Freitag, 30. September 2016

Tamsins Lebensgeschichte







 
Kindheit: Kindergarten:

Einige Erinnerungen an den Kindergarten sind Tamsin bis heute noch erhalten geblieben. "Einmal haben alle dort geschlafen. Uns wurde eine Geschichte vorgelesen, während wir schon im Bett lagen und wir mussten dabei Tierlaute nachmachen. Ich hatte keine Lust darauf und bin wohl als erste Eingeschlafen.
Das Rollerfahren mochte ich auch nie. Einmal gab es so einen Wettspieltag, wo jedes Kind verschiedene Aufgaben bewältigen musste. Auch war ein Rollerrennen dabei. Ich dachte, es wäre Zwang da mitzumachen und bin mit dem Roller eine Runde gefahren. Später gab es Geschenke - ich bekam meine erste Schultüte. Gehört habe ich gerne Kassetten von Regina Regenbogen. Im Kindergarten war so eine Plattform (mit Rutsche), auf der man drauf rumlaufen konnte. Ich habe dort gerne gespielt und so getan, als wäre das Reginas bunter Welt.“
Eine andere Kernerinnerung ist weniger Berauschend. Tamsin glaubt sich daran zu erinnern, wie ein anderes Kind sie einmal in den Hals gekniffen und hinter sich hergezogen hat. "Ich saß dann alleine am Tisch und habe geweint, bis Dad kam und mich abgeholt hat." Tamsin glaubt, dass dies der Auslöser war, der sie zu dem gemacht hat, was sie bis heute noch ist. Schüchtern. Ängstlich. "Ich glaube, von da an habe ich die anderen Kinder nicht mehr so gesehen, wie vorher."

Einmal kam der Weihnachtsmann, der ihr einen Arztkoffer schenkte. Darüber hatte sie sich gefreut.
Irgendwann, sie erinnert sich nicht an den Grund, hat sie ein anderes Kind angespuckt. Fand das lustig. Bis sie Ärger bekam und es wieder abwischen musste.
Tamsin hatte eine Freundin: Caro. Mit der hat sie oft gespielt. Während die Gruppe einmal im Kreis saß und etwas gemacht hat, hat sie sich zusammen mit Caro hinter einer Raumtrennung versteckt und kichernd zugesehen.
Soweit sie sich erinnert, war sie damals in der Apfel-Gruppe. Es gab aber auch noch die Panda Gruppe. Dort war ein Junge (Pit sein Name), der sie oft geärgert und vor dem sie immer Angst gehabt hatte.
Als Fasching war, hat ihre Mom ihr einen blauen Umhang mit bunten Federn genäht.

Tamsins Kindheit war weder super gut, noch besonders schlecht.
Während sie anfangs viele angenehme Zeiten bei ihrer Oma verbracht hat - singen, im Garten Raupen vom Grünkohl sammeln und Schallplatten hören - hat sie die Vorschule jedoch verabscheut. Tamsin war ein Außenseiter. Sie stand immer im Abseits. Alleine. Hat sich nie getraut, mal zu den anderen Kindern zu gehen, mit denen zu spielen. Die Betreuer haben nur an ihrem Tisch gesessen und sie ignoriert. „Ich stand einfach nur da, in der Mitte des großen Raumes und tat nichts. Habe den anderen Kindern beim Spielen zugesehen. Wenn mal jemand an mir vorbei wollte, habe ich mir hin und wieder den Spaß erlaubt, den Kindern mit ausgebreiteten Armen den Weg zu versperren. Dann bekam ich Aufmerksamkeit. Bis diese sich beschwert haben und ich damit aufhören musste.“
Hin und wieder bat Tamsin, etwas malen zu dürfen und bekam daraufhin Papier und Stifte. Oft hat sie Nasen gemalt. Und Käse, nach dem Lied „Polognese Blankenese.“ Das fand sie damals echt toll!
Tamsin weiß noch, wie sie ihren Dad einmal gebeten hat, mit ihr in das große Spielhaus zu gehen, weil sie es unbedingt einmal von Innen sehen wollte, sich alleine aber nie reingetraut hatte. Auch in der Kissenecke, wo aus großen Kissen immer Höhlen gebaut wurden, war sie nur ein einziges Mal.
„Ich habe diese Vorschule beim Kinderschutzbund gehasst! Sehr. Nie wollte ich dahin. Einmal, gerade, als Dad mich hingebracht hat und wieder nach Hause fahren wollte, habe ich gesagt, ich müsste auf Klo und wollte dort nicht gehen, sodass er mich wieder mit nach Hause genommen hat, damit ich dort gehen konnte. Ich war erleichtert und froh - und habe geweint, als er mich danach genommen und doch wieder zurückgebracht hat.“
Im wöchentlichen Musikunterricht haben die anderen Kinder sich oft beschwert, weil Tamsin unabsichtlich komische Geräusche mit der Nase gemacht hat. Manchmal hatte sie Kindern, die sich neben ihr hinsetzen wollten, einfach den Stuhl weggezogen, weil sie es lustig fand, wenn die sich dann danebensetzen.
Der schönste Moment dort war, als Tamsin sich ein Xylophon ausleihen durfte, um zuhause zu üben, weil sie das mit den Noten nie kapiert hat. Später durfte sie vorspielen, was sie gelernt hat.

Irgendwann nach dieser Vorschule war Tamsin   jeden Freitag für 1-2 Stunden im CVJM, dem Christlichen Verein junger Menschen. Auch dort wurde gebastelt und gesungen. Auch dort war Tamsin nicht gerne. An vieles kann sie sich heute kaum noch erinnern. Dort gab es einen großen Garten. Eine Terrasse.

Einmal war Tamsin mit ihren Eltern am Wochenende bei einer Veranstaltung für Kinder in einer Schule. „Beim Betreten der Schule bekamen alle Kinder ihrem Alter entsprechend einen Stempel auf die Hand. Wir gingen dann in eine Aula; ein Theaterraum.“ Die Kinder saßen vorne in mehreren Reihen auf dem Boden, die Eltern weiter hinten auf Stühlen. Irgendwann wurden die Kinder dann den Farben der Stempel nach aufgeteilt dazu aufgerufen, die Betreuer in verschiedene Räume zu begleiten. Tamsin machte auch mit. Sie hatte einen blauen Stempel auf der Hand, und als alle Kinder mit blauen Stempel den beiden Erwachsenen folgen sollten, tat sie dies ebenfalls. „Wir waren ca. 15 Kinder. Haben uns in einem Kreis auf dem Boden gesetzt. Plötzlich klopfte es an der Tür. Der Mann öffnete, und dort stand eine Flasche Wasser und ein Glas. „Ihr seid bestimmt durstig. Dann werden wir jetzt einen Trinkkreis machen.“, erklärte er daraufhin und befüllte das Glas, welches daraufhin im Kreis herumgereicht wurde.
Schon damals fand Tamsin es ekelhaft, sich mit anderen Menschen dasselbe Glas zu teilen. Aber sie musste mitmachen. Das dachte sie damals zumindest. Zaghaft führte sie das Glas an ihre Lippen, bedacht, nichts von der Flüssigkeit in sich aufzunehmen und tat so, als würde sie trinken. „Na, du bist aber nicht sehr durstig, was?“, meinte der Mann daraufhin. Schweigend reichte sie das Glas weiter.
Bei der ganzen Veranstaltung ging es anscheinend darum, den Eltern etwas vorzuführen. Schwach erinnert sich Tamsin, wie sie daraufhin mit den anderen Kindern eine „Pyramiede“ üben sollte. Zusammen mit einigen anderen musste sie auf dem Boden knien. Dann wurde eine Reihe Kinder auf ihrem Rücken gesetzt, und darauf dann noch eine Reihe. Es war anstrengend und das Gewicht hatte ihr in Händen und Knien wehgetan. In der Hoffnung, dass es schnell vorbei sein würde, hielt sie durch.
Irgendwann, sie weiß nicht mehr, ob auf der Bühne oder beim Üben, hatte sie der Last nachgegeben. Ihr war egal, ob die Kinder über ihr runterfielen, oder ob es Ärger geben würde. Tamsin brach zusammen, erleichtert, dass es spätestens dann zu Ende war.

***

Heute erinnert Tamsin sich an viele Nachmittage in ihrer Kindheit, an denen sie auf der Fensterbank saß. Stundenlang. Sie hatte ein Computerspiel in der Hand und die Vorhänge zugezogen. So saß sie da. Alleine. Hat gespielt und ab und zu nach draußen geschaut. Es war schön. Eine andere Beschäftigung hatte sie nicht.

Bereits als Kind hat Tamsin gerne alles möglichen Dinge gesammelt. Und das gerne in vielfacher Ausführung.
Angefangen hatte es mit Tamagotchis. Zu erst besaß sie nur eines, welches sie (Die Eltern) einem Jungen auf dem Flohmarkt abgekauft hatte. Dies war Gelb durchsichtig und damals ihr ganzer Stolz! An einem Band trug sie es immer um den Hals. Oft hatte sie es sich um den Finger gewickelt und das Tamagotchi daran geschleudert. Einmal so heftig,  dass ihr das Band vom Finger rutschte und das Spielzeug im Treppenhaus gegen mehrere Wände knallte, ehe es auf dem Boden aufschlug. Dann war es kaputt – und Tamsin bittertraurig.
Es dauerte eine Weile, bis sie ein Neues bekam.
Einmal schenkte ihre Mom ihr Rex, einen Hund. Der ging auch schnell kaputt, und auch der neue Rex gab schnell den Geist auf. Ein Dino, den sie ebenfalls vom Flohmarkt hatte, war ihr neuer Stolz. Eines Tages gab es bei Woolworth Tamagotchis für 1€. Davon kaufte sie sich direkt 10 Stück.
Die meisten trug Tamsin immer um den Hals; bei der hohen Anzahl ein großes Gewicht. Sie fand es lustig, die Tierchen manuell altern zu lassen, indem sie die Uhr einmal einen ganzen Tag vor stellte.

Dann folgten die Jojos. Das erste hatte sie nach langem Betteln von ihrem Vater geschenkt bekommen. Damals hatten die zwischen 10 und 20  D-Mark gekostet. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich den sogenannten Leerlauf hinbekommen hat, wo das Jojo sich unten dreht und erst nach einer Weile wieder hochkommt. Darauf war sie sehr stolz. Dann lernte sie die Affenschaukel, und bezeichnete sich als Jojo Profi, denn sie war in ihrem Umfeld die einzige, die das konnte. Auch dieses Jojo ging irgendwann kaputt. Es verhedderte sich so sehr, dass sich die Schnur nicht mehr entknoten ließ. Daraufhin wurde dann ein Band aus Wolle daran befestigt, aber der Leerlauf funktionierte nicht mehr und das war dann nicht mehr so toll. Sie war sehr traurig. Nach einer Weile bekam sie auch wieder ein neues. Und dann noch eins. Und noch eins. Irgendwann hatte sie ungefähr 20 Stück. In allen erdenklichen Farben und Größen. Einmal ging ein Anderes erneut kaputt, so dass sie die Schnur gegen eine aus Wolle ausgetauscht hatte. Von dem hatte sie auch noch die Originalverpackung. Sie hat es dann wieder eingepackt und zu Müller gebracht, der es dann für 10 € verkauft hat. Das Geld hat sie dann bekommen. Daraufhin hatte sie noch mehr Sachen von sich zusammengesucht und wollte die dorthin bringen, damit er die verkauft, aber das hatte der dann abgelehnt.

Direkt gegenüber des Hochhauses, indem sie im Erdgeschoss gewohnt hat, gab es jenen kleinen Laden. Müller hat ihr Vater immer dazu gesagt, weil der Besitzer so wie es. In Wirklichkeit Standort A&O Markt.
Bei Müller war sie gerne. Dort gab es alles, was man brauchte, aber am liebste hatte sie sich dort Süßigkeiten gekauft. Die bunten Tüten wurden einzeln zusammengestellt. Ihre Mutter fand es immer unappetitlich, wenn der Verkäufer an der Kasse die Stücke einzeln abgezählt und dazu mit den Händen angefasst hatte. Tamsin war das egal. Jeden Morgen hatte ihre Dad dort Zeitung und Brötchen geholt. Die Kieler Brötchen mochte sie am liebsten. Manchmal hat er ihr auch Schokolade mitgebracht. Immer, kurz nachdem er ihre Mutter zur Arbeit gebracht hat, ist er dort hingefahren. Tamsin war in der Zeit alleine zu Haus. Sie war schon wach und hatte sich oft ein bisschen gefürchtet. So ganz allein in der großen Wohnung. Auch wenn überall Licht brannte.

Tamsins wichtigstes Lieblingsspielzeug war „Klapperauge“. Ein gelber Lego Katzenkopf mit wackelnden Augen, den sie überall mit hingenommen hatte. Erst mit 23 Jahren ungefähr hat sie ihn wiederentdeckt. Ihr Vater wollte alle alten Sachen und auch die Legosteine verkaufen. Heute ärgert sie sich, dass sie dieses eine Stück nicht für sich behalten hat. Es war eine schöne Erinnerung.

Als sie (im Kindergartenalter) einmal mit den Eltern zum Einkaufen mit war, hat sie ein Lego Flugzeug von Famila bekommen. Es war gelb mit roten Flügeln, und da sie in ihrer Kindheit Flugzeuge sehr gerne mochte, wollte sie es unbedingt haben. In der Badewanne hat sie mit einem Wasserflugzeug gerne gespielt. Ihre Mutter wollte jenes Lego Flugzeug aber nicht kaufen. Vielleicht war es teuer. Tamsin wollte jedoch ihren Willen durchsetzen. Sie musste dieses Flugzeug unbedingt haben. Sie hat geschrien und solange gebettelt, bis ihre Mutter es gekauft hat. Soweit sie sich erinnert, hat sie es sogar immer wieder in den Wagen gepackt, wollte es mitnehmen.

Auch Drachen schloss Tamsin schon in jungen Jahren in ihr Herz. Sie flogen, und alles was fliegen konnte, war toll. Zuerst hatte sie nur einen Kinderdrachen. Einen gelben mit bunten Streifen. Irgendwann ging der kaputt und viele Jahre später hat sie sich denselben noch mal gekauft. Einfach, weil die Erinnerung so schön war.
Ihre Eltern sind mit ihr auch zum Drachenfliegen zu verschiedenen Wiesen oder Stränden gefahren. Ungefähr mit 10 Jahren entschied sie sich für Lenkdrachen. Die waren noch besser. Ihre Sammlung an Drachen wuchs immer weiter. Bis sie auch davon über 20 Stück hatte. Wenn ihre Eltern mit mir zum Drachenfest fuhren, wo sie das einzige kleine Mädchen mit einem Lenkdrachen war, war sie glücklich. Auch, wenn sie nur am Rand im Abseits damit stehen durfte, weil ihre Eltern Angst hatten, dass der Drachen fremden Leuten auf den Kopf fällt.
Manchmal hätte sie vom Drachendoktor, der einen Laden in der Stadt eröffnet hatte, Stoffreste bekommen und sich daraus eigene Drachen gebastelt. Fliegen konnten die jedoch nie.

Vogelkäfige in neun verschiedenen Größen und Formen und Farben breiten sich, als sie ungefähr zwölf Jahre alt war, auf ihren Schränken aus. Manchmal stellte sie auch vier Stück übereinander auf dem Fensterbrett ab. Dabei hatte sie nur zwei Vögel. Manchmal hatte sie auch nur einen. im Grunde hatte sie aber ganz viele. Polly war ihr erster blauer Wellensittich, der noch ganz jung war und nicht fliegen konnte, als sie ihn bekommen hat. Später stellte sich heraus, dass er ein Tumor hatte und eingeschläfert werden musste. Tamsin saß traurig und verzweifelt mit dem Vogel auf dem Finger hinter der zugezogenen Gardine auf dem Fensterbrett und hat geweint, kurz bevor es soweit war. Glücklich war sie, als sie einen neuen bekam. Charlie hieß er und war auch ein wenig zahm. Auch dieser lebte nicht lange, weil die Tiere vom Züchter irgendwie überzüchtet waren. Ungefähr 8 bis 10 Wellensittiche hatte sie im Laufe ihrer Kindheit. Keine lebten länger als ungefähr zwei Jahre. Alle wurden sie krank und starben. Nur einer, Jacky, den Sie von einer Vogelausstellung bekam, lebte sehr lange. Er war sogar auch ein bisschen zahm, im Gegensatz zu den Letzten. Mit einem Kanarienvogel, den Tamsin freifliegend vor dem Hochhaus in  einem Käfig eingefangen und behalten hatte, vertrug dieser sich gut, ehe der starb. Später kam Jacky dann mit einem Nymphensittich zusammen. Allerdings hätte sie sich den lieber nicht kaufen sollen. Er kam aus einer Voliere und war sehr wild und bissig. Er hat nur geschrien und gefaucht. Die ganze Familie war froh, als er wieder weg war. Er ist weggeflogen.
Ihre Eltern waren von den Käfigen nicht so begeistert. Vom Sperrmüll und vom Flohmarkt hat sie die überallher gesammelt. Einmal sollte sie selbst einen auf dem Flohmarkt verkaufen. Das wollte sie nicht, weil sie den so schön fand. Daraufhin hat ihr Vater ihn im Keller zu einem ganz kleinen Klumpen zusammengetreten, um den endlich loszuwerden.



