.
Tamsin möchte eine Wohnung im Stadtzentrum. So nahe von allen
Geschäften und Ärzten, dass sie nicht auf Busse angewiesen ist, um dorthin zu
gelangen.
Tamsin sucht einen Job in Teilzeit. Sie will arbeiten, aber sie
will auch noch Leben und nicht regelmäßig abends um 17 Uhr heimkommen, um Müde
ins Bett zu fallen und nur noch an den Wochenenden Zeit für schöne Dinge haben.
So, wie damals 2007, als sie den ganzen Tag putzen musste. Außerdem muss der
Job ihr Leben bereichern und ihr Freude bereiten! Um den geringen Verdienst bei
Teilzeit auszugleichen, würde sie auf ein Auto verzichten - welches sie gar
zwingend nicht bräuchte, würde sie direkt in der Stadtmitte wohnen.
In ihrem Traumleben heiratet Tamsin einen Mann mit langen Haaren.
Ihr Traummann respektiert all ihre Wünsche und zwingt sie nicht, Dinge zu tun,
die sie nicht mag. Er weiß Ordnung zu schätzen und raucht nicht. Reist mit
Tamsin an die Orte, an die sie schon immer wollte. Hat gleiche Interessen wie
sie.
Tamsin hat nichts gegen ein Leben als Hausfrau, in dem sie kocht,
putzt und alles Wichtige erledigt, während der Mann arbeitet.
Diagnose
In ihrer Kindheit war Tamsin sehr ruhig. Weil sie sich nie getraut
hatte mit den anderen Kindern zu sprechen, machte sie in der Grundschule mit
dem Werfen von Stiften durch das Klassenzimmer auf sich aufmerksam. „Ich
erinnere mich daran, dass ich als Kind bei zwei Psychologen war. Die konnten
mir nicht helfen, woraufhin mein Vater beschlossen hatte, dass keiner mir
helfen kann und ich zu keinem mehr hin gehen solle.“
Mit 12 oder 13 war Tamsin bei einer älteren Psychologin. Anfangs
war sie dort gerne. Die Sitzung bestanden daraus, dass Tamsin ihr lustige
Aufnahmen von sich auf MC Kassette vorgespielt hat. „In dem Alter habe ich mich
oft, wie ich singe oder quatsch rede aufgenommen.“ Die Frau fand das gut, und
Tamsin hat das auch Spaß gemacht. „Angeblich wurde diese Therapie dann nach
einigen Monaten beendet, weil ich mit ihr nichtmehr gesprochen habe.“, wurde
damals gesagt. Die Erinnerung ist schwach.
Ein anderer Psychologe war auf Fehmarn. Es begann damit, dass
Tamsin Blut abgenommen wurde. Weil er im Arm keine Vene fand, wurde die Hand genommen.
Mehrmals wurde zugestochen, was Tamsin überaus unangenehm war. Danach war sie
kein zweites Mal dort.
Ratschläge bezüglich Therapie von Lehrerin aus der Schule wurden
vom Vater abgelehnt. Er glaubte, die würden nur wollen, dass Tamsin als
Behindert eingestuft und dann kein normales, selbstbestimmtes Leben mehr führen
könne.
Obwohl Tamsin bereits in früher Kindheit durch ihre
Andersartigkeit auffällig wurde, erhielt sie ihre erste Diagnose erst im Jahre 2015.
Und das auch nur, weil die nötig war, damit Tamsin die betreute WG einziehen
konnte.
Die Diagnose dauerte weniger als 3 Sitzungen und beinhaltete Sozialphobie,
selek. Mutismus und Angststörung. „Der Psychologe wollte die Praxis zeitnah
verlassen, sodass für intensivere Gespräche kaum Zeit war. Letztlich war es
eine Zusammenfassung aus Vermutungen der Betreuerin aus BQOH, dem Arzt und
Google, aus dessen Suchergebnissen ich meine Probleme besagten Störungen
zugeordnet hatte. Am Schluss wurde die Diagnose von der Sprechstundenhilfe
ausgedruckt, weil der Arzt dann schon nichtmehr da war.“
Ende 2017 zog Tamsin in die WG ein. Der dortigen Betreuerin fiel
auf, dass die angegebenen Diagnosen nicht so recht mit Tamsins Verhalten
übereinstimmten und veranlasste eine erneute Diagnose bei einer Ärztin in
Lübeck. Diese dauerte ein ganzes Jahr aufgrund der Wartezeiten zwischen den
freien Terminen. In dieser Zeit lernte Tamsin, alleine mit dem Zug dorthin zu
fahren, was anfangs undenkbar war.
