Freitag, 23. September 2016

„Ich will kein schlechter Mensch sein!“

 
> „Oh, Tamsin! Was veranlasst dich zu glauben, du wärst schlecht?“

„Weil ich ständig dunkle, böse Gedanken habe. Und das schon seit er Kindheit. Eigentlich wünsche ich niemandem etwas Schlechtes und ich will nicht, dass diese Gedanken kommen, aber ich selbst erwische mich immer wieder, wie ich mir in verschiedenen Situationen das Schlimmste vorstelle. Wie anderen Menschen Schlechtes wiederfährt. Dass es niemandem bessergehen soll, als mir. Ich bin manipulativ“

> „Wie genau sieht das aus?

-Sehe ich jemandem eine schwere Einkaufstasche ins Haus tragen, stelle ich mir oft vor, wie die Griffe reißen und alle Einkäufe auf die Straße fliegen und überfahren werden. Sehe ich, dass die Tasche kurz vorm reißen ist, sage ich nichts, sondern spüre, wie es mir in den Fingern juckt, mein Handy zu zücken, auf das Unglück zu warten und es zu filmen.
-Gehe ich mit Leuten aus der Arbeitsgruppe einkaufen und weiß, dass wir danach gemeinsam die Taschen tragen müssen, packe ich bei den anderen immer mehr ein als bei mir. Würde ich mitkriegen, dass jemandem etwas aus der vollen Tasche fällt, kann ich ihn nicht warnen, sondern ignoriere es und ergötze mich später daran, wie er sich, sobald es ihm auffällt, darüber ärgert. Im Circus oder sonstigen Aufführungen muss ich mir unwillkürlich immer vorstellen, wie Vorführungen scheitern und Unfälle aussehen.
-Wischt in der Kochgruppe jemand nach dem Kochen den Ofen ab, stelle ich mir vor, was passiert, wenn er noch an wäre und er sich die Hände verbrennt, oder der Lappen oder die langen Haare, die über den noch heißen Platten hängen, Feuer fangen.
Vergisst jemand die offene Milch zu verschließen, ignoriere ich sie, auch wenn ich weiß, dass sie noch fast voll ist und später noch gebraucht wird, und der Deckel danebenliegt. Dann steht sie da paar Tage und alle ärgern sich.
-Braucht jemand aus der Arbeitsgruppe Hilfe bei etwas, schaue ich weg, als würde ich es nicht bemerken.
-Fällt jemandem etwas in meiner Nähe runter, tue ich oft so, als hätte ich es nicht gesehen, damit ich es nicht aufheben muss.
-Sehe ich, dass jemand traurig ist oder Probleme hat, schaue ich weg. Hoffe, die Person merkt nicht, dass ich ihren Kummer bemerkt habe. Ziehe mich zurück, wenn möglich. Tue so, als wäre ich mit anderen Dingen beschäftigt, damit ich mich nicht um sie kümmern muss.
-Einmal hatte eine Kollegin, die täglich Häkelt, ihre Häkelnadel nicht gefunden. Ich fand es spannend, zuzusehen, wie sie in ihrer Tasche danach gesucht hat. Habe mich sogar gefreut und darüber nachgedacht, was sie wohl macht, wenn sie ihrer einzigen, geliebten Beschäftigung nicht nachgehen kann. Als sie die Nadel dann doch noch erleichtert gefunden hat, war ich enttäuscht.
-Sehe ich, das der Stuhl, auf dem gerade jemand steigt, um etwas ins oberste Regal zu legen, schon sehr wackelig ist, trete ich zurück, anstatt ihn zu warnen und kann nicht anders als mir vorzustellen, wie der Stuhl zusammenbricht. Selbst wenn ich die Person mag.
-Arbeiten wir am Computer, tue ich sogar manchmal kleine Probleme verursachen, damit andere Leute später zu mir kommen und ich das Problem dann für sie lösen kann – alle hier wissen, dass ich mich mit Computerproblemen auskenne und die immer lösen kann. Ich fühle mich gut, wenn andere danach dankend vor mir auf die Knie fallen, weil sie das Problem ohne meine Hilfe niemals alleine gelöst hätten. Würde ich sehen, dass jemand aus der Gruppe seinen Monitor zu nahe an die Tischkante geschoben hat, schweige ich und warte gespannt darauf, dass er runterfällt und kaputtgeht. Oder lässt jemand sein Handy draußen liegen und es fängt an zu regnen, drehe ich mich vom Fenster weg und freue mich, wenn der Besitzer später zu mir kommt und meinen Rat sucht, ob man da noch was reparieren kann… Auch Leuten die ich mag und die sehr hilfsbereit sind, lüge ich offen ins Gesicht. Sie opfern dann ihre Zeit für mich, um mir bei den Aufgaben zu helfen, und dass andere Kollegen dadurch vernachlässigt werden, ist mir egal.
-Als ein Bekannter ein Treffen absagen musste zu dem ich bereits erschienen war, weil er sich schwer verletzt hatte und zum Arzt musste, war alles, was mich interessierte, wann der nächste Bus nachhause fährt und der Ärger, umsonst Zeit und Geld für die Fahrkarte aufgeopfert zu haben. Ich habe 4 Jahre lang nach einer Wohnung gesucht, bekam aber immer nur Absagen. Dann fing ein Bekannter auch zu Suchen an und fand/bekam bereist nach 2 Monaten eine! Ich habe später geweint und die Person gehasst, war eifersüchtig, weil ich selbst nie Glück habe. Einmal wurde der Arbeitslohn verteilt. Die Chefin gab mir das Geld schon früher, und später kam ihr Mann, der mir meinen Lohn ebenfalls geben wollte, weil er davon noch nichts wusste. Anstatt dies zu erklären, nahm ich das Geld einfach und freute mich über den doppelten Lohn. Ja, das ist falsch. Aber ich tat es. Warum…!? Ich weiß es nicht! Es direkt am Anfang aufzuklären hat sich falsch angefühlt. (Später ist dies dann aufgefallen, aber ich konnte selbst dann einfach keine Scham verspüren) Auch, wenn meiner Chefin der mitgebrachte Kuchen aus der Hand fällt, weil ich ihr nicht die Tür aufgehalten habe, kann ich nur an mich selbst denken. Anstatt zu helfen überlege ich, was ich später im Fernsehen schaue, oder überlege, welcher Platz am Tisch der Beste ist und von wo aus ich die Kekse am ehesten erreichen kann. Alles andere kümmert mich einfach nicht.
-Einmal konnten wir unbeaufsichtigt im Holzbereich etwas bauen. Im vorderen Bereich waren die Plätze für eine morgige Prüfung vorbereitet. Eine Frau lieh sich dort eine Säge aus, weil die anderen alle stumpf waren. Ich habe dies ebenfalls gemacht, jedoch habe ich sie danach nicht wieder zurückgelegt. Ich habe mir vorgestellt, dass ein schüchterner Mensch diesen Platz ohne Säge bekommt, sich nicht traut das zu sagen und die Prüfung deswegen vermasselt. Oft habe ich daran gedacht, sie doch zurückzubringen und hätte viele Chancen gehabt. Meine Schadenfreude ist wie ein Dämon, der mich beherrscht. Vielleicht sah ich es auch als eine Art Genugtuung dafür, dass demnächst Toilettenputzen auf meinem Plan stand.“