Tamsins erster Fernseher

Irgendwann mit 12 Jahren bekam sie einen eigenen Fernseher. Der war winzig, ohne Fernbedienung. Die Bedingung ihrer Eltern damals war, dass Tamsin nicht zu lange davorsitzen durfte, sonst würde ihr Dad den Antennenstecker ziehen! Tamsin hatte immer Angst gehabt, dass er dies täte und wenig geschaut. Dafür hat sie viel Musik gehört. Irgendwann hat Tamsin sich mal getraut, den TV nachmittags einzuschalten – und es kam kein Bild. Ihr Dad musste das Radio für den TV gehalten haben und hat den Stecker gezogen! Da hatte Tamsin ein schlechtes Gewissen. Der dachte, sie würde den ganzen Tag fernsehen! Getraut, die Sache aufzuklären hat sie sich nicht. Sie hat gewartet, bis der Stecker wieder drinne war.
Sie glaubt, sich zu erinnern, dass ihr Dad irgendwann mal vergessen hat, den wieder reinzustecken. Erst, als die Mutter eines Abends mal mit ihr Fernsehen wollte, fiel das auf.
Irgendwie hat Tamsin eine Angst entwickelt, dass sie immer nur ganz leise TV gesehen hat, auch das Radio leise gestellt oder ausgeschaltet hat, wenn der Ansager etwas erzählt hat und den TV sogar blitzschnell ausgeschaltet hat, wenn die Eltern sich ihrer Tür näherten. Da das Gerät keine Fernbedienung besaß, hat sie mehrere Steckdosen mit Schalter verbunden, und wenn sich die Zimmertür öffnete, hat sie sofort den Schalter gedrückt. Ihr Mom hat das jedoch immer gemerkt und sich gewundert, dass Tamsin den Fernseher immer ausschaltet.
Nachmittags liefen täglich Animeserien auf RTL2. Zuerst hat Tamsin die auf MC Kassetten aufgenommen die immer im Auto unterwegs gehört hat. Ganz leise waren die Aufnahmen. Das Rauschen war grässlich. Oft hatte sie auch Musik aufgenommen; Russendisko, die sie im Auto hören wollte, was ihr Dad immer nervig fand.
Auf dem Flohmarkt hatte sie ein SNES gefunden, welches zunächst nur im Wohnzimmer bleiben musste. Später durfte sie dann ihr SNES in ihrem Zimmer anschließen und spielen. Das konnten die Eltern nicht kontrollieren oder ausschalten.
Irgendwann hat sie für einen VHS Recorder gespart und angefangen, gute Filme auf Video aufzunehmen. Da hatte sie immer Angst, dass die Eltern das leise Summen der Aufnahme hören würden. Eines Nachmittags hatte Tamsin eine Serie aufgenommen und dabei ganz Laut Musik eingeschaltet, weil ihr Dad nicht wissen sollte, dass sie etwas aufnimmt, oder denkt, sie würde Fernsehen und den Stecker zieht.
Insgesamt 3 Fernseher hatte Tamsin. Allesamt winzig klein. Der erste ging schnell kaputt. Der zweite, ein kleiner roter Kasten, hielt auch nicht lange. Der dritte war mit Videotext! Wow! Oder eher… Mist! Dort gab es einen SMS Chat auf der Seite 286. Einen großen Teil (ca. 300€) hat Tamsin damals für Telefonkarten ausgegeben. Ihre Eltern dachten schon, sie würde 0190-Nummern anrufen. Dabei hat sie dort nur mit den Leuten geschrieben und eine Frau namens CAT gerne geärgert, indem sie deren Namen kopiert hat. Heute ärgert sie sich darüber, so viel Geld für so einen Mist ausgegeben zu haben. Seither gibt sie kein Geld mehr für virtuelle Güter aus. Es lohnt sich nicht!
Kurz hatte sie eine alte schwarz-weiß-Kiste von der Oma in ihrem Zimmer. Die stand am Fußende des Bettes. Tamsin war fasziniert von der Größe, nur leider war der Lautsprecher defekt, sodass der Ton unwillkürlich ganz laut wurde. Ein Schlag gegen die Seite hat geholfen.

Nach dem Umzug 2005 bekam sie den alten TV ihrer Eltern, weil die von da an den der Oma mitbenutzt hatten. Das ca. 70cm große Röhrengerät war für Tamsin damals riesig! Leider hat der linke Lautsprecher geknistert. Für 250€ hat sie sich dann von STOLZ einen Neuen gekauft. Zu der Zeit kamen gerade die ersten Flachbildschirme auf den Markt. Aber die waren unbezahlbar! Naja, der Ton von dem schweren Ding war zumindest super!
Doch auch der reichte ihr irgendwann nichtmehr. Bei einem Baumarkt gab es einen für 999€. Den wollte Tamsin haben! Geld gespart hatte sie. Doch ihre Eltern waren dagegen. Das war viel zu teuer! Tamsin war damals echt sauer. Einmal gab es eine Aktion: 20% auf alles! Tamsin rechnete, dass der TV dann nur noch 800€ kosten würde, nahm ihr Geld und fuhr mit der Mutter dahin. Empört war Tamsin dann, als das Gerät plötzlich 1200€ kostete! Die hatten einfach den Preis angehoben, damit dieser sich auch durch die Aktion nicht änderte.
Erst gegen 2009 konnte Tamsin sich einen HD Fernseher leisten. Sie war echt froh, das Gerät vom Baumarkt nicht gekauft zu haben, denn das hatte keine echte HD Auflösung.
Irgendwann hat Tamsin ihren PC daran angeschlossen und 3D Filme in Rot/Blau geschaut. Das war cool! Monate später, ca. 2011, gönnte sie sich einen 3D Fernseher. Ein Traum wurde wahr! Während 3D Geräte einige Jahre später wieder vom Markt verbannt wurden, weil andere Menschen davon Kopfweh bekommen oder die Brille nicht mögen, liebt Tamsin ihren Fernseher heute noch, im Jahre 2018!



Schulzeit & Mobbing:

Seit der Grundschule hat Tamsin einige Erfahrung mit Mobbing. Leicht hatte sie es nie. Sie war ruhig „stumm“ und hatte sich nie gegen verbale Pein gewehrt, was andere dazu verleitete, dies schamlos auszunutzen.
Irgendwann, in der 2. oder 3. Klasse hieß es auf einmal: „Die Jungs wollen Tamsin verkloppen!“ Ob das wahr war, fand Tamsin selbst nie heraus. „Alles, was ich noch darüber weiß, ist, dass die Mädchen mich zu einem kleinen Busch hinter der Turnhalle gebracht haben, in dem ich mich dann mit klopfendem Herzen versteckt habe. Eine von ihnen blieb immer bei mir, während die übrigen vor der Halle Wachehielten. Ich habe mich dann mit derjenigen unterhalten. Das war eigentlich ganz nett.“ Dies ging über mehrere Wochen so. „Vielleicht wollten sie mich wirklich beschützen. Vielleicht war es auch nur ein Spiel, dass sie sich ausgedacht hatten. Egal. Immerhin waren sie nett und ich genoss die Zeit, mit jemandem zusammen allein in diesem Busch zu hocken und flüsternd zu plaudern. Das war besser, als immer alleine auf derselben Stelle auf dem Schulhof zu stehen, Möwen zu beobachten und zu warten, dass die Pause endlich vorüber war.“
Danach erfand neben Rot- und Hochticker jemand das Spiel „Mein Schild.“ Jemand klaute Tamsin das Namensschild aus ihrem Schulranzen. Tamsin wollte es sich wiederholen und rief „Mein Schild!“ Schnell entwickelte sich ein Spiel daraus, in dem alle immer um eine längliche Hecke auf dem Hof liefen und Tamsin hinter derjenigen herlief, die ihr Schild in Händen hielt. Anfangs war es spaßig. Die Rolle des Fängers war immer unbeliebt, aber Tamsin hat gern mitgespielt, um nicht alleine sein zu müssen.
Aber nach einigen Wochen wurde denen auch dies zu langweilig. „Einmal haben sie sich versteckt. Ich wusste es, bin aber trotzdem weiter um die Hecke herumgelaufen, einfach, weil ich mich nicht wieder alleine in meine Ecke zurückgehen wollte.“

Richtige Feinde hatte sie damals noch nicht. Bis auf einen Jungen, Andreas M., sder sie beim Spielen einmal umgerannt hatte, sodass sie hinfiel und an den Armen blutete. Im Winter wollte er sie mit einem Schneeball abwerfen. „Ich stand da wie üblich alleine an der Wand und habe zugesehen, wie er eine Ladung Steine hineingeknetet hatte.“ Tamsin bekam Angst und ist dann vor der Mauer auf- und abgegangen. Der Bengel folgte ihr. Wie ein Scharfschütze ging er in die Hocke, wartete  geduldig, zielte. Offenbar wollte er beim ersten Mal treffen. Als es dann klingelte lief Tamsin zur Tür und erschrak, als die Steinkugel knapp über ihrem Kopf zerschellte.

Bereits in den ersten Schuljahren hat Tamsin kaum bis gar nicht gesprochen. Weder mit Lehrern, noch mit anderen Kindern. Die haben daher auch nicht mit ihr gesprochen. Das gefiel Tamsin nicht. Sie wollte Aufmerksamkeit. Daher beschloss sie irgendwann, ihre Stifte durch die Klasse zu werfen. Anfangs haben die anderen Kinder gelacht und die zu ihr zurückgeworfen. Das fand Tamsin lustig. Bis die Kinder anfingen, die Stifte zu behalten, bis Tamsin keine mehr hatte, die sie werfen konnte.  
Da sie sich nicht zu sprechen getraut hat, bestanden ihre Antworten auf Fragen der Lehrer aus Grimmassen. So steht es in ihren Zeugnissen. Damals saß sie noch neben Nathalie, die nett zu ihr war. Mit der konnte Tamsin sprechen. Bis Tamsin im 3. Schuljahr das Klassenzimmer gewechselt wurde. Es ging in den alten Teil der Schule. Links war die Fensterseite, da saßen die Mädchen. Rechts im Schatten die Jungs. Tamsin war in der Klasse nicht sehr beliebt. Da war ein Mädchen namens Frauke. “Frauke die Pauke”, hat Tamsin sie immer geärgert. Eins der wenigen Dinge, die sie gesprochen hat. Sie fand das lustig. Die anderen hingegen mochten das nicht. Aber Tamsin wollte nicht aufhören.
So kam es, dass sie einen Einzeltisch an der anderen Wand hinter den Mülleimern bekam. Wollte niemand neben ihr sitzen, oder war es, weil die strenge, eitle Lehrerin ihr eins auswischen wollte? Tamsin war darüber nicht froh, aber sie weiß noch, dass sie es immer gut fand, zum Entsorgen ihrer Taschentücher nicht aufstehen zu müssen. Allerdings hätte sie gerne bei den anderen Mädchen gesessen und nicht ganz alleine in der “Abgeschiedenheit”. Die Jungs waren gemein zu ihr. Vom Unterricht bekam Tamsin dort nicht viel mit. Wurde auch selten beachtet.

Einmal im Jahr fand Kindervogelschießen statt. Tamsin hat sich immer sehr bemüht. Einmal, es war in der 4. Klasse, wo alle ihre Fahrräder  bunt Dekoriert hatten, um dann hinter der Kutsche herzufahren, wurde Tamsin Erste ihrer Klasse! Grund dafür war, dass sie den Ball 2x von 3x in das Loch in einer Torwand getroffen hatte. Das war richtig einfach, und dafür gab es am meisten Punkte! Die anderen Spiele, wie Ringe werfen oder Vogelpicken waren eher schwierig.
Tamsin war stolz, zu den wenigen zu gehören, die dann in der Kutsche mitfahren und sich als erste ein Geschenk aussuchen durfte. Sehr zum Ärger von Caro, die eher wenig Punkte hatte und viel später dran war. Denn dort gab es ein Paket mit einem blauen Regenschirm, den sie ebenfalls haben wollte, wie Tamsin damals gut wusste. Dennoch hat sie sich nach längerem Überlegen dieses Geschenk geschnappt.
Im Laufe der Veranstaltung wurden im großen Tanzsaal weitere Spiele gespielt. Auf der Bühne lief Musik. Eines der Spiele bestand daraus, dass jeder sich einen Luftballon um den Köchel binden musste. Dann haben die Kinder sich diese gegenseitig zertreten. Wer am Ende den letzten Ballon hatte, hat gewonnen.
Dort hatte Tamsin nie Glück.
Wenig erfreulich waren die Reihentänze. Diese wurden in den Sportstunden fleißig geübt. Jeder bekam einen festen Tanzpartner. Alle haben sich zu zweit hintereinander aufgestellt und dann wurden vorgegebenen Richtungen entlang geschritten. Die Regel war, dass jedes Mädchen mit einem Jungen an der Hand gehen musste. Niemand mochte Tamsin. Und so wurde ihr der unbeliebte Anderes M., der sie gerne geärgert hat, zugewiesen. Tamsin glaubt, dass er ihre Hand immer besonders fest zugedrückt hat, um sie unauffällig zu quälen.

Während einer Faschingsfeier hat Tamsin sich einmal als Drachen verkleidet. Aus leuchtend orangefarbener Pappe hatte sie einen Drachen ausgeschnitten und sich umgehängt. 

Tamsins erste Lehrerin, über die sich alle Eltern immer beschwert hatten, weil die nie richtig durchgreifen konnte, ging beim Klassenraumwechsel von der Schule. Die neue Lehrerin, Frau W., war streng. Hat Tamsin noch weniger verstanden. Tamsin bekam Förderunterricht von Sonderschul-Lehrern. Sie war immer traurig, dass sie in den Haupt-Stunden die Klasse wechseln musste und nicht das machen durfte, was die anderen machen.
Wenigstens war es dort nett. Sie war mit einem anderen Jungen aus der Nebenklasse dort. Oft hatte er sie sogar abgeholt, weil Tamsin sich nicht alleine durch das Schulgebäude zu gehen getraut hat. Die Lehrerin dort war nett! Frau G. hatte ihr sogar mal einen Brief aus dem Urlaub geschrieben. 

Tamsin glaubt heute, dass es Frau W. damals gar nicht aufgefallen war, dass Tamsin in gewissen Stunden wo anders war. Es gab nämlich einen Tag, da hat Tamsin vor der Tür zum Förderraum im Flur auf den Sonderschul-Lehrer gewartet. Nach der Pause. Plötzlich kam Frau W. “Tamsin, was machst du hier? Geh in die Klasse!”, hatte sie geschimpft.  
Tamsin war verwirrt. Sie hatte doch hier den Deutsch Unterricht! Ihr Ranzen war in diesem Raum. Der Herr U. würde gleich kommen.  
Einige Minuten später kam Frau W. zurück, war auf dem Weg in die Klasse. Tamsin stand immer noch alleine vor der Tür. Was genau passiert war, weiß Tamsin heute nicht mehr. Sie weiß nur, dass sie sich damals sehr unwohl gefühlt hat, als die Frau sie abermals streng angesehen und befohlen hat: “Du stehst ja immer noch hier. Geh endlich in die Klasse!” 

In einer großen Pause hat Tamsin sich so sehr gewünscht, dass es Klingelte, dass sie sich einbildete, die schrille Glocke zu hören. Erleichtert ging Tamsin die Treppe hinauf. Sie wunderte sich, warum sie die einzige war. Alle anderen spielten noch draußen. Aber es hat doch geklingelt! Verwundert betrat sie das Klassenzimmer. Zwei Mädels waren dort. Sie hatten Tafeldienst. “Was willst du?”, hatte eine von denen gefragt? “Es ist noch Pause, geh wieder raus, Tamsin!”  
Doch Tamsin war sich sicher, dass die Pause zu Ende war. Also nahm sie auf ihrem Stuhl Platz. Niemand kam. Die Mädels ärgerten sich und drohten, es der Lehrerin zu petzen, dass Tamsin in der Pause einfach drinnen geblieben war. 
Ärger gab es später nicht. Hm. 