Eine ganze Weile wusste Tamsin nicht, wie es mit ihr weitergehen
würde. Auch das Jobcenter brauchte die Diagnosen.
Tamsins virtuelle Persönlichkeiten - Ein moralfreies Fakeleben?
Jeeze, Jum und Hanabi
Tamsin kennt nicht viele Personen. Diese Wenigen kennen jedoch viele
Persönlichkeiten von Tamsin.
Das alles begann im Jahre 2006.
Tamsin war in einem Chat im Internet aktiv. Erst hatte sie dort
einen Namen. Doch da sie nie von einer Sache genug haben kann, erstellte sie
sich bereits nach kurzer Zeit mehrere Chatnamen (Im Laufe der Jahre wurden es
300).
Anfangs hielt sie es für selbstverständlich, dass alle Menschen
sie trotz anderer Namen am Schreibstil erkannten. Bis jemand eines Tages ihre
verschiedenen Namen für verschiedene Personen hielt – und Tamsin ebenso so
behandelt wurde.
Tamsin hatte beschlossen, die Sache nicht aufzuklären. Nicht zu
erzählen, dass die Namen, welche für verschiedene Personen gehalten wurden, alle
ihr gehörten. „Plötzlich gefiel es mir.“
Langsam entwickelte Tamsin für ihre verschiedenen Namen
unterschiedliche Persönlichkeiten, die wie Charakteren in einem Buch
unterschiedlich im Chat auftraten. Wahrscheinlich als Sicherheitsmaßnahme,
damit trotz gleicher Altersangaben niemand durchschaute, dass alle Namen dieselbe
Person waren. Jeeze war vulgär und albern. Jum war ernst und gewissenhaft.
Hinata stets überfreundlich. Tini verhielt sich süß und lieb. Neji eingebildet,
arrogant.
Manchmal waren alle diese Persönlichkeiten mit ein und denselben
Menschen befreundet. „Wenn Jeeze zu jemandem gemein war, kam Tini um zu
trösten.“
Einige wenige durchschaute dieses Spiel, doch es gelang ihr immer,
diese Leute von ihren „Freunden“ fernzuhalten.
Es war normal. Selbstverständlich. Nie hätte Tamsin sich etwas
dabei gedacht.
Nur einmal packte sie das schlechte Gewissen. „Da war Rin, eine
gute Freundin von Jum. Die war wirklich nett. Sozusagen meine beste Freundin.
Allerdings konnte sie Jeeze nicht ausstehen. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie
hätte mich durchschaut. Daher hatte ich beschlossen, ihr eines Tages die
Wahrheit zu sagen. Ich wollte ehrlich sein, nicht mehr lügen. Und ich wollte,
dass sie Jeeze mag. Dies ging allerdings nach hinten los. Rin war entsetzt. Hat
von da an nie wieder mit mir gesprochen. Danach hatte ich beschlossen, nie
wieder ehrlich in dieser Sache zu sein! Nie wieder sollte jemand derartig
dunkle Geheimnisse erfahren!“
Tamsin war traurig, diese gute Freundin verloren zu haben.
Dann war da noch Steffi, eine gute Chatfreundin. Die wohnte auf
Fehmarn und hatte Tamsin (Jum) an ihrem 18. Geburtstag besucht. „Es war
ungewohnt, als sie plötzlich bei mir war. Auch die Eltern waren erstaunt.
Steffi hatte Sake und ein gemaltes Bild mitgebracht. Ich war so ängstlich, dass
ich kaum gesprochen habe. Sie hat viel erzählt. Anfangs war ich beschämt über
die Lügen; die daraus bestanden, dass ihre anderen Chatfreunde, über die wir
uns auch unterhalten haben, in Wahrheit alle ich war. Naja, die meisten. Doch
je länger sie davon erzählt und es geglaubt hatte, umso normaler wurde es auch
für mich über diese „Leute“ zu reden, als wären es wirklich andere Personen.“
Tamsin hatte es nie leicht, Freunde zu finden. Sobald sie Menschen
fand, die sie kennenlernte und die sich mit ihr anfreundeten, holte sie ihre
anderen Persönlichkeiten dazu. Wusste, wie die Menschen reagierten. Konnte
schreiben, was denen gefiel, um gezielt eine Freundschaft aufzubauen. „Wenn ich
mit 5 verschiedenen Namen/Persönlichkeiten mit einem Menschen schreibe, ist das
genauso „spannend und unterhaltsam“, als würde ich als Einzelne mit 5
verschiedenen Leuten schreiben.