> „Wie ungezogen von dir, Tamsin!“

„Als Kind habe ich viele Streiche gespielt. Heftige Sachen, wie fremde Fahrräder mit alten Schlossern abschließen und dann die Schlüssel wegzuwerfen. Kamen die wütenden Besitzer deswegen zu spät zur Arbeit; standen wütend im Keller und haben versucht, das Schloss mit der Zange zu entfernen, hat mich das amüsiert. In der Grundschule habe ich ständig den Mitschülern, die sich gerade hinsetzen wollten, die Stühle weggezogen, sodass sie sich danebensetzen und hinfielen… Die Lehrerin war dann böse, aber ich habe nur gelacht.“

> „Das ist traurig.“

„Sowas wie echtes Mitgefühl von anderen habe ich erst im Arbeitsleben erfahren. Es macht mich glücklich, wenn andere nett zu mir sind und ihr Essen einfach ohne Hintergedanken mit mir teilen, aber anders denken kann ich dennoch nicht. Wird zB in der Gruppe Geld für ein Geburtstagsgeschenk gesammelt, stecke ich gerne mal nur 1 Cent in die Dose und tue dann später so, als wäre der nicht von mir. Die anderen ärgern sich und meinen, wenn man schon nichts geben mag, kann man’s ruhig sagen. Das jedoch traue ich mich nicht; ich will nicht geizig erscheinen und wenn die Dose mal in der Gruppe rumgegeben wird, stecke ich mehrere Centstücke rein, damit es sich nach Viel anhört. Ich liebe es, wenn andere sich mitleidig um mich sorgen, wenn mir mal etwas Übles passiert, oder es mir schlecht geht. Dann fühle ich mich nicht so allein. Ich selbst würde niemals jemanden mutwillig ernsthaft Schaden zufügen! Als Kind waren es dumme Streiche, die ich schon lange nichtmehr tätige. Ich bin in Gegenwart anderer Menschen immer schüchtern, zurückhaltend, beinahe krankhaft ängstlich. Aber diese schadenfrohen Vorstellungen kommen einfach. Immer wieder. Unwillkürlich.“

> „Hmmm…“

„Viele Mitmenschen halten mich dennoch für liebenswürdig und nett. Sie wissen, dass ich schüchtern bin, aber auch gerne helfe. Auch wegen der Schüchternheit habe ich oft nicht den Mut, den Mund aufzumachen und jemandem von mir aus zu helfen. Immer warte ich, bis andere zu mir kommen. Niemand weiß von meinen schändlichen Gedanken. Ich weiß nicht, wie ich sie loswerden kann.“


„Im Grunde hasse ich Lügen. Ich hasse es, wenn jemand mich anlügt. Vor allem, wenn es solche Lügen sind, die man sofort durchschaut! Dabei fühle ich mich schlecht, würde ich jemanden grundlos anlügen.
Daher finde ich es gerecht, jemandem, der mich angelogen hat, ebenfalls eine Lüge aufzutischen. Egal, wie nett die Person sonst ist. Oder, ob sie es gar nicht böse gemeint hat.“

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