So etwas wie eine gute Freundin hatte Tamsin… naja… nur in früher Grundschulzeit.
Da war Natalie, die jeden Tag nach der Schule mit zu ihr nachhause kam. „Wir haben beinahe täglich Mirakoli gegessen, die Dad gekocht hat, und dabei das Video von der Addams Family geschaut. Wir haben Papierflieger gebastelt und die nach den Charakteren des Films benannt. Und mit Luftballons und Karten gespielt. Haben Höhlen aus Decken gebaut und viel Spaß gehabt – bis Tamsin sitzen geblieben ist und Natalie den Kontakt abgebrochen hat. „Wahrscheinlich haben die anderen Kinder gesagt: Wir sind jetzt Viertklässler. Wir spielen nicht mir Drittklässlern!“
Vielleicht lag es aber auch daran, dass Tamsin sie eines Tages zusammen mit ihrer neuen „Freundin“ Caro im Fahrstuhl eingesperrt hatte. Sie hat geweint und als Strafe hat ihrer Schwester Tamsins Drachen durchgebrochen.

Tamsin blieb sitzen, musste die 3. Klasse wiederholen, und die neue Klasse war weniger brutal. Glück im Unglück?

Tamsin kannte Caro noch aus dem Kindergarten, weshalb sie schnell zusammenfanden. So eine richtig schöne Freundschaft wie mit Natalie wurde es jedoch nicht. Naja, vielleicht war es das am Anfang. Denn da war noch Tanja, die Tamsin nicht leiden konnte, weil Tamsin schüchtern war, und das verstand Tanja nicht. Die hat ihre eigenen Popel gegessen und Tamsin gerne geärgert. „Caro kam oft zu mir und wir haben SNES gespielt.“
Allerdings musste Tamsin jeden zweiten Tag auch zu ihr rüber. Dort hatte Caro das Sagen, was gespielt wird. „Sie hat immer gerne Arzt gespielt!“ Tamsin mochte keine Barbies, doch die Tage, an denen Caro mit diesen Puppen spielen wollte, war für sie ein wahrer Segen! „Ich habe Arzt spielen so sehr gehasst, wie sie es geliebt hat! Damals waren wir, ich glaube erst zwölf Jahre alt. Ihre Eltern waren beide Nachmittags arbeiten.“ Tamsin bekam immer richtig Angst, wenn die irgendwann am frühen Nachmittag die Wohnung verlassen hatten und Tamsin mit Caro ganz alleine war.
„Beim „Arzt“ Spielen haben wir uns immer gegenseitig untersucht. Ich weiß noch, wie ich auf dem Bett lag und mir die Kleidung ausziehen sollte. Auch die Unterhose. Die „Behandlung“ bestand daraus, dass sie mir Wäscheklammern in die Haut gezwickt hat. In Bauch, Brust, Beine, Arme. Ich habe es über mich ergehen lassen, weil ich Angst vor ihr hatte und Caro immer komisch wurde, wenn ich bei ihr nicht spielen wollte, was sie vorschlug – im Gegensatz zu bei mir, wo sie stets zurückhaltend war.
Einmal hat es so wehgetan, dass ich geweint habe. Es war so unangenehm und schmerzhaft, das mir Tränen kamen. Caro war plötzlich ganz nett und hat aufgehört. Von da an habe ich öfter, wenn sie Arzt spielten und es mir zu unangenehm wurde, geweint. Doch daran gewöhnte sie sich schnell und die Tränen wurden irgendwann nutzlos, sodass ihr Mitgefühl dahin schwand.“
Tamsin weiß noch, wie sie einmal mit heruntergelassener Hose auf dem Bett lag und plötzlich Caros Mom hereinkam! „Was hat das zu bedeuten!“, empörte diese sich.
„Wir sind dann schnell rausgegangen und Caro hat sich anscheinend sehr geschämt. Ich hingegen war erleichtert. Ich glaube, von dem Tag an hat sie sich mit dem „Arzt“-spielen ein wenig mehr zurückgehalten.“
„Die Tage, an denen wir Mario auf dem SNES gespielt haben – bei ihr oder bei mir-, waren stets fröhliche Tage!“

Tamsin war damals nicht sehr Umgänglich. „Da war Nadja, das Mädchen aus der Nachbarschaft und Tochter des Pizzabäckers. Sie war dick und hatte auch keine Freunde. Sie war ganz nett, netter als die anderen – und Caro! Sie wollte Zeit mit mir verbringen, spielen. Ich hingegen habe ihr immer die Zunge rausgestreckt. Nur einmal war ich bei ihr und wir haben ein Gläserspiel gespielt. War eigentlich ganz nett. Als sie ein anderes Mal sagte, ich könnte sie besuchen, habe ich nur bei ihr geklingelt und bin mit dem Fahrrad schnell weggefahren. Dabei habe ich mich darüber schlappgelacht, wie sie an der Tür auf mich wartet.“
Ein paarmal kam sie zu Tamsin zu besuch, aber sie musste immer auf ihre kleinen Brüder aufpassen, die mitkamen und alles kaputtgemacht haben. Das war letztlich so nervig, dass Tamsin das Mädchen schließlich auch nicht mehr bei sich haben wollte.

Der Ferienpass.
Jedes Jahr in den Sommerferien musste Tamsin zusammen mit Caro einen Ferienpass mitmachen. Caro fand das gut. Zusammen haben sie sich ausgesucht, welche Kurse sie mitmachen wollen. Töpfern, Basteln, Radtouren und Zeltlager.
Tamsin dagegen war immer wütend, dass sie das mitmachen musste. Lieber wäre sie jeden Tag zuhause geblieben. „Einmal haben wir eine Radtour zu Ecki, dem Anleiter, gemacht.“ Dort wurde gegrillt und Trommeln gebastelt.
Das Zeltlager war in Lenste am Strand und dauerte 5 Tage lang. Ungefähr 8-10 Leute schliefen in einem Zelt. Anfangs konnte sich keiner entscheiden, wer wo schlafen wollte und so wurden die Betten einmal rundherum getauscht. Tamsin war froh, nicht in einem Holzbrett schlafen zu müssen. Schließlich fand sie ihren Platz direkt neben dem Eingang. Caros Bett war neben ihr, sodass sie von den anderen fremden Kindern ein wenig abgegrenzt war.
Die anderen erzählten Schauergeschichten über das Essen. Über ekelige Wurst. Aber auch sonst hätte Tamsin dort wohl nichts gegessen. Mit Caro hatte sie im Kiosk einmal Jogurt Schokolade gekauft. Anschließend wollten sie noch eine Schokolade essen. Tamsin wollte aber lieber Marzipan anstatt Joghurt, und Caro war beleidigt, als Tamsin nicht nochmal die andere gekauft hatte.
Toll war die dortige Disko. Als dort das Lied „Spirit of the Hawk“, welches damals sehr beliebt war, gespielt wurde, war Tamsin richtig glücklich.
An einem Tag sollte ein Ausflug in eine Schwimmhallte stattfinden. Caro hatte ihre Eintrittskarte verbummelt und wollte daraufhin die von Tamsin haben. Die hatte sie sich dann auch einfach genommen. Tamsin konnte sich nicht durchsetzen. Verzweifelt ging sie dann zu Ecki, der gerade mit anderen beim Kartenspielen vor dem Zelt war. Es dauerte eine Weile, bis er sie endlich angesehen hatte und sie den Mut fand, ihn anzusprechen um die Sache zu erklären. Daraufhin wurde alles schnell aufgeklärt.
Eine schöne Erinnerung hat Tamsin an einen nächtlichen Strandspaziergang. Am Lagerfeuer sitzen und Geschichten erzählen.
In der Freizeit hat sie mit Caro gerne Hochticker gespielt. Tamsin war es wichtig dass Caro Spaß daran hatte, und so hat sie oft freiwillig die unbeliebte Rolle des „Fängers“ übernommen.
Am letzten Tag dort bekam Tamsin ihre Periode zum ersten Mal. „Ich habe Bauchweh. Was ist bloß los!?“, fragte sie sich, als sie während des Spieles immer wieder auf Klo gegangen ist, irritiert darüber, dass sie nicht konnte und die Bauchschmerzen nicht weggingen.
Dennoch hatte sie den Rückweg mit dem Fahrrad gemeistert und war sehr erleichtert, als sie endlich wieder Zuhause war.

Während der Grundschulzeit war Tamsin im Sportverein. Einmal in der Woche ging sie zum Turnen und zum Schwimmen. Anfangs war das schwimmen nicht übel. Sie ist froh, es gelernt zu haben. Irgendwann kam sie in eine Gruppe mit Caro. Dazu kam ein Problem mit den Ohren. Das Wasser lief nichtmehr raus. Ständig musste sie zum HNO, um die Ohren freimachen zu lassen. Das war so nervig, dass Tamsin nichtmehr zum schwimmen wollte. Anfangs hat die Mutter sie gedrängt, es weiter zu versuchen. Tamsin hat geweint. Letztlich durfte sie dann mit Schwimmen aufhören.
Das Turnen am Dienstag war für sie auch nicht so berauschend. Mit Caro ist sie immer hingegangen, denn der hat es gefallen. „Einmal habe ich das Rad von meinem Roller abgeschraubt, weil ich nicht mit dem Roller mit ihr hinfahren wollte. Caro sagte dann, sie fährt dennoch mit dem Roller. Alleine hinterherlaufen wollte ich nicht, also habe ich das Rad wieder angeschraubt.“ Oft hat Tamsin sich gegen derartiges gewährt, indem sie sich weigerte, die Jeans anzuziehen, ohne die sie das Haus nicht verlassen durfte. Dad wurde wütend. Und Tamsin musste sich fügen.

Die erste Klassenfahrt ging nach Büsum.
Zusammen mit Caro und Tanja, welche Tamsin nicht ausstehen konnte, weil sie nicht verstand, dass Tamsin immer so ruhig war, teilten sie sich ein Zimmer. Über den Deich und durch das Wattenmeer zu gehen war interessant.
Traurig war Tamsin jedoch, weil sie im Hochbett nicht oben schlafen durfte. Einmal wollte Caro sie lassen, doch dann wurde am Abend doch wieder getauscht, weil die wohl Angst vor dem Bett über sich hatte. Tamsin musste abends immer das Licht ausmachen, weil sie von unten den kürzeren Weg hatte. Einmal hatte sie sich geweigert, weil sie das ungerecht fand. Tanja hat geschimpft. Tamsin bekam Angst und gab schließlich mürrisch nach.
Hinter der Herberge gab es einen großen Spielplatz. An dem Tag, wo alle dort gespielt haben fühlte Tamsin sich glücklich und nahezu frei von allen Ängsten.
Auf einem Stadtspaziergang hat Tamsin sich mit Caro Kolben Hirse gekauft. „Wir haben die Aufmerksamkeit genossen, als wir das Vogelfutter vor den Augen der anderen dann gegessen und so getan haben, als wäre sowas ganz normal. Wir standen dann im Mittelpunkt!“
Als sie mit einem Krabbenkutter gefahren sind, wurden Krabben zum „pulen“ und essen verteilt. Tamsin wollte die nicht essen, aber Caro meinte, jeder muss das essen. Daraufhin war die beleidigt, als Tamsin die Krabbe einfach über Bord warf und ungestraft damit davonkam.
Schöner war der Ausflug zur Hallig Hooge. „Wir wäre in einem Sturmflut Kino.“ Das Wetter war schön sommerlich.
Am Ende mussten alle die Zimmer aufräumen. Als Belohnung dafür gab es ein kleines Geschenk mit Seife und Krimskrams.

Nach dem Wechsel auf die Hauptschule besserte sich ihr Leben kaum. „Ich weiß noch, wie ich alleine schräg neben einer Reihe Mädchen saß. Ich und Caro trugen damals blaue Plastikröcke von Kik. Eine von ihnen hatte mich auf dem Flohmarkt gesehen – sie hatte dort verkauft. Seither trugen wir die Spitznamen Mülltonne und Flohmarkt. Während des Unterrichts haben mir die Weiber ihren Müll über den Tisch zugeschoben. Safttüten. Tempos. Ich war ja ihre Mülltonne.“ Den Tränen nahe, hat Tamsin sich irgendwann gewehrt und ihnen ihren Müll einfach zurückgeschleudert. Die Lehrerin Frau A. wurde aufmerksam. Eine von denen meinte dann, dass Tamsin einfach ihren Müll zu ihnen überwirft. Grundlos. Ermahnt wurden dann alle. Auch Tamsin.

Bis zum 8. Schuljahr war Caro in Tamsins Klasse. Dann blieb die sitzen. Tamsin war froh, dass sie nach der Grundschule zu ihr in die Klasse gekommen war, weil eine Lehrerin angeblich dafür gesorgt hatte. So war Tamsin nicht ganz alleine. Jedoch war es oft so, dass Caro sie nichtmehr angekuckt hatte, sobald jemand anderes als Tamsin ihr Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Bot zB. jemand Caro Eintritt in die Arbeitsgruppe an, war Tamsin für sie wie Luft. Wurde Caro von anderen wenig beachtet, war Tamsin wieder gut genug. Einmal hat Caro sich mit Janine, die von allen immer „Pferdefresse“ genannt wurde, gegen Tamsin verbündet. Niemand mochte Janine. Die hat oft die Arbeit verweigert, geschimpft und den Unterricht gestört. Einmal hat die Lehrerin eine ganze Stunde gewartet, bis Janine ihr Heft aufschlägt. Die Klasse musste auch warten. Viele waren deswegen unzufrieden.
Naja, da gab es diese eine Stunde, an die Tamsin sich noch gut erinnert. In der Klasse saßen alle an Gruppentischen. Tamsin saß Caro und Janine gegenüber. Während des Unterrichts haben die beiden dann angefangen, Tamsin auszulachen und zu beleidigen. „Die weint gleich.“, hatte Janine sich gefreut. Caro, begeistert über die Aufmerksamkeit von der anderen, hat heiter mitgemacht. Natürlich so leise, dass die Lehrerin nichts mitbekam, was Tamsin sich damals sehr gewünscht hätte. Die verbale Qual dauerte an, bis Tamsin mit nassen Augen in die Pause laufen konnte.
Janine war zusammen mit Tamsin und 2 anderen in einer Fördergruppe, die in den Hauptfächern anders unterrichtet wurden. Eigentlich war Janine nett. Sie redete mit Tamsin und behandelte sie normal; nicht so abweisend wie die meisten. Jedoch war sie auch sehr kindisch. Sie klaute gerne Sache. Waren sie alleine in der Fördergruppe, wollte sie Tamsin immer die Stifte klauen. Sogar vor deren Augen. Tamsin hat das geärgert.
Einmal war Tamsin mit ihr alleine in der Klasse. Der Förderschullehrer sollte kommen, kam jedoch nicht. Janine wollte den PC einschalten, der dort stand, wusste aber nicht, wie das geht. Tamsin hat geschwiegen. Irgendwann wurde ihr langweilig und sie hat Tamsin mit Wasser nassgespritzt. Das hat Tamsin geärgert und sie ist nach Hause gegangen. Es war eh die letzte Stunde gewesen, und Ärger gab es am nächsten Tag auch keinen.
An einigen Tagen war Janine beinahe so etwas wie eine Freundin für Tamsin. Mit der konnte sie angstfrei sprechen. Während des Förderunterrichts hat Tamsin sie einmal in das Doppelfenster eingesperrt. Der Lehrer konnte sich nicht gut durchsetzen.
Einmal gab es ein Treffen bei Caro, die nicht glücklich war, dass Janine und Tamsin nur albernen Quatsch gemacht hatten.

Während der 7. Klasse wurde das Projekt Schülerzeitung gestartet. Dazu ist Tamsin in einer kleinen Gruppe durch die Stadt gegangen, um Spenden zu sammeln. Jeder Spender sollte dafür ein gratis Exemplar erhalten. Von einem Teeladen erhielten sie sogar 20€.
Anschließend mit der Gruppe zusammenzusitzen und über die Artikel nachzugrübeln hat Spaß gemacht. Tamsin hat Witze von Otto vorgeschlagen, war jedoch die einzige, die das lustig fand.
Das Projekt wurde jedoch nie beendet.
Das Geld wurde in einem Umschlag im Tresor im Lehrerzimmer gelagert. Eines Tages kam Sina in die Klasse und rief erschrocken: Das Geld ist weg!
Alle haben aufgebracht danach gesucht. Es gab einige Verdächtigungen. Doch gefunden wurde das Geld nie.