Dabei hatte Tamsin nur selten richtige „Fakenamen“ mit falschen
Profilangaben erstellt.
„Paarmal hatte ich mich im Chat als Mann ausgegeben. Mal mit Foto,
mal ohne. Ich habe mit Frauen geschrieben, die sich in mich verliebt hatten.“
Zu der Zeit hatte Tamsin keine richtige Chat Freundin mehr, konnte auch keine
finden und wurde nur von Männern angeflirtet. Als sie sich dann selbst als Kerl
ausgegeben hatte, wurde sie plötzlich wieder von Frauen angeschrieben. Die
wollten nicht über Intimes reden, was eine wahre Wohltat war!
„Mit 4 Frauen hatte ich als Kenny und Vincent längere Chat
Beziehungen. Mit Liz, Yori, Misa und Blue.“ Die letzte hatte Tamsin dann von
sich aus beendet, weil die eine Frau einen Admin kannte, welcher ihr im
Vertrauen erzählte, dass Tamsin/Vincent noch weitere weibliche Namen hatte,
woraufhin sie Angst bekam, enttarnt und mit allen Namen gesperrt zu werden. Schnell
hatte sie es beendet und den Männernamen löschen lassen. Der Kontakt zu Blue
war dann weg, worüber diese auch traurig war, da sie Vincent geliebt hatte.
Mehr als 10 Jahre später empfindet Tamsin keinerlei Scham mehr. Zwar
erstellt sie sich keine Fakenamen mit falschen Angaben mehr, dennoch ist sie im
Besitz mehrerer fiktiver virtueller Persönlichkeiten.
Eine davon entstand ungewollt durch Don. „Don hatte mich bedrängt,
darum erschuf ich Tina, die mich von ihm fernhielt.“ Als Ausrede, dass Tamsin
keine Lust hatte, sich mit Don zu treffen und mehr, behauptete sie mit Tina
unterwegs zu sein und deshalb keine Zeit zu haben. Tina schrieb mit Don, ärgerte
ihn, was unterhaltsamer war, als sich mit dem Kerl dutzende Male am Tag über ihre
Ablehnung intimer Gesprächsthemen zu streiten. Für ihn war Tina real.
„Heute ist es für mich wie ein Spiel, in dem ich in der Rolle
eines anderen stecke. Ich kann sein, wer ich nicht bin. In der virtuellen Welt
kann ich schön sein. Mutig. Albern. Arrogant. Alles, wozu ich mich in der
Realität nicht traue.“
Jedoch versucht Tamsin auch, das Finden von Freunden unter Fakeangaben
zu vermeiden und lieber mit ihrem wahren Ich in Erscheinung zu treten. Denn nur
dann kann sie wahre Freunde finden. Telefonieren, treffen.
Dies klappt jedoch noch nicht so gut. „Wenn ich ich selbst bin,
bin ich schüchtern. Langweilig. Ängstlich.“
Tina, Karina und Tom.
2019 entstand Karina.
Durch Karinas Entstehung lernte Tamsin Tom kennen. Karina sollte
Dons Traumfrau sein. Erschaffen, um ihn so zu verletzen, wie Don damals Tamsin
verletzt hatte. „Ich dachte, er wollte mein Freund sein. Weil ich keine
Beziehung wollte, hat er über mich Lügen erzählt und wollte mir ein schlechtes
Gewissen einreden. Ich hätte ihn bewusst verarscht. Aber das stimmte nicht.