In der 6. Klasse fand eine Klassenfahrt in den Wildpark Eekhold statt. Die ganze Klasse schlief in einem Nurdachhaus; Mädchen links, die Jungs gegenüber. Auf Luftmatratzen auf einer kleinen Anhöhe.
Gegessen hat Tamsin dort so gut wie nie. Die Klasse wurde in 5 Gruppen aufgeteilt, von denen jede an einem Tag mit Kochen dran war. Am ersten Tag war Tamsin dran. Es gab Spaghetti Bolognese. Das gefiel ihr nicht so gut, und sie hat dann nur ein paar Nudeln gegessen.
Pizza, Wurst und das, was es an anderen Tagen gab, lehnte sie ab.
„An den Tagen sind wir durch den Wildpark gegangen.“ Das war ganz nett.
Im Laufe der Woche bekam Cora großes Heimweh. Nachts lag sie wach, hat geweint. Zusammen mit Caro entstand der Plan, von da abzuhauen und nach Hause zu laufen. Tamsin sollte auch mitkommen. Allerdings wurde dieser Plan nie durchgeführt.
An einem Abend hatte Tamsin zusammen mit Caro ein Gespräch bei den beiden Lehrerinnen. Vielleicht, weil sie so traurig war. Tamsin hatte eine MC Kassette dabei, von denen sie damals oft viele aufgenommen hatte. „Wir vier haben uns dann die Kassette angehört, auf der ich und Caro über Zampo rumgealbert haben; ein Name aus einer Animeserie.“ Tamsin fand das lustig. Danach ging es ihr besser.
Dann war da so ein Junge, Ralf, der nur Unfug im Kopf hatte. Tamsin glaubt, dass auch er es war, der ihr einmal Steine in die Gummistiefel gefüllt hatte. Da Tamsin die Angewohnheit hat, die Schuhe vor dem Anziehen immer auszukippen, trat sie nicht darein, sondern verteilte alle Steine auf dem Boden vor ihrem schlafplatz. Egal.
An einem Tag hatte Ralf größere Äste auf dem Waldweg verteilt. Bei einem Spaziergang mit Caro und ein paar anderen bekam Tamsin das mit. „Als wir dann abends im Dunkeln mit der ganzen Klasse da endlanggegangen sind, sind einige darüber gestolpert.“
Nachts wurde die Klasse für ein Versteckspiel in zwei Gruppen aufgeteilt. Abgesehen davon, dass Tamsins Taschenlampe den Geist aufgegeben hatte und ihre Ersatzlampe sehr dunkel war, war dies ganz lustig.
Tamsin war jedoch froh, als sie wieder zuhause war.

Ihre ewige Traurigkeit konnte Tamsin nie verbergen. Selten hat sie gelacht. Wenn überhaupt. Frau A. hatte sie oft streng ermahnt: „Lächle mal. Guck doch nicht immer so!“ Tamsin hat nie verstanden, was die von ihr wollte. Worüber sollte sie lächeln? Frau A. hat gemeckert, aber das war ihr dann auch egal. Die hat Tamsin nie verstanden.
In der 7. Klasse wurde Frau A. krank. Niemand wusste, was sie hatte oder wann sie wiederkommen würde. Die Folge waren viele Stundenausfälle, wenig Vertretung - beinahe das ganze Schuljahr lang. Tamsin war immer froh, wenn alle nach 4 St. nach Hause durften. Einige andere haben sich über den Ausfall beklagt, weil es dadurch auch weniger zu lernen gab. Tamsin war das egal. Sie mochte die Schule nicht. Auch nicht das Klassenzimmer, das im dritten Stockwerk unterm Dach lag.

Einmal bekam Tamsin, die wieder alleine in der Pause rumstand, von Tanjas Bruder, der sie nicht leiden konnte, im Vorbeigehen einen auf die Nase. Das war die erste und einzige gewaltsame Attacke.
Irgendwann in späteren Zeiten hatte sich eine Gruppe aus einer anderen Klasse um sie herum versammelt und ihr verbal schwer zugesetzt. „Irgendjemand aus der anderen Klasse wollte mich mal fotografieren. Handys mit Kamera waren da gerade neu auf dem Markt. Aber ich stand mit dem Rücken zur Sonne, sodass das Licht die Kamera blendete. Der Kerl wollte, dass ich mich umdrehe, weil er ja mein Gesicht sehen wollte. Aber das tat ich nicht.“ Sein Pech. Und dabei blieb es dann, bis Cora und Sina, die das sahen, mich reingeholt hatten.
Heftig gesteigert hat es sich dann noch in der Berufsschule. Im Jahr 2007.

2004 – Konfirmation

Im Jahre 2003 fing Tamsins Konfirmationszeit an, in der sie zusammen mit Caro jeden Mittwoch für eine Stunde am Konferunterricht teilnehmen musste. Dort traf sie auch einige Kameraden aus der ersten Klasse wieder.
So übel war der Unterricht gar nicht. „Wir haben Bibelaufschlagen gespielt und über Gott geredet.“ Einmal hatte eine Gruppe Jungs zum Fenster reingeguckt und den Unterricht gestört. Der Pastor hatte dann die Vorhänge zugezogen. Es war lustig, denn das Thema Gott war oft nicht sonderlich spannend.
An zwei Konfirmantenfreizeiten musste Tamsin teilnehmen. Caro nahm auch an einer dritten im Sommer teil. Tamsin wollte nicht.
„Ich war immer froh, wenn es vorbei war. Beim ersten Mal hatten wir beide unsere Bettdecken mitgenommen, weil wir nicht wussten, ob es dort Decken geben würde. Gegessen hatte Tamsin dort so gut wie nichts. Sie hatte Angst. Ohne Caro hätte sie das wohl nicht durchgestanden. Allerdings verstand die sich auch gut mit anderen Kindern, sodass sie einmal bei denen am Tisch gefrühstückt hatte. Für Tamsin war da kein Platz mehr frei, sodass sie bei Jenny, die sie aus der ersten Klasse kannte, saß. Da war es ihr sehr unangenehm, stumm dazusitzen und nichts zu essen, während die sie angestarrt hatte. Damals waren sie befreundet gewesen, bis Tamsin sitzenblieb und in eine andere Klasse kam. Darüber war sie damals sehr traurig. „Ich fand es unappetitlich, dieses Essen, das aus der dortigen Großküche kam. Diese Marmelade, die aus großen Eimern in kleine Schalen gefüllt und jeden Tag erneut auf den Tisch gestellt wurde.“ Tamsin mochte nichts essen, was nicht von ihrer Mom gekocht wurde.
Draußen war es kalt. Hat geschneit. Nachtwanderungen wurden gemacht. Tamsin hatte oft vor den Jungs Angst, dass die sie mit Schneebällen abwarfen. Die Abende waren anstrengend und danach war sie immer richtig müde!
Abends saßen alle Kinder – es waren ca. 30 Stück – im großen Kreis im Wohnzimmer.
Das Tollste war, als dort einmal ein Film geschaut wurde, weil es den ganzen Tag lang geregnet hatte. Das war sehr entspannend im Gegensatz zum Rest.
Einmal wurden mehrere Themengruppen gegründet. Zusammen mit Caro ging Tamsin in die Theatergruppe. Mit einigen anderen Frauen wurde ein kleines Stück einstudiert, dass vom Glauben an Gott handelte. Dies sollte dann in einer Kirche in einer anderen Stadt aufgeführt werden. Das Gute für Tamsin daran war, dass sie und Caro den ca. 10 Km langen Hinweg mit dem Auto bewältigen durften, und nicht wie alle anderen zu Fuß gehen mussten. „Wir mussten ja noch alles aufbauen und uns vorbereiten und den Text lernen. Auch wenn es für uns beiden je nur zwei Sätze waren.“ Tamsin war sehr nervös. Jedoch hatte es ihr auch Spaß gemacht.
Nach dem Theater meinte jemand amüsiert: „Tamsin hat so undeutlich gesprochen, dass man nichts verstanden hat, und Caro war viel zu leise!“
Während der 2,5 Tage dort auf Schloss Ascheberg hat Tamsin nicht geduscht.
Einmal hatte sie ein Bett erwischt, dessen Matratze stark nach Urin gestunken hat. Darin hatte sie es beide Nächte ausgehalten.
Einmal hatte sie eine goldene Bettdecke mit. In dem Zimmer gab es 2 Doppelhochbetten. Einmal waren die Kinder aus dem Bett gegenüber schon früh wach. Tamsin wollte weiterschlafen. Daraufhin haben sie an ihrer Decke gezerrt. Sie ihr weggerissen. Dann haben sie Tamsin mit ihren Knicklichtern beworfen. Das tat weh. An liebsten hätte Tamsin die Dinger einfach aus dem Fenster geworfen, jedoch fehlte ihr der Mut dazu.

Während der Konferzeit hat Tamsin sich mit Caro und zwei etwas älteren, jungen Frauen regelmäßig nachmittags zum Singen getroffen. „Lauda to si“ war das schönste Lied, weil es nicht so langsam und einschläfernd war, wie die meisten Kirchenlieder.
In dieser Zeit hatte Tamsin ihr erstes Handy. Oft hat sie sich mit Caro einen Spaß daraus gemacht, kostenlose 0800er Nummern anzurufen und quatsch zu reden. Als sie einmal bei den Frauen kurz alleine waren, weil die noch etwas zu erledigen hatten, rief Tamsin die Polizei an. Nur zum Spaß. „Damals war ich 13. Ich fand das lustig – im Gegensatz zu dem Singen.“


2006/7 – Jobb. Diese Maßnahme hat Tamsin verändert

Nachdem Tamsin mit der Schule fertig war, kam sie in eine Berufsvorbereitende Maßnahme. Das Programm bestand aus: Montag und Freitag Berufsschule, dazwischen Arbeit in einer Einrichtung.
Tamsin kam in eine Gruppe für Problemkinder/Schulabbrecher, die den Haupt- oder Sonderschulabschluss nachmachen wollten. Tamsin hatte einen Abschluss, aber sie hätte ihn wohl verbessern können, was leider nicht geschah. Schuld daran waren die Mitschüler, die sie so sehr gequält hatten, dass Tamsin absolut keine Motivation mehr hatte.
Die Montage waren der reinste Horror. Diese Typen dort waren richtige Asis. Sie bewarfen sogar den Lehrer im Unterricht mit Papiermüll. Der hats leider mit Humor genommen. Wahrscheinlich hatte er auch Angst vor denen und wollte heftigere Eskalationen vermeiden. Immer, wenn alle vor der Klasse standen, auf den Lehrer warteten und die Typen um Tamsin herumstanden und auf sie einredeten, wie behindert, stumm und blöd sie doch sei, weil sie so schüchtern war, dachte Tamsin nur eines: Bitte lass es nur bei Worten bleiben.
Zu Tamsins eigener Erleichterung blieb es auch immer beim verbalem "Mobbing".
Da war einer, der immer wollte, dass Tamsin weggeht, und zwar zu den Behinderten. Dorthin, wo sie hingehört. „Geh weg! Hau ab!“, hat er sie oft gedrängt. So einen Typ gab es in ihrer alten Schulklasse ebenfalls. Der hatte immer in Richtung Sonderschule gezeigt und gemeint: Geh dahin, wo du hingehörst, los!" Tamsin hatte zunächst nie verstanden, wohin er zeigte und was er von ihr wollte.
Einmal sollte jeder aus der Klasse ein Referat halten. Dazu hatte jeder ein Plakat angefertigt; Tamsin über das Sonnensystem. Alle haben ihre Arbeiten mitnachhause genommen. Doch da war ein Kerl, der ziemlichen Mundgeruch hatte, der meinte: "Wir dürfen die Plakate nicht mitnehmen!" Er wollte, dass sie ihres in der Klasse ließe. Da die Klassen wöchentlich gewechselt wurden und dann andere Schüler dort sind, hätte Tamsin ihres wahrscheinlich verloren, hätte sie auf ihn gehört. "Ich wusste, dass er mich verarscht."

Während des Unterrichtes saß Tamsin manchmal mit dem Rücken zur Tafel, weil die Tische so blöd standen. Anstatt trotzdem zuzuhören, hatte sie nervös auf ihre Hände gestarrt und geträumt, weil ihr Gegenüber die Jungs saßen, denen sie nicht in die Augen schauen wollte. Die Mädchen saßen an anderen Tischen, aber vor denen hatte sie auch Angst, weil einige von denen sie auch gerne mal geärgert hatten. Eine von denen war besonders vorlaut.
Die Lehrer hielten Tamsin für dumm. Haben Sachen erklärt, die sie eigentlich wusste, zB. wie man einen Computer einschaltet. Aber eigentlich waren die auch nett.

Abends kam Tamsin oft weinend und erschöpft nach Hause. Doch ihre Eltern wollten sich in das Mobbing nicht einmischen, weil sie glaubten, dann würde es nur noch schlimmer werden. Und so ertrug Tamsin es, bis das Jahr vorüber war.

Tamsin gehört zu den Menschen, die mit plötzlichen, harten Veränderungen nicht gut umzugehen vermögen. Als sie im Jahre 2006 aus der Schule in eine berufsvorbereitende Maßnahme geschickt wurde, wurde plötzlich alles anders.
Ja…
Am Anfang war Tamsin noch frohen Mutes. Etwas Neues kam. Der normale Alltag des Erwachsenen-Lebens. Geld. Für die Teilnahme erhielt sie 250€/Monat, was sie sehr motivierte, da sie mit dem Geld machen konnte, was immer sie wollte, ohne etwas abgeben zu müssen. Sie hat für eine Camara gespart. (500€ - und die ist dann auch noch durch ihre eigene Dummheit kaputtgegangen)
In der Maßnahme gab es drei Bereiche zur Auswahl: Malen, Holz und Küche. Tamsin hatte sich für Malen entschieden, weil sie gerne malt. Damals wusste sie nicht, dass es hauptsächlich um das einfarbige Streichen von Wänden ging - eine recht ermüdende Tätigkeit. Daher war sie enttäuscht, als es nach einem Eignungstest auf einmal hieß, sie würde in die Holzwerkstatt kommen. Angeblich waren im anderen Bereich schon alle Plätze belegt. Komisch, da Tamsin doch schon ganz am Anfang gesagt hatte, dass sie gerne dorthin wollte.
In der Holzwerkstatt war sie das einzige Mädchen. Die Jungs in dem Bereich waren einigermaßen neutral ihr gegenüber, ganz im Gegensatz zu denen im Malerbereich, die in den Pausen immer über sie gelacht haben, als Tamsin alleine starr und steif vor der Tür stand, weil sie sich nicht zu den anderen auf die Bänke oder in den Pausenraum traute. Mit ihren langen, dunklen Haaren und einer roten Plastikjacke hatte sie immer ausgesehen wie ein britischer Soldat. „Guck dir mal an, wie die aussieht, haha!“, hatte einmal einer über den Hof gerufen, Tamsin nachgeäfft und lachend mit dem Finger auf sie gezeigt. Alle starrten belustigt zu ihr rüber. „Doch gut, dass ich nicht in den Malerbereich kam!“
Einmal hatte ein toter Vogel neben dem Eingang gelegen. An dem Tag mussten alle draußen auf den Anleiter warten. Es stank höllisch. Ein Typ hat ihn auf einen Stock aufgespießt und ist damit herumgelaufen. Tamsin hatte Panik, dass er den stinkenden Kadaver auf sie werfen würde, was zu ihrer Erleichterung jedoch nicht geschah.

In der Holzwerkstatt hat Tamsin immer ruhig vor sich hingearbeitet, bemüht, alle Aufträge anständig fertigzustellen. "Gearbeitet wird im Stehen!", lautete eine Anweisung, die ihr aber ziemlich egal war, weil sie keinen Sinn darin sah, Schmerzen zu ertragen, wenn sie doch vermieden werden konnten. So saß sie oft auf ihrem kleinen, harten Hocker, und wenn ein Werkstück von Hand geschliffen werden musste, ließ sie sich damit immer besonders viel Zeit. Sitzen tat gut.
Oft versank sie dabei in ihrer eigenen Gedankenwelt. Manchmal so sehr, dass ihre Tagträume sie zum Lachen brachten, was die anderen ein wenig irritierte. Einmal meinte einer irritiert zu den anderen: „Die fängt manchmal plötzlich ohne Grund an zu lachen. Was hat die bloß?“ Aber das war ihr egal.

Tatsächlich war da sogar einer, der sie zu mögen schien. Er hat normal mit ihr geredet und dabei auch erfahren, dass Tamsin gerne Animes schaut. Leider kannte sie damals nur die aus dem Fernsehen. Darum hatte er ihr eine DVD mit neuen Animes gebrannt. Tamsin hat die angenommen, allerdings war sie nicht fähig, seine Freundlichkeit zu erwidern. Sie nahm die DVD, murmelte ein Danke und ließ die Tür zwischen sich und ihm - er hat sie ihr in den Umkleideraum gebracht - einfach zufallen. Andere Versuche von ihm, Kontakt aufzubauen, blockte sie ungewollt ab. Nie zuvor war ein "Mann" nett zu ihr. Das war verwirrend. Ungewöhnlich. Damit konnte sie nichts anfangen. Und so beendete er seine Versuche irgendwann und ignorierte sie, so, wie sie ihn ungewollt ignorierte.
Das war vermutlich der erste und einzige echte, ernste Versuch, den je ein fremder Mensch unternommen hat, um sich mit ihr anzufreunden.
Inzwischen bedauert sie ihr Verhalten. Sehr.
Aber was hätte schon daraus werden können? Nie hätte sie den Mut gefunden, ihren Eltern davon zu erzählen, oder alleine etwas mit ihm zu unternehmen.

Frau Kote war ein Name, der Tamsin unwillkürlich zum Lachen brachte. Die Jungs aus der Mathematik Gruppe, die 1x wöchentlich stattfand, amüsierten sich darüber. „Als einmal der Name fiel, musste ich lachen. Die Frau ging in den Ruhestand. Kannte die gar nicht. Komisch. Daraufhin haben die Jungs immer den Namen gesagt und gelacht, wenn ich dann lachen musste.“

Nach weniger als einem halben Jahr bekam Tamsin die Folgen der Veränderungen in diesem neuen Leben zu spüren: Montägliche Übelkeit. Dazu unerträgliche Kopfschmerzen, die im Laufe des Tages immer stärker anschwollen und manchmal sogar bis zum nächsten Tag andauerten. Aber immer nur Montags! „Gegen Nachmittag fing es an. Mir wurde plötzlich übel. Jedes Mal kurz vor 17 Uhr hatte ich das Gefühl, mich jeden Augenblick übergeben zu müssen.“ Die Werkstatt war aufgeräumt und der Anleiter sagte noch ein paar Worte zum Abschluss des Tages. Tamsin weiß noch, wie sie auf ihren Tisch gestützt in Gedanken um Feierabend gebettelt hat. Sobald es dann soweit war, war sie als erste draußen! „Gottseidank hat diese Übelkeit, sobald ich meine blaue Arbeitshose ausgezogen und das Gebäude verlassen hatte, meistens rasch nachgelassen.“ Jedoch nicht immer.
Beinahe Täglich gab es Pommes vom Imbiss oder anderes Fastfood, da Tamsins Mom um 17 Uhr nicht mehr kochen wollte und Kochen auch zu lange gedauert hätte, da Tamsin einfach zu großen Hunger hatte. Tamsin hat den ganzen Tag über nichts Anderes zu sich genommen, außer ein paar Kekse und Energydrink. „Ich wollte nicht zusammen mit der großen Gruppe speisen.“ …mit denen, die über sie lachen. Außerdem mag sie das normale Standartessen, dass in Kantinen serviert wird, nicht allzu sehr.
Warum kam diese Übelkeit immer nur montags? Lag es an dem Mobbing, dass Tamsin so große Angst vor der Maßnahme und den Leuten in der Schule hatte? An ihrer Ernährung? Oder an dem Holzstaub, wie eine Dame aus dem Büro vermutet hatte?
Niemals wurde dies geklärt.

Nach einem halben Jahr wurde Tamsin dem Hauswirtschaftsbereich zugeteilt. Vielleicht würde es ihr dort bessergehen, hofften die Betreuer.
Von da an hieß es täglich: putzen, bügeln, Tische eindecken, abwaschen, wischen, fegen usw. Im Grunde war diese Arbeit nicht übel. Tamsin hat es sogar genossen ganz alleine auf den Gängen zugange zu sein, zu fegen und die Tische einzudecken. Dabei wurde sie selbst nicht so dreckig. Das tat sie gerne, und sie tat es gut, weswegen sie dies von da an fast täglich machen durfte. Die Frauen, die dort eine Ausbildung machten, waren nett. Erwachsen. Anders als die kindischen Gören aus der Berufschulklasse.

Leider konnte Tamsin auch dort ihre mutistischen Züge und Sprachbarrieren nicht überwinden. Die montägliche Übelkeit schwand zwar nicht gänzlich, auch nicht die Kopfschmerzen, dennoch fühlte sie sich in diesem Bereich gleich viel wohler.
Abgesehen von den Fuß– und Rückenschmerzen - einem neuen Problem. Dort konnte sie nicht immer wie in der Holzwerkstatt auf einem Hocker sitzen. Bereits gegen Mittag verspürte sie, wie ihre Füße gegen die ununterbrochene Belastung protestierten. Anschließend meldete sich ihr Rücken. Tätigkeiten, bei denen nur auf einem Fleck zu Stehen war, beschleunigten ihr Leiden. Tamsin begann, von einem Bein aufs andere zu treten. Beugte sich in unregelmäßigen Abständen vor und zurück. Doch der Schmerz ließ sich nicht vertreiben. Er kam. Täglich. Und er war unermesslich! „Es war schrecklich!“

Der Tag verlief so:
Den Wagen zusammenstellen und die Tische für das Frühstück eindecken.
Toiletten Putzen.
Wäsche zusammenlegen.
Kurze Pause.
Tische abräumen, abwischen und fürs Mittagessen eindecken.
Putzen/Fensterputzen, WCs, je nachdem was anfällt.
Mittags: 30 Min. Pause.
Tische abräumen, Speisesaal Fegen, wischen.
Flure Fegen & Wischen.
Danach evtl. beim Tellerwaschen helfen und das Geschirr wegräumen.
Evtl. noch die Küche schrubben.
Berichte Schreiben.
Feierabend.

Irgendwann fasste Tamsin den Mut, von ihrem Leid zu berichten. Sie hat es nichtmehr ausgehalten. Wenn sie wolle, so hieß es anfangs, könnte sie jederzeit in die Holzwerkstatt zurück. Tamsin erinnert sich noch genau, wie sie damals vorsichtig gefragt hatte: „Wann kann ich denn eigentlich in die Holzwerkstatt zurück?“
  „Warum das denn? Gefällt es dir bei uns nicht“, erwiderte die Hauswirtschaftsleiterin argwöhnisch. Sie war dagegen. Wollte, das Tamsin da bleib, weil ihre Arbeit dem Bereich sehr zugute kam.
  „Doch, es ist nett hier. Ich habe aber vom ununterbrochenen Stehen und Laufen ständig starke Schmerzen in Rücken und Füßen.“
  „Wir werden sehen. Sammle die Fußmatten ein. Heute bist du mit Absaugen dran!“, kam die zickige Antwort.
Alle der zehn schweren Fußmatten einzusammeln und im Lager einzeln abzusaugen - was für eine umständliche Arbeit! - zählte zu den unangenehmsten Tätigkeiten. Tamsin hat dies gehasst. Warum hätten die nicht liegenbleiben und direkt abgesaugt werden können?
Da Tamsin im Grunde gar nicht so gerne zurück in den anderen Bereich wollte und ihr Kummer lediglich mit den Schmerzen zu tun hatte, wurde beschlossen, dass Tamsin statt einem Wechsel nun öfters Sitzpausen einlegen durfte, um ihren Körper ein wenig zu entlasten. Dabei durfte sie Dinge abschreiben oder abzeichnen, was sie gerne tat. Immer hat sie sich damit besonders viel Zeit gelassen, denn ihr grauste davor, aufzustehen und der vertrauten Qual neuen Einzug in ihrem Verstand zu gewähren.
Doch das kurze Sitzen half letztlich nicht viel. Die Schmerzen kamen dennoch wieder. Unerträglich! „Nach Feierabend bin ich mit krummen Rücken vorgebäugt nach draußen gehumpelt. Täglich.“ Tamsin wollte, dass es aufhört. Doch hat sie sich beklagt, erntete sie von den Anleitern nur nutzlose Sprüche: „Daran gewöhnst du dich schon. Das ist ganz normal. Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Du bist noch jung; du musst das schaffen! Schau her, ich bin doppelt so alt wie du und schaffe das.“

Wenn Tamsin alleine die Toiletten putzen oder anderweitig alleine zugange sein könnte, was eher selten geschah, weil sie meistens von Kollegen unterstützt wurde, gönnte sie sich heimliche sitzpausen. Schließlich stand sie nicht unter Zeitdruck.

Das Mobbing an den Schultagen dauerte weiter an. Oft hat Tamsin zuhause geweint. Hat ihre Mutter gebeten, in der Schule anzurufen, damit dies endlich geklärt wurde und die Typen in die Schranken gewiesen wurden. Doch das tat diese nie. „Wenn wir uns einmischen, wird es nur noch schlimmer.“, so deren Meinung.

Tamsin hat es weiter ertragen.

Was dieser Hölle, zu der ihr Leben geworden war, noch mehr Zunder gab, waren nicht nur die Schmerzen, sondern die lange Zeit, die das Leid überhaupt erst entstehen ließ. Acht Stunden täglich nur auf den Beinen zu sein ist hart, und diese Pein war Tamsins ewiger Begleiter, sogar über den Feierabend hinaus.
Daheim angekommen war Tamsin so sehr erschöpft, dass sie alle Tätigkeiten, die mit Stehen und Arbeit zu tun hatten, vermied. Sogar am Wochenende. Putzen, Aufräumen, Einkaufen, Duschen - das alles war wie Arbeit, und von Arbeit hatte sie wirklich genug! Tamsin hatte endlich Zeit für sich, und die wollte sie mit Aktivitäten füllen, die ihr Freude bereiten, sie ablenken, sie wieder zum Lachen brachten!
Freunde hatte sie seit Schulabschluss keine Mehr. Genaugenommen, seit dem Umzug in diese 2KM von der Stadt entfernte Dorf: Kröß. Ihre einzigen Freunde waren das Internet und der Fernseher. Damit verbrachte sie ihre Freizeit. Sobald sie aufstand, kam der Schmerz wieder, pochte in ihren Hacken und Zehen. Darum vermeid sie es, aufzustehen. Ihre Eltern erledigten alles Wichtige, sodass Tamsin sich um nichts zu kümmern brauchte.

„Wenn ich nicht bei JobB war, saß ich zuhause. Ich saß! Ich saß vor dem PC und habe die freie Zeit genossen. Selbst Duschen wurde zur unangenehmen, zeitraubenden Arbeit. Ich habe mich gehenlassen, habe nur noch sonntags geduscht, weil jede freie Sekunde, die ich nicht stehen musste, wie Urlaub für mich war. Und den wollte ich genießen!“
Heute schämt Tamsin sich dafür. Ihre Mom war traurig, weil ihre ungepflegte Tochter ihr peinlich war, doch Tamsin war es egal. Die zwanzig Minuten konnten sinnvoller genutzt werden, als mit unter der Dusche zu stehen. Ich weiß noch, wie Mom einmal mit tränenden Augen zu mir meinte: „Wasch dich doch bitte. Du riechst! Ist dir das nicht unangenehm?“
Mir war das damals egal.

Tamsins Einführung ins Berufsleben:

Zwischendurch gab es einige Praktika.
-Eines im Kino, das Tamsin selbst vorgeschlagen hat. Sie interessierte sich für die Technik mit den Filmspulen. Zudem hatte sie erwartet, dort bestenfalls nur zu putzen.
Stattdessen landete sie an der Kasse. Naja, an der Popkornausgabe nebenan. „Hätte ich das nur geahnt!“ Tamsin, die sich nicht einmal traut, ihrer Chefin guten Morgen zu sagen, sollte plötzlich Kunden bedienen! Ohje! Tamsin hatte Angst. Hat den Kunden den Rücken zugedreht, damit die sie nicht ansprechen. Nach zwei Tagen wurde das Praktikum vom Betrieb aus abgebrochen. Die damalige Betreuerin bei JOBB war irritiert. "Du, dein Chef hat bei uns angerufen und gemeint: So geht das nicht. Sie brauchet nicht mehr zu kommen. Sie arbeitet nicht mit. Was ist denn da vorgefallen? Kannst du mir das erklären!?"
-Das zweite Praktikum in der Wäscherei hat Tamsin sich aus dem einzigen Grund gezwungen durchzuhalten, weil sie da schon um 14Uhr Feierabend hatte. Jedes Mal mit dem Bus nach Neustadt zu fahren war anstrengend. In der Wäscherei konnte sie nicht einmal in der Pause sitzen, weil es nur eine Bank gab. Dort saßen die Raucher. Tamsin hat gearbeitet, wie sie konnte. Getan, was ihr gesagt wurde. Auch, wenn der salzige Geruch dort ihr in der Nase brannte. Einmal musste sie das Klo putzen. Eine Frau wollte das. Eine andere war dagegen, aber die andere Frau hatte sich durchgesetzt und Tamsin den Eimer in die Hand gedrückt.
Ja… Es war anstrengend und unangenehm.
-Im Dritten wurden ihre „Probleme“ erkannt, weshalb sie in eine Behindertenwerkstatt geschickt wurde. „Ich dachte, ich könnte in die Montageabteilung. Gelangweilt ein Teil aufs andere Stecken und dabei schlechte Musik aus einem plärrigen Radio hören.“ Stattdessen landete Tamsin in der dortigen Großküche, was ihren Hass gegenüber Großküchen nicht gerade mindern konnte. Ewiges Stehen, Tellerwaschen/abtrocknen und eingefrorene Kartoffeln schneiden, die furchtbar gestunken hatten. „Ich wusste vorher gar nicht, dass ich dort in die Küche kommen würde.“ Um 16 Uhr war da Feierabend. Waren wir einmal früher mit der Arbeit fertig, wurde auf das Feierabends-signal gewartet. „Manchmal standen alle schon um 15 Uhr an der Tür und haben gewartet. Einfach nur rumgestanden und gewartet! Gab ja nichts mehr zu tun.“ Manchmal hat Tamsin sich den einzigen, freien Stuhl geschnappt.
In der Pause saß Tamsin bei den Behinderten. Essen wollte sie dort nichts. Das braune Dreckwasser, in dem das Kochgeschirr abgewaschen wurde, hatte ihr jeglichen Appetit geraubt. Dazu die riesigen Töpfe und diese eisernen Bottiche, die gar nicht mehr richtig sauberzukriegen waren. Und die vielen Gerüche….
Das alles hatte ihr nicht gefallen. Aber die Betreuerin von JOBB meinte, Tamsin solle es weitermachen und es würde verlängert werden. Tamsin, die sich nicht durchsetzen kann, nickte stumm. Aber dann wurde es doch nicht verlängert.
-Während eines Schulpraktikums 2005 musste sie ein halbes Jahr lang jeden Mittwoch ins Praktikum. In einer Druckerei in ihrem Heimatdorf. 8-16Uhr. In der halben Stunde Pause ging sie nach Hause, um dort schnell Nudeln zu essen. Oft verbrachte sie die Tage so: Zuschauen. Neben der Frau am PC sitzen und zusehen, wie Bilder bearbeitet wurden. Tamsin versank dabei in ihren Tagträumen, erleichtert, beim langen Sitzen keine Schmerzen zu haben. Denn an anderen Tagen musste sie stehen! Lange im Druckraum neben der Maschine stehen und zusehen, wie der Mann Papiere bedruckt. Manchmal durfte sie mithelfen; Blöcke leimen oder etwas aufräumen. Aber oft stand sie nur stumm in der Ecke und trat von einem Bein aufs andere. Den ganzen Tag. Es war schrecklich! Froh war sie immer, wenn sie aus Folien Schriften ausstechen durfte. Selten sogar im Sitzen. Dafür hatte sie einmal zum Dank 8€ erhalten. Das war nett. Klar, sie hätte es nicht annehmen dürfen, weil sie nur Praktikantin war, aber solche bürokratischen Regeln sind ihr herzlich egal!

Tamsins einzige Motivation, die JOBB-Maßnahme durchzuhalten, war das Geld und die Tatsache, dass diese Maßnahme nach einem Jahr wieder vorbei sein würde.
Nun, das war sie. Damals hat Tamsin nicht bedacht, dass diese Maßnahme zeigen sollte, wie ein normales Arbeitsleben aussieht. Normal.... „Soll so ein Leben wirklich Normalität sein?“
Bis heute ist es Tamsin unmöglich, dies zu akzeptieren. Denn selbst ohne Mobbing und vielleicht sogar ohne Schmerzen erscheint ihr ein Vollzeittag wie ein unerträglich hoher Berg vor ihrem inneren Auge, den sie jeden Tag aufs Neue zu erklimmen gezwungen ist, nur, um, sobald sie oben angekommen ist, benommen einen Abhang hinunterzugleiten, wieder aufzustehen und denselben Akt tagtäglich immer wieder und wieder aufs Neue zu durchleben.