Tamsin war ehrlich zu ihm.“
Um es ihm heimzuzahlen, erschuf Tamsin die Illusion seiner
Traumfrau, die ihm alle seine Wünsche erfüllen sollte. Er hatte sich in sie
verliebt. Ein Leben mit ihr geplant. Und dann kam die für ihn schmerzhafte
Trennung. „Es hatte mir Spaß gemacht, Karina zu sein. Ich wusste immer genau,
was ich sagen musste, um ihn glücklich zu machen.“
Als Don die Nacht draußen in ihrem Dorf verbracht hatte, weil er
sie besuchen wollte – Karina konnte ihn nicht abholen weil sie Aids hat und einen
Zusammenbruch hatte, - begegnete er Tom. Bei ihm konnte Don sein leeres Handy
kurz aufladen und Kaffee trinken. Dabei lernte Tom Karina kennen, und Tina,
über die Don sich ständig beschwert hatte, weil sie seine Beziehungen – zu Tamsin
und Karina - zerstört.
Im Laufe des Geschehens, als Don und Tom öfters miteinander
Telefoniert und er auch durch Tina langsam erfahren hatte, wie mies Don in
Wahrheit ist, verliebte der sich in Karina. Karina war lieb, schwach und
bedürftig nach Zuneigung.
Nachdem Don aus Wut alle Kontakte abgebrochen hatte, schrieben
Tina, Karina und Tamsin weiterhin regelmäßig mit Tom. Mit dem konnte man sich
gut unterhalten.
Tamsin erkannte, dass er trotz des hohen Altersunterschiedes
vielleicht ein guter Freund sein könnte. „Er hatte uns drei zum Bootfahren
eingeladen. Und zum Essengehen.“
Weil sie ihn nicht absichtlich verletzten wollte, die Wahrheit
aber auch nicht erzählen konnte, zog Karina nach der Trennung von Don nach
Büsum. Weit weg. „So musste ich keine Ausreden mehr erfinden, warum sie sich
nicht mit ihm treffen kann.“
Die direkte Art von Tina gefiel ihm sehr. „Oft war ich traurig,
dass es Tina, meine beste Freundin, nicht wirklich gibt!“ Tina muss viel
arbeiten, und als Ausrede gegen ein Treffen erfand Tamsin, dass Tina nach
Lübeck ziehen würde. Dabei hat Tina versucht, es so hinzudrehen, dass er sich
mehr mit Tamsin anfreundet. Denn die kann sich mit ihm treffen. Etwas
unternehmen.
Tamsin sehnt sich so sehr danach nicht mehr alleine zu sein, dass sie
keine moralischen Grenzen mehr kennt.
Da Karina gegenüber Don verletzlich und schwach erschien, hatte er
sich in sie verliebt. Zwar hat diese das nicht erwidert, konnte die Sache trotz
einiger Bedenken, wie sehr es ihn verletzen würde, wenn er herausfindet, dass
sie gar keine reale Person ist, nicht beenden. Immer hat er sich gefreut, wenn
sie online kam und sich mit ihm unterhalten hatte. Er träumt davon, sie eines
Tages zu treffen – und mehr. Sie genießt das Gefühl, von einem Menschen
„geliebt“ zu werden. Auch, wenn es nicht Tamsin ist, die er liebt und sich
alles nur auf virtueller Basis abspielt. „Es ist wie ein Rollenspiel, bei dem
man in verschiedene Charaktere schlüpft.“, findet Tamsin.
Niemals würde sie die Wahrheit offenbaren. Nicht nur, weil es ihn sehr
verletzen würde, da diese ganzen fiktiven Freundschaften im Grunde nur eine
große Lüge sind, sondern auch, weil Tamsin dann wieder alleine wäre. Ohne
jemanden, mit dem sie jeden Tag ganz lange und viel schreiben kann. „Dann hätte
ich wirklich ein schlechtes Gewissen. Würde mich mies fühlen.“
Eines Tages hatte er ein CB Funkgerät besorgt. Tina hatte ihn
darauf angesprochen, woraufhin er zu einer Oma gefahren ist, die von ihren Mann
dutzende solcher Geräte im Keller liegen hatte. Tatsächlich hatte er ein
funktionsfähiges Gerät gefunden. Dies wollte er Tamsin vorbei bringen. Tamsins
Bedenken darüber, dass sie eigentlich eine Lügnerin ist und ihm nur eine Show
Vorspielt – wobei sie es nicht macht um ihn bewusst zu verletzen - halten sich in Grenzen. Zudem wollte sie
schon immer so ein Gerät haben. Ihre Eltern waren immer dagegen. Nun lebt sie
alleine und kann sich kaufen, was sie will. „Ein schlechtes Gewissen habe ich
nur, weil er kein Geld dafür wollte. Dann wäre es ein normaler Handel. Ein Geschäft.“