Kein Mensch dort hat je die je Hand gegen sie erhoben. Dafür war Tamsin immer dankbar. 


2007 – 2014 - ein Computerleben

Nach JOBB, Mitte 2007 ging Tamsin mit ihren Eltern ins Jobcenter, weil sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Tamsin hatte große Angst, eine Arbeit zu bekommen, bei der sie wieder den ganzen Tag lang bis abends auf den Beinen sein müsse.
Gesprochen hatte Tamsin dort gar nicht. Sie konnte nicht. Ihre Eltern hatten alles erzählt. "Ich sollte dann in eine Maßnahme gehen, wo meine Stärken und Schwächen herausgefunden werden würden." Tamsin war gerade dabei, einen Hartz4 Antrag auszufüllen, in dem unter anderem anzukreuzen war, ob man gerne im Stehen oder im Sitzen arbeiten möchte – letzteres durfte sie nicht ankreuzen; ihre Mom meinte, sie müsse jede Arbeit annehmen und lange stehen wäre ganz normal. Ganz nach dem Motto: Hauptsache Arbeit, egal welche!
Da wurde der Berater plötzlich stutzig. Er verschwand kurz und kam dann mit der Aussage wieder: >Ihre Tochter kann kein Arbeitslosengeld bekommen. Auch keine Arbeit. Sie ist nicht vermittelbar.<
Der Antrag wurde zerrissen.
Tamsin war unfassbar erleichtert. Keine Arbeit. Keine Schmerzen. Keine Panik und kein Leiden mehr. Damals wusste sie nicht, was dann auf sie zukommen würde…

In früher Kindheit, gerade als sie in die Schule kam, dachte sie, dass nach der Schulzeit alle Arbeit wieder vorbei sein würde und sie nur noch zuhause sein und tun könnte, was Spaß macht. Darauf hatte sie sich immer gefreut. 18 Zu sein und Frei zu sein! Komisch, dass etwas Derartiges dann tatsächlich eintraf. Allerdings war Tamsin kein Kind mehr, das gerne den ganzen Tag mit Spielen verbrachte.

Nun… Nachdem Tamsin keine Ausbildung, geschweige denn einen Job bekam, verbrachte sie die nächsten 7 Jahre daheim - vor ihrem Computer. Anfangs fand sie dies toll. Ausschlafen, keine Schmerzen vom Stehen und Spaß haben bis nach Mitternacht!
Sie hat im Internet gechattet, bis ihr die Augen zufielen. Von morgens bis spät nachts. Ihre Mom hat gekocht. Oder ihr Dad tat dies in der Woche. Viel ungesundes Zeug, schnell und einfach. Ihre Mom hat alles Nötige erledigt. Geputzt, Bett bezogen, gekocht… Und Tamsin hat den ganzen Tag gechattet. Gut, dass sie ab 2006 eine Flatrate bekam und nicht wie am Anfang über ein langsames Modem nur eine Stunde täglich online sein durfte, weil nach Minuten abgerechnet wurde.
So vergingen die Jahre.
Bis der Chat im Jahre 2010 Anfing den Bach runterzugehen. Alles veränderte sich. Die Leute wurden erwachsen und Chatten verwandelte sich in eintönigen Smalltalk. Sexuelle Anfragen nahmen zu, sodass Tamsins Freude zunehmend schwand. Ihre Nicknamen wurden 2010 geklaut und gesperrt. Sie entschloss sich daraufhin, ihre Zeit sinnvoller zu nutzen, indem sie begann, Geschichten zu schreiben. Romane. Im Laufe der nächsten Jahre wurde sie darin immer besser.
Aber auch das war irgendwann nichtmehr genug. Tamsin wollte raus! Nicht mehr 24 Stunden/Jährlich in ihrem Zimmer hocken. Sie wollte etwas erleben. Sie wusste, wenn sie nichts daran änderte, würde sie mit 50 Jahren noch dort hocken. Ohne Freunde. Niemals heiraten. Todesgedanken kamen auf. Depressionen. Ein ewiges Leben in Isolation wollte sie nicht.



2013 – Tamsins erster Freund

Tamsin lernt einen Mann im Internet kennen. Naja, sie kennt dort viele, doch Rene wohnte in ihrer Nähe und er hatte ein Auto. Nach vielen Unterhaltungen im Videochat will er sich mit ihr treffen, im Kino. Da Tamsin dort alleine nicht hinkommt, muss sie es ihren Eltern sagen. Das war echt schwer. Tagelang hat sie darüber nachgedacht, wie sie damit anfangen sollte. René wurde ungeduldig. Erst am Abend vor dem großen Tag hat sie sich notgedrungen überwunden. Das musste sie. Sie hätte es ewig bedauert, hätte sie die Chance auf ein Leben mit Freund nicht genutzt.
Ihre Mom war begeistert. Ihr Dad hingegen dachte, Der Typ wäre ein Türke, der sie verprügeln oder vergewaltigen wollte. „Man, war mir das unangenehm, als erwachsene Frau zu meinem ersten Date in Begleitung der Eltern aufzutauchen!“ Mit den Eltern hatte sie vor dem Kino gewartet.
Doch das war erst der Anfang.
„Das erste Date war toll! Das fand Rene auch. Auch wenn das Kino nicht beheizt und kalt war.“ Von da an hat er sich öfters mit ihr getroffen. Immer hat er sie mit dem Auto abgeholt. „Wir sind zu ihm in seine Wohnung gefahren, haben Videos geschaut uns sind spazieren gegangen. Einmal wollte ich im Dunkeln über den Friedhof gehen. Das wollte er nicht, weil sowas verboten ist. Ich war enttäuscht. An einem anderen Abend haben wir uns Alkohol besorgt. Ich fand es toll, so viel trinken zu können wie ich will, ohne dass jemand mich zurückhält. Danach haben wir Stargate geschaut. Ich war jedoch so besoffen, dass ich nichtmehr klar denken oder gerade stehen konnte. Habe ständig nach dem Wetter gefragt - und dann alles wieder ausgekotzt.“

Lästig waren jedoch die Eltern. Alles wollten sie wissen. Tamsin durfte nicht raus, ohne sich vorher bei denen abzumelden. Sie musste vor 23uhr zurück sein, ehe die schlafen gingen.
„Mom hat mich dann erstmal zum Frauenarzt geschleift, damit ich die Pille bekomme. Über alles hat sie mich ausgefragt und darüber geredet, wie das mit dem „Verkehr“ so läuft.“

„Darüber zu reden ist doch ganz normal!“, meint die Mutter, als Tamsin verlegen den Kopf senkt. „Dein Dad und ich tun es auch. Das ist alles ganz natürlich.“
Doch Tamsin mag nicht darüber reden, und sie mag ihr auch nicht erzählen, was sie so mit ihrem Freund unternimmt.

„Dann habe ich das erste Mal bei ihm übernachtet. Wie haben gekuschelt. Zum richtigen Verkehr kam es jedoch nicht, weil sein Glied komisch verwachsen und ich zu eng war.“ Am nächsten Morgen bekam sie sofort einen Anruf von ihren Eltern, ob es ihr gutgeht. Zwar hatte sie gesagt, dass sie diesen Abend nicht heimkäme, aber die haben sich enorme Sorgen gemacht. Wollten dann sogar seine Handynummer haben. „Meine Güte, das ist mein Leben und meine Sache, was ich tue! Muss ich über jede Kleinigkeit Rechenschaft ablegen!?“

Das neue Glück ließ schnell nach. Tamsin zeigte ihr wahres Ich. Und das war keineswegs die heitere, gefühlvolle, redegewandte Person, wie er sie aus dem Internet kannte.
„Du bist wie eine Puppe.“, hat Rene geklagt. Beim Kuscheln lag Tamsin oft einfach nur da, weil sie zu schüchtern war, selbst die Initiative zu ergreifen. Anfangs mochte er sie, obwohl sie so wenig spricht. Tamsin war nett,  ruhig. Aber dann…

Tamsins Unfähigkeit mit Gefühlen umzugehen und die nervigen Eltern sorgten schließlich dafür, dass diese Beziehung nach 2 Monaten zerbrach. „Ich konnte nicht auf ihn zugehen, ihn umarmen. Küssen, ja, wenn er den Anfang machte. Aber Gefühle zu zeigen, das war nicht mein Ding. Einmal hatten wir uns deswegen gestritten. Wir lagen auf dem Sofa und haben gekuschelt.  Ich habe immer gewartet, bis er anfing und mir zeigte/sagte, was ich tun soll. Von alleine konnte ich es nicht. Hatte ja auch noch keine Erfahrung. Irgendwann stand er auf und ich erkannte, dass er nicht glücklich war. Plötzlich fing er zu weinen an. Zunächst war ich verwirrt. Anstatt dann zu ihm zu gehen, den Arm um ihn zu legen und etwas Tröstendes zu sagen, stand ich einfach nur an der Tür und habe gewartet, dass er mich nach Hause fährt, während er da saß und geweint hat.“
  „Du bist eiskalt!“, hatte er daraufhin geschimpft.
Tamsin schwieg.

Aber er wollte nicht, dass es so endet.
„Wir haben miteinander geschrieben und uns dann nochmal getroffen. Sind am Strang langgegangen. Das war schön. Dann haben wir uns auf eine Bank gesetzt. Ich war schüchtern. Hatte Angst, etwas zu sagen oder zu tun. Wir wussten oft nicht, was wir machen sollten. Oft wollte er auch nur drinnen sitzen, Fernsehen und kuscheln. Fand das auf Dauer etwas ermüdend.
Wir haben uns wieder gestritten und dann hat er mich nach Hause gefahren. Mom hatte sich gewundert, warum ich schon so früh zurück bin. Ich wollte nicht darüber reden.“

Ich sah keinen Sinn mehr in dieser Beziehung.
„Damit der Verkehr möglich wurde, hatte er sich dann operieren lassen, und ich musste es auch, weil mein Unterleib irgendwie zugewachsen war, sodass eine Untersuchung nicht möglich war.“ Davon wusste er jedoch nichts.
Zum Verkehr kam es jedoch nie, da die Beziehung nach zwei Monaten von Tamsin her beendet wurde. Die Sache mit den Eltern wurde ihr einfach zu viel. Diese ständigen Fragen über dies und das… Dazu die Abhängigkeit. „Ich konnte keine Geschenke kaufen, weil ich nie alleine in die Stadt kam.  Ich konnte ihm nicht einmal ein Getränk anbieten, da dies sich in der Küche im Elternhaus befindet und die Eltern über alles Bescheid wussten.“ Sicher, sie hatten nichts dagegen, doch es hat Tamsin genervt. Immer hat sie das Rollo zugezogen, weil sie nicht wollte, dass jemand durch das Fenster reinschaut. Beim Abschied wollte/konnte sie ihn nicht küssen, weil ihre Eltern aus dem Fenster zusehen könnten und Tamsin dann wieder mit Fragen und Kommentaren konfrontierten.
„Ich kann und werde mich erst wieder auf einen Mann einlassen, wenn ich eine eigene Wohnung habe!“



2014 – BQOH. Tamsin fängt an zu Leben

Im Alter von 25 fing Tamsin an mit der Wohnungssuche. Sie wollte raus. Weg von den Eltern.  Etwas erleben. Frei sein! "Ich musste warten, bis ich 25 bin, weil ich als Arbeitslose vorher keinen Anspruch auf Kostenübernahem der Miete hätte." 

Tamsin ging ins Jobcenter, wissend, dass sie vielleicht Arbeit bekommen könnte, die ihr nicht gefällt. Aber selbst das war ihr in dem Moment lieber, als auch nur noch einen Tag länger durchgehend in ihrem Kinderzimmer rumzugammeln. "Ich wollte raus. Ich wollte eine Wohnung und eigenes Geld! Selbst ein Leben wie damals im JOBB 2007 erschien mir hin und wieder angenehmer, als diese unerträgliche Langeweile noch länger auszuhalten." 

Bereits vor ungefähr zwei Jahren spürte Tamsin den unermesslichen Wunsch nach Veränderung. Doch die konnte sie nicht erreichen. Wie auch? Ihre Eltern kamen ihr oft vor wie Gefängniswärter. Die bestimmten, wann Tamsin rausging und wohin. Alleine konnte Tamsin nicht raus. Vielleicht, wenn sie gewollt hätte. Aber sie hatte Angst, und die Aussagen ihres Dads "Betrete keine Feldwege, sonst wirst du überfallen, ausgeraubt und vergewaltigt" waren nicht gerade ermutigend.
Einmal ist Tamsin alleine mit dem Rad durchs Dorf gefahren. Naja, das hatte sie schon öfters getan. Doch immer dieselbe Strecke abzutreten erschein ihr eintönig. Ihre Eltern wollten jedoch nicht, dass sie einen neuen Weg einschlug. Abseits des öden Dorfes. "Aus Frust habe ich behauptet, das Dorf zu verlassen und über Janshof zu fahren. Ein nahes Nachbardorf. Das hatte ich mich dann aber nicht getraut und bin wieder nur durch unser Dorf gefahren. Die Strecke dauert ca. 7 Min. Plötzlich bemerkte ich hinter mir ein langsames Auto. Wer war es? Die Eltern! Sie kamen mir hinterher, um zu kontrollieren, dass ich auch ja den erlaubten Weg fahre!"  
Später meinten diese, es wäre nur ein Scherz gewesen. Lachten. Tamsin hat geweint.  

Wäre es nach ihrem Dad gegangen, wäre Tamsin heute noch isoliert. Alleine in ihrem düsteren, kleinen, schmuddeligen Zimmer. So lange, bis der Schimmel ihr die Luft abschnürt. "Ich hatte nie Lust, immer die Spinnen und Asseln totzumachen. Es ärgerte mich, dass Dad die Löcher nie zu machen wollte. Daher habe ich den unsichtbaren Unrat unter dem Bett etc. ignoriert." 
Auch das Essen hing ihr zum Hals raus. Tamsin konnte nicht kochen. Da Mom arbeitet, hat ihr Dad das übernommen. Allerdings war auch er darin auch kein Meister, und so bestand ihre Versorgung hauptsächlich aus Tiefkühlzeug und Fertiggerichten. Da sie davon nie richtig satt wurde, brachten ihre Eltern ihr abends oft noch etwas vom Imbiss mit, wenn Dad die Mom von der Arbeit abgeholt hat. Pizza. Etwas von McDonalds. Drüber hat Tamsin sich immer gefreut. "Es gab Tage, da aß ich um 11:00 fertig-Bratkartoffeln und hatte schon am frühen Nachmittagen wieder extremen Hunger. Ich habe viel Schokolade und Torte gegessen. Und Chips. Wenig Obst." 

Knapp einen Monat nach ihrem 25. Geburtstag: Tamsin ging von sich aus zum Jobcenter. Sie wollte Hartz4 beantragen, weil sie Geld zum Leben brauchte, und zwar mehr als das, was sie Jährlich zum Geburtstag bekam. Das hatte sie dann immer gespart, um sich dafür Sachen wie einen neuen Fernseher oder einen neuen PC zu kaufen.  
Gekocht wurde auf Sparflamme. Ihre Mom hatte oft Geldsorgen. Daher mussten sich alle stets mit dem Billigsten zufriedengeben. Wenn ihre Mom kochte, dann oft nur sowas wie Miracoli. Der Spruch: "Das ist zu teuer, dafür haben wir kein Geld." bestimmte den Alltag. Zum Einkaufen kam Tamsin daher ungern mit. Was sie wollte, was immer zu teuer. Wenn sie zwei Sachen wollte, musste sie sich für eine Entscheiden und die andere wieder weglegen, weil beide zusammen zu teuer wären.
Dies war der Grund, weshalb Tamsin den gemeinsamen Einkauf zu hassen anfing. Außerdem wollten ihre Eltern täglich einkaufen. Wütend wurde Tamsin, wenn die ihr versprachen, heute einmal nicht einkaufen zu gehen, es dann aber doch Taten. Wollte Tamsin nicht mit in den Laden, weil sie nichts brauchte oder das, was sie wollte, sowieso zu teuer war, musste sie im Auto warten. Die dauerte. Ihre Mom hielt nach Angeboten Ausschau, verglich Preise, vergaß manchmal ein Teil und musste dann nochmal zurück in den Laden, oder ging direkt in zwei Geschäfte nacheinander, wenn es in einem etwas gab, was in dem anderen fehlte. Dieser Zeitaufwand ärgerte Tamsin sehr. Es kam vor, dass sie ihre Mom in den Laden begleitete, nur, damit es schneller ging und um zu drängeln. Tamsin war dann häufig so wütend, dass sie lautstark durch den Laden rief und schimpfte. Egal, was andere Leute davon dachten.
Oft musste Tamsin auf schöne Dinge verzichten, weil diese zu teuer waren. Dass ihr Dad gewinnspielsüchtig ist und sein Geld für Briefmarken und Postkarten rausgeworfen hat, spielte keine Rolle. Oft hat Tamsin sich darüber geärgert, weil sie es nicht verstand, dass ihre Mom die Sucht stets guthieß, weil es sein könnte, dass man ja doch mal etwas gewinnt.“

Dieses Leben war vorbei, als Tamsin ihr Hartz4 bekam. 

Die Sachbearbeiterin war nett – im Gegenzug zu den Leuten am Empfang, die sie ungläubig angestarrt hatten; entsetzt über die junge Frau, die da plötzlich stand, ohne Akte, ohne Job. "Sie müssen arbeiten!", hatten die betont. Tamsin hat sich geschämt.  
Zu ihrem Glück kam Tamsin 2014 direkt beim ersten Besuch beim JC direkt zu BQOH, eine Maßnahme, die ihr Leben positiv verändert hat. Mit netten Leuten. „Die Chefin von dort kam vorher ins JC, um sich vorzustellen. Meine größte Sorge war die Zeit. Hatte Angst, täglich bis Abends dort sein zu müssen.“
Obwohl sie in Vollzeit eingetragen war, war Tamsin bereits kurz vor 14 Uhr Zuhause. Aufgrund der morgendlichen Abwechslung konnte sie ihre übrige Freizeit wieder sinnvoll nutzen, ohne sich zu Tode zu langweilen. „Mir wurden die wichtigen Dinge im Leben wieder bewusst.“  

Nach Feierabend hat ihr Dad zwar immer noch gekocht, aber Tamsin konnte lernen, die wichtigen Dinge, die sie hat, wieder zu schätzen. Bei BQOH hat sie gelernt, dass jeder Mensch wertvoll ist. Dass auch sie etwas kann. Dass das Leben schön sein kann. Und dass es Hoffnung für sie gibt. Auch wenn sie diese nicht immer gleich erkennt.  

Bei BQOH hat Tamsin sich oft mit Wohnungssuche beschäftigt. Sie wollte in der Stadt wohnen, damit sie alle Geschäfte zu Fuß erreichen kann. Dann könnte sie in Teilzeit arbeiten, weil sie dabei anders als wie in Vollzeit mit weniger Geld zurechtkommen würde. In Vollzeit zu arbeiten, nur um ein Auto und unnötigen Luxus zu finanzieren, ist für sie ein NoGo 
In der Maßnahme kam das erste Mal eine betreute WG zur Sprache. Die dortige Chefin hat Tamsins Probleme mit den Ängsten schnell erkannt; wusste, dass Tamsin mehr brauchte, als nur eine eigene Wohnung.
Und so fing alles an.

Der Anfang bei BQOH bereitete Tamsin nahezu Panik. Zwei Tage zuvor bekam sie Ausschlag, der zwei Tage später wieder weg war.
Die Eltern brachten sie hin, ehe sie zwangsläufig lernen musste, mit dem Bus zu fahren. Einige Teilnehmer hatten sie darin eingewiesen. Aus Angst vor Menschen Kontakt ging sie in den Verkaufsbereich. Dort fand normaler Unterricht statt. Arbeitsblätter ausfüllen und mal was vorlesen. Ein anderer Grund für die Wahl dieses Bereiches war ihr Platz, den sie am ersten Tag direkt neben der Toilette erhalten hat. Die hatte nämlich Angst, dahin zu gehen, und das hätte sie wohl nicht geschafft, würde sie am anderen Ende des Gebäudes in einer anderen Gruppe sitzen.
Jeder Tag begann mit Frühsport. Der durchschnittlich 2 Kilometer lange Weg durch oder um die kleine Stadt hat ihr am Ende richtig Spaß gemacht. Nicht immer haben sich Menschen mit ihr unterhalten, dennoch fühlte sie sich dabei wohl.
Ausflüge gab es anfangs wenige. Während der Sommerzeit vermehrte sich dies. Dies war immer ganz schön. Küche, Verkauf und Pflege, die drei Gruppen kamen dabei zusammen. Es wurde immer Kaffee und Brötchen mitgenommen. Manchmal haben wir draußen im Wald gegessen. Oder anderweitig unterwegs.
Projekte bereitete ihr nach dem Wechsel in den Pflegebereich große Freude. Dort wurden beispielsweise Plakate über Pflanzen oder die Elemente erstellt. Hauptsache ich wurde dabei am Computer gearbeitet, wo sie die einzige war, die sich mit dem Programm auskannte und den anderen immer alles erklären musste. Diese Projekttage hatten ihr solche Freude bereitet, dass sie es an einigen Tagen sogar bedauert hat, früh Feierabend zu haben. Ungefähr 45 Minuten vor Ende der Maßnahme und bevor auch alle anderen gingen, abgesehen von denen, die auch mit den Bus fuhren, hatte sie Schluss. Einen späteren Bus, mit dem sie erst nach 14 Uhr zu Hause gewesen wäre, musste sie nicht nehmen.
Der ein Leiter des Verkaufsbereich ist war Fotograf. Während der Ausflüge war das Fotografieren und Filmen erlaubt. Es gab keine Datenschutzbestimmungen. Nach jedem Ausflug wurden alle gemachten Aufnahmen in einer whatsapp-gruppe miteinander geteilt. Tamsin hatte während der Maßnahme zwei Fotopräsentationen erstellt, in denen die Bilder zusammen mit thematisierte Musik vorgeführt wurden. Auch das fanden alle sehr toll.
Tamsin hatte wirklich Glück, dass er es diese Maßnahme gab. Dort war sie glücklich. Die Leute dort waren sehr nett. Alle. Im Pflegebereich herstellt nahezu ein familiäres Klima. Man hat sich gegenseitig unterstützt. Niemand wurde geärgert oder ausgelacht. Abgesehen von einer kassiertätigkeit, die eigentlich gar nicht so unangenehm war, weil nur die anderen Teilnehmer die sich Brötchen kaufen abkassiert werden mussten, gab es keine unangenehmen Aufgaben.
Bis auf eine kurze Phase, in der die Chefin in Urlaub war und die Vertretung veranlasste, dass Tamsin den Bereich wechseln sollte. Im Verkaufsbereich war sie schon. Im Pflegebereich kennt sie bereits alles. Daher sollte sie in die Küche. Dort hat es ihr natürlich gar nicht gefallen. Anstatt die ganze Zeit zu setzen, zu schreiben oder zu zuhören, sollte sie von da an den halben Tag lang stehen. Hilfsarbeiten in der Küche verrichten. Sachen zuschneiden. Am Kochtopf selbst durfte sie so gut wie nie stehen, weil sie nicht kochen konnte und niemand ihr dich zugetraut hat. In der Maßnahme wurde nur einmal wöchentlich gekocht. Der Koch war am Dienstag da. Tamsin wollte nicht in diesem Bereich bleiben. Wollte keine Zwiebeln schneiden. Wollte keine Schmerzen vom langen Stehen haben.  Die Anleiterin des Küchenbereichs war ein bisschen streng und zickig. Tamsin hat geweint. Jedenfalls nur, wenn es niemand sah. Doch anfangs durfte sie nicht zurück in ihren alten Bereich. Erst, als die Chefin wieder kam und ein Gespräch geführt wurde, wurde sie widerstrebend in den Pflegebereich zurück gelassen.

Im Sommer wurde ein Grillfest veranstaltet. Mit spielen und Musik.
Zum Ende der Maßnahme wurde eine Bootsfahrt in Lübeck veranstaltet. Es gab ein großes Abschlussessen.



2017 – JobB. „JobB bedeutet Kummer!?“

Da die alte Maßnahme leider ausgelaufen war und keine Verlängerung mehr stattfand, worüber alle sehr traurig waren, hatte Tamsin einige Monate Pause gemacht, ehe sie einen allesverändernden Anruf bekam. JobB – eine neue Maßnahme für Frauen wurde eröffnet, hieß es.

Zwischendurch war sie im FAW, einer Werkstatt (1€ Job), die sie nach 2 Wochen wieder verlassen hatte, weil sie mit den Männern und der Arbeit nicht klar kam.

Bei dem Wort „JobB“ rutschte ihr Herz ein ganz kleines Stück tiefer, spürte sie bei der Erinnerung an damals, 2007, wo sie von morgens bis abends in einer JobB-Maßnahme auf den Beinen war, Schmerzen ertrug und dennoch weiter geschuftet hat. Einzig der Gedanke, dass dies nach einem Jahr wieder vorbei sein würde, verlieh ihr damals die Kraft, es zu überstehen. „Ich konnte kaum noch gerade gehen, meine Füße schmerzen vom ewigen Stehen und Gehen, als würde man mir rostige Nägel eingehämmert haben. Mein Rücken schmerzte, und die Behauptungen der Anleiter, ich würde mich noch daran gewöhnen, trieben mir nach Feierabend stets die Tränen in die Augen.“
Kaum zuhause, muss Tamsin sich setzen – und da bleibt sie die restlichen drei Stunden des Tages, ehe sie ins Bett geht. „Ich war so kaputt, dass selbst Duschen zu viel für ich war. Mom hat sich uns Essen gekümmert, hat alles erledigt, wie Putzen, Einkaufen, Wäsche und das, wozu Tamsin nur am Wochenende Zeit gehabt hätte – sofern die Motivation dagewesen wäre, es zu tun. „Ich saß jede freie Minute am Computer. Da hatte ich keine Schmerzen und konnte mich ablenken.“

Die Furcht, dass ein derartiges Leben irgendwann zum lebenslangen Alltag werden würde, ist auch heute noch allgegenwärtig.
„Es fällt mir schwer, von diesen Gedanken loszukommen. Die Erinnerungen kommen immer wieder hoch.“ Dieses neue JobB war nicht so unerträglich wie 2007, und doch fühlte Tamsin sich oft, wie in eine alte Zeit zurückversetzt. „Ich muss Dinge tun, die ich nicht mag und finde keinen Weg, diesem Zwang zu entrinnen. Nachdem es zunächst alles ganz harmlos war, wir anfangs sogar um 11uhr Feierabend hatten, um uns langsam an die Steigerung der Arbeitszeit zu gewöhnen und wir nahezu täglich am PC sitzen konnten, fing Anfang 2018 mit dem Wechsel der Chefin die unangenehme Phase an: „Ich muss jeden Mittwoch an die Kasse. Es ist laut und stressig, und der psychische Schmerz ist heute beinahe genauso unerträglich, wie damals der Körperliche. Dienstags muss ich in die HWI. Was ich selbst möchte, ist egal. Wenn gesagt wird, ich soll im stehen alle Arbeits-Schuhe von den Schülern putzen, ja, dann tue ich es.“
Wenn Tamsin am  frühen Morgen mit der Toiletten-Runde anfing, war ihr Tag gelaufen. 13 WCs waren es. Einige waren unnatürlich voll ruiniert, doch noch schlimmer war der Gestank.
Nach der Einweisungszeit ließ die Putzfrau sie das immer öfters alleine machen. Tamsin weiß nicht, ob die derweil anderen Aufgaben nachging, oder eine Pause gemacht hat.

Seit ihre Chefin Anfang 2018 ausgewechselt wurde, gibt es dort keine Freude mehr. Keine Motivation. Kein Tag  mehr, an dem sie mit Freude hingeht. Keine Tätigkeit, die ihr Spaß macht und kaum noch Computerarbeit.
Angeblich hat das Jobcenter veranlasst, dass Tamsin diese Arbeiten ausführen muss, um zu beweisen, dass es ihr wirklich nicht guttut und sie nicht nur sagt, dass sie das nicht machen möchte, weil sie es nicht will. Und, um zu lernen, dass man sich nicht nur die schönen Dinge im Leben aussuchen kann. Frau Ti, die allen Anweisungen und der Bürokratie huldigt, konnte keine Ausnahme machen und Tamsin von den Aufgaben befreien, selbst, wenn diese mit Tränen in den Augen da stand.
Stand Tamsin wie betäubt an der Kasse und kassierte die Schüler ab, stand die Frau gerne daneben und hat Tamsin jedes Mal erahnt, wenn Tamsin die Leute nicht begrüßt oder Danke gesagt hat. Für Frau Ti war das ein Spaß. Es würde Tamsin guttun, meinte die lachend. Ja.
Es war laut. Alle haben durcheinander geschrien. Die Stimmen der Kunden waren kaum zu verstehen.
Anschließend mussten die Getränke zurück in den verschlossenen Raum und der Speisesaal gereinigt werden. Tamsin fand es stets unangenehm, die klebrigen Essensreste vom Boden und den Tischen zu wischen.

„Es gab Zeiten da saßen wir Wochenlang nur im EDV Raum.“ In Vollzeit war das recht ermüdend, aber immer noch angenehmer als die Kassentätigkeit. „Ich fühle, wie es mich verändert. Ich bin leicht reizbar, dauerhaft frustriert und verzweifelt und depressiv. Wenn ich die langen Flure fegen muss und merke, wie mir der Schmerz in den Sohlen aufsteigt und denke, dass ich abends nach Feierabend müde ins Bett falle, komme ich mir vor, wie in eine alte Zeit zurückversetzt.“ Das Schicksal ist wie ein Boomerang, der immer wieder zu mir zurückkommt. „Es gibt gute Zeiten, doch die schlechten kommen immer wieder zurück, schlagen auf mich ein und treffen mich da, wo es wehtut.“

Als Tamsin zwischendurch in die WG einzog, bekam sie jeden Montag frei, um an den dortigen Kochgruppen teilnehmen zu können. Freitags musste sie nach dem WG Frühstück los. Die alte Chefin sagte, es nur am Anfang zur Eingewöhnung so, die neue Chefin meinte dann, sie könne auch diesen Tag frei nehmen, da es sich nicht lohnte, für 2 Stunden hinzukommen.
Plötzlich war die auch wieder weg.

Erst gegen Mitte 2018 fing die Maßnahme an, ihr wahre Freude zu bereiten. Sie durfte am PC Geschichten schreiben. Alle Leute waren davon begeistert. Tamsin bekam Teilzeit, durfte nun immer eine Stunde früher heim. Zusammen mit den übrigen beiden freien Wochentagen war dies recht entspannend. Die neuen Anleiter waren nett und es gab kaum noch üble Zwänge. Nervig war nur der lange Weg dorthin und zurück.
Anfangs hat Tamsin geweint, nach JOBB zu müssen. Am Ende hat sie fast geweint, weil sie es nichtmehr durfte. „Ich durfte Geschichten schreiben, die dann der Gruppe vorgelesen wurden.“ Das war schön! Ich bekam Lob und Anerkennung. Habe mich nützlich gefühlt.


Ende 2017 – Tamsins Auszug

Anfang 2016, als Tamsin zu JOBB kam, hat sie von dem Thema „Auszug in eine WG“ berichtet. Ihre neue Chefin tat alles, um sie in der Sache zu unterstützen und den Auszug zu beschleunigen. Hat mit ihr diverse WGs besichtigt.
Eine neue Stadt kam für Tamsin nie in Frage. So weit weg von den Eltern. "Ich habe mir 3 WGs in verschiedenen Städten angeschaut. Eine sogar in Lübeck." Als sie dort das gemeinsame Badezimmer sah, schwand ihre Begeisterung. Sich ein WC mit anderen zu teilen – mit Fremden? Überall lag Wäsche herum, es war unordentlich... das war schier unerträglich.  

Letztlich war ihr Bedürfnis nach Freiheit größer als diese Sorgen.
Tamsin hat sich für eine neue Stadt entschieden, weil dort eher ein Platz frei werden würde. Tamsin tat es, weil sie einfach raus wollte, egal wohin. Davor hatte sie Angst, aber letztlich ist diese neue Stadt viel schöner, als das tote Kaff, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte - mit leerstehenden Passagen und schlechten Geschäften. Das modernste dort ist McDonalds.

Am 4.10.17 nahm Tamsins Leben eine ereignisreiche Wende: Sie erfüllte sich ein Wunsch, von dem sie seit Jahren träumte: Sie konnte das Elternhaus verlassen!
Tamsin zieht in eine psychosoziale WG, weg von ihren Eltern. Von nun an muss sie ihr Leben alleine meistern. Von diesem Tag an war sie auf sich alleingestellt. Musste alles, was ihre Eltern stets für sie taten, alleine erledigen – was ihr aufgrund ihrer Ängste unmöglich ist.  
„Das Haus liegt in einer 30 Min. Autofahrt entfernten Stadt. Direkt in der Stadtmitte an einem See.“
 
Ja… Jeden Tag hatte sie nach Wohnungen geschaut, Anzeigen durchforstet, aber nur selten eine gefunden, die im Stadtzentrum lag und bezahlbar wäre. Und dann bekam sie immer nur Absagen. Vielleicht sollte es so sein. Mit ihren Phobien hätte Tamsin wohl kaum alleine leben können. 



Das Leben in der WG

Trotz anfänglicher Verzweiflung und JOBB hat Tamsin sich dort gut eingefunden. Sie hat gelernt, alleine einzukaufen und wird langsam mutiger. Da das Haus direkt im Zentrum liegt, gibt sie der Versuchung in die Geschäfte zu gehen gerne nach.

Das Haus, in das sie einzog, war gut. Dort hat sie ein eigenes Bad. Und auch die Betreuer erschienen ihr schon damals am nettesten. Offen. Freundlich. Zusammen mit der Lage des Hauses schien diese WG wie für sie gemacht.  

Ein halbes Jahr nach dem Umzug: 
Tamsin fühlt sich dort wohl. Die Leute sind nett. Bei Gruppengesprächen wird sogar auf die Ruhigeren Rücksicht genommen. Niemand wird ausgegrenzt. Das gemeinsame Kochen macht ihr Spaß. Bisher kam es erst einmal vor, dass sie etwas nicht essen mochte. Blumenkohl. Tamsin hasst auch Zwiebeln, und auch darauf nehmen die anderen RücksichtNaja, meistens. Tamsin muss sie nichtmehr schneiden.

Ein Jahr später:
Alte Sorgen schwinden, neue tauchen auf. Einkaufen ist kaum mehr ein Problem. Dafür Busfahren. Tamsin weint, wenn sie daran denkt, mit dem Bus an fremde Orte zu fahren. Auch wegen den hohen Kosten. Kann sie sich das auf Dauer leisten?
Freunde hat sie immer noch keine Gefunden.
Die Diagnose geht voran.
Anstelle in eine neue Maßnahme kam Tamsin in die Tagesstätte.

1,5 Jahre nach dem Umzug:


2018 - Tamsins längster Freund

Dave ist seit ca. 4 Jahren, wo sie ihm im Internet kennenlernt hat, ihr geheimer Freund. Ihr Geheimnis. Der Kontakt macht sie Glücklich.

Dave hatte sich schon früher mit ihr treffen wollen. Aber da Tamsin bei den Eltern gewohnt hat, ging das nicht. Sie wollte nicht, dass es wie damals mit Rene wird. Dass sie nur auf die Eltern angewiesen ist, die sie immer hinfahren und abholen, immer dabei sind und alles wissen wollen. Das hätte sie nicht noch einmal ausgehalten. Also hat sie ihn verschwiegen. Sie musste mit dem Treffen warten, bis sie ausgezogen war. Ein Grund, weshalb sie diesen Auszug so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Egal wohin. Na ja, egal in was für ein Haus. Der Ort war nicht egal. Sie wollte immer im Stadtzentrum wohnen. Dieser Wunsch hatte sich Ende 2017 erfüllt.
Dabei hatte sie die Hoffnung auf diesen Menschen schon einmal gänzlich aufgegeben. Zum einen, weil er gesagt hatte, dass er Musik macht. Er ist schlank und sieht gut aus. Tamsin hielt sich für minderwertig gegenüber solchen Menschen. Und auch auf seinen Bildern erschienen sein Äußeres dem ihren weit überlegen. Tamsin ist etwas korpulent, arbeitslos und wohnt bei den Eltern. Dazu die Angststörung. Welcher Mann würde so jemanden schon wollen!?
Für eine ganze Weile brach der Kontakt ab, was Dave schade fand. Aber Tamsin war sich sehr sicher, dass sowieso nichts draus werden würde. „Ich ließ den Kontakt abbrechen. Wollte uns eine Enttäuschung ersparen. Ich dachte, er wäre so ein „cooler“ Typ, der mit meinen Problemen/Charakter nicht umgehen könnte.“
Erst kurz vor ihrem Umzug hatte sie beschlossen, wieder mit ihm zu schreiben. Und sich mit ihm zu treffen. Er war freundlich und die Tatsache, dass er sie in den Jahren, die sich sie virtuell kannten, nie auf intime Dinge angesprochen hatte, ließ ihn in einem guten Licht dastehen. Er war anders als die anderen Männer. Günstig war, dass Tamsin zu dem Zeitpunkt in Lensahn - wo er wohnt - in einer Maßnahme war und täglich kostenlos mit dem Bus dorthin fahren konnte.
„Es kam mir vor, als wäre er traurig, dass ich ihn so sehr/lange auf Abstand halte. Er mochte mich, weil wir viele gemeinsame Interessen haben.“ Irgendwann haben sie sich im Sommer das erste Mal getroffen. Er kam zu Tamsin, in ihre Stadt. Dann sind sie ein bisschen spazieren gegangen, am Wasser, durch die Stadt und haben geredet. Er wirkte vertrauenserweckend, sodass sie beschloss, zu sich nach Hause mit ihm zu gehen und einen Film zu sehen. Dann haben sie Nudeln gekocht; Nudeln gekauft und die dann in der Küche zubereitet und zusammen gegessen. Er war etwas schüchtern. Tamsin war nervös. Was würde er von ihr halten?
Am Ende sagte er, dass es ihm gefallen hat und er sie gerne wiedersehen würde. Das hat Tamsin gefreut.

Auch ein zweites Treffen gab es. In seiner Stadt. Am Teich im Stadtpark. Saßen auf einer Bank, haben Bier getrunken, ein bisschen gegessen und geredet.
Inzwischen kennen Sie sich in der Wirklichkeit über ein Jahr und alles wirkt harmonisch. Das Gefühl, das es da draußen einen Menschen gibt, der sie mag, erheitert sie. Gleichzeitig macht es sie traurig. Traurig vor Glück?
Tamsin hofft, dass mehr daraus werden wird. Dass ich ihr Leben endlich zum Guten wendet. Ihr Wunsch ist es, irgendwann mit jemanden, vielleicht mit ihm, zusammenzuziehen. Mit jemanden zusammen zu leben, der nett ist und sie so mag wie sie ist. Nebenbei eine gute Arbeitsstelle finden. Eine, an der sie Freude hat. Wo sie nicht in Vollzeit bis abends bleiben muss, damit sie auch noch Zeit zum Leben hat. Zeit, das Leben zu genießen. Und dabei trotzdem unabhängig ist. Ihr eigenes Geld verdient. So viel, dass es zum Leben reicht. Sie würde dafür auch auf ein Auto und andere teure Sachen verzichten, wenn dies mehr freie glückliche Lebenszeit bedeutet.
Irgendwann mag sie auch ein Kind haben. Und für das will sie auch Zeit haben. Sie würde es nicht in einen Kindergarten abschieben, wo andere es erziehen und es von anderen Kindern womöglich geärgert wird. Und abends müde heimkommen – und zu müde zu sein, sich mit ihm zu beschäftigen.
Trotz der Harmonie plagen Tamsin zwischendurch Zweifel, ob er wirklich der Richtige für sie wäre. Sicher, sie ist froh, dass es einen Menschen gibt, der sie wirklich gernhat. Aber…
Die Zukunft ist ungewiss.

Dann ist (war) da auch noch Don.
Auch den kennt sie beinahe vier Jahre übers Internet. Angeblich sei er in sie verliebt und wolle sie unbedingt treffen, sie heiraten. Weil die Entfernung doch etwas größer ist und es daher so schwierig zum Treffen kommt, meinte er, dass man sich direkt eine gemeinsame Wohnung suchen kann und sich weiter kennenlernen kann, wenn man zusammenwohnt. Jemanden heiraten, die man ausschließlich über den Computer kennt und er zweimal gesehen hat. Der aufdringlich ist und sehr nervig sein kann?
Tamsin kann den Kontakt jedoch nicht abbrechen. Auch wenn sie weiß, dass es falsch ist, zwei Männer in ihrem Leben zu haben. Zwar ist sie mit ihm nicht zusammen und will das auch nicht, aber er will es und glaubt, dass es so ist, und das ist falsch.
Manchmal stützt sie sogar ihre letzte Hoffnung auf ihn. Wenn es mit Dave nichts wird und höhere Mächte sie irgendwann zwingen, das genormte Standard-Leben der Menschheit zu führen, welches nur aus Arbeit essen und schlafen besteht. Vollzeit. In einem Job der anstrengend und schmerzhaft ist. In einer Fabrik, wo man täglich 8 Stunden stehen muss.  Oder in einer Behindertenwerkstatt. Ewiges Unglücklichsein wie in der Maßnahme 2007. Ja, dann denkt sie, dass sie zu ihm flüchten kann. Sie könnte ihn heiraten. Dann wäre sie nicht mehr allein und müsste nicht dieses elende Leben führen. Auch wenn er sich für sie sogar die Haare lang wachsen lässt, weil sie sowas mag, weiß sie nicht, ob sie mit ihm glücklich werden könnte. Er ist aufdringlich. Oft gibt es Streit.
2019 stellte sich dann heraus, dass alle seine Versprechen gelogen waren. Er wäre nie der perfekte Mann mit den langen Haaren, der alle ihre Träume wahr werden lassen kann. Er wollte lediglich eine Frau fürs Bett. Na ja, vielleicht wollte er wirklich heiraten und eine Familie gründen, aber um das zu kriegen, hätte er ihr sogar das Blau vom Himmel versprochen!
Gut, dass Tamsin sich rechtzeitig von ihm lösen konnte.


2019 – Tagestätte und Therapie

Ende 2018 ging Tamsin nach JOBB in die Tagestätte über. Dort soll sie den sozialen Kontakt mit Menschen erlernen. Dies fällt ihr sehr schwer, vor allem, weil dort viele Leute sind, die Tamsin aufgrund ihrer Zurückhaltung wenig Beachtung schenken.
Zwischendurch fährt sie mit dem Zug nach Lübeck zur Diagnostik. Ihre aktuellen Diagnosen sind nicht mehr sonderlich zutreffend. Erst, wenn man genau weiß, was mit Tamsin los ist, kann ihr geholfen werden. Anfangs hatte ihre Betreuerin sie nach Lübeck gefahren und dort begleitet. Es dauerte, bis Tamsin sich den Weg mit dem Zug alleine zugetraut hatte – und das auch nur, weil ihr eine Mitbewohnerin alles gezeigt und erklärt hatte.
Während ihrer Tagesstätten Zeiten erlebt Tamsin ein ständiges Auf und Ab von Gefühlen. Mal ist sie Glücklich. Mal traurig. Dann wieder fröhlich – bis ein einziges falsches Wort von jemandem ihr erneut Tränen in die Augen treibt. Erlebt hatte sie diese Gefühlsschwakungen zuerst immer nur, wenn sie mit den Eltern unterwegs war und diese einkaufen wollten. Das hat immer so lange gedauert und Tamsin hatte keine Lust, hat im Auto gewartet, während der Zorn in ihr brodelte. „Es war, als wäre ich ein anderer Mensch.“
Während Jobb 2016 erlebte sie rasche Schwankungen von Freude in trauriger Verzweiflung, als sie immer wieder im Kiosk arbeiten musste. Diese Stimmungsschwankungen vertieften sich, als die Maßnahme vorbei war – und das so sehr, dass bereits einfache Anweisungen von den Betreuern in der TS ausreichten, ihre Stimmung umzukippen. Aufgaben, die ihr damals keinerlei Probleme bereitet hatten. Tamsin spürt, wie dies sie beeinträchtigt. „Obwohl ich glücklich sein sollte, jeden Tag ausschlafen zu können und vor 14 Uhr zuhause bin, muss ich mich ständig über Probleme ärgern, die eigentlich gar keine sind.“


Mein Wunschleben – oder nur ein Traum?

Tamsin wünscht sich, das Leben zu leben, das sie sich selbst vorstellt. Und nicht das Leben, das andere ihr vorschreiben.
Tamsin möchte eine Wohnung im Stadtzentrum. So nahe von allen Geschäften und Ärzten, dass sie nicht auf Busse angewiesen ist, um dorthin zu gelangen.
Tamsin sucht einen Job in Teilzeit. Sie will arbeiten, aber sie will auch noch Leben und nicht regelmäßig abends um 17 Uhr heimkommen, um Müde ins Bett zu fallen und nur noch an den Wochenenden Zeit für schöne Dinge haben. So, wie damals 2007, als sie den ganzen Tag putzen musste. Außerdem muss der Job ihr Leben bereichern und ihr Freude bereiten! Um den geringen Verdienst bei Teilzeit auszugleichen, würde sie auf ein Auto verzichten - welches sie gar zwingend nicht bräuchte, würde sie direkt in der Stadtmitte wohnen.
In ihrem Traumleben heiratet Tamsin einen Mann mit langen Haaren. Ihr Traummann respektiert all ihre Wünsche und zwingt sie nicht, Dinge zu tun, die sie nicht mag. Er weiß Ordnung zu schätzen und raucht nicht. Reist mit Tamsin an die Orte, an die sie schon immer wollte. Hat gleiche Interessen wie sie.
Tamsin hat nichts gegen ein Leben als Hausfrau, in dem sie kocht, putzt und alles Wichtige erledigt, während der Mann arbeitet.



Diagnose

In ihrer Kindheit war Tamsin sehr ruhig. Weil sie sich nie getraut hatte mit den anderen Kindern zu sprechen, machte sie in der Grundschule mit dem Werfen von Stiften durch das Klassenzimmer auf sich aufmerksam. „Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind bei zwei Psychologen war. Die konnten mir nicht helfen, woraufhin mein Vater beschlossen hatte, dass keiner mir helfen kann und ich zu keinem mehr hin gehen solle.“
Mit 12 oder 13 war Tamsin bei einer älteren Psychologin. Anfangs war sie dort gerne. Die Sitzung bestanden daraus, dass Tamsin ihr lustige Aufnahmen von sich auf MC Kassette vorgespielt hat. „In dem Alter habe ich mich oft, wie ich singe oder quatsch rede aufgenommen.“ Die Frau fand das gut, und Tamsin hat das auch Spaß gemacht. „Angeblich wurde diese Therapie dann nach einigen Monaten beendet, weil ich mit ihr nichtmehr gesprochen habe.“, wurde damals gesagt. Die Erinnerung ist schwach.
Ein anderer Psychologe war auf Fehmarn. Es begann damit, dass Tamsin Blut abgenommen wurde. Weil er im Arm keine Vene fand, wurde die Hand genommen. Mehrmals wurde zugestochen, was Tamsin überaus unangenehm war. Danach war sie kein zweites Mal dort.

Ratschläge bezüglich Therapie von Lehrerin aus der Schule wurden vom Vater abgelehnt. Er glaubte, die würden nur wollen, dass Tamsin als Behindert eingestuft und dann kein normales, selbstbestimmtes Leben mehr führen könne.

Obwohl Tamsin bereits in früher Kindheit durch ihre Andersartigkeit auffällig wurde, erhielt sie ihre erste Diagnose erst im Jahre 2015. Und das auch nur, weil die nötig war, damit Tamsin die betreute WG einziehen konnte.
Die Diagnose dauerte weniger als 3 Sitzungen und beinhaltete Sozialphobie, selek. Mutismus und Angststörung. „Der Psychologe wollte die Praxis zeitnah verlassen, sodass für intensivere Gespräche kaum Zeit war. Letztlich war es eine Zusammenfassung aus Vermutungen der Betreuerin aus BQOH, dem Arzt und Google, aus dessen Suchergebnissen ich meine Probleme besagten Störungen zugeordnet hatte. Am Schluss wurde die Diagnose von der Sprechstundenhilfe ausgedruckt, weil der Arzt dann schon nichtmehr da war.“

Ende 2017 zog Tamsin in die WG ein. Der dortigen Betreuerin fiel auf, dass die angegebenen Diagnosen nicht so recht mit Tamsins Verhalten übereinstimmten und veranlasste eine erneute Diagnose bei einer Ärztin in Lübeck. Diese dauerte ein ganzes Jahr aufgrund der Wartezeiten zwischen den freien Terminen. In dieser Zeit lernte Tamsin, alleine mit dem Zug dorthin zu fahren, was anfangs undenkbar war.
Eine ganze Weile wusste Tamsin nicht, wie es mit ihr weitergehen würde. Auch das Jobcenter brauchte die Diagnosen.



Tamsins virtuelle Persönlichkeiten - Ein moralfreies Fakeleben?

Jeeze, Jum und Hanabi

Tamsin kennt nicht viele Personen. Diese Wenigen kennen jedoch viele Persönlichkeiten von Tamsin.
Das alles begann im Jahre 2006.
Tamsin war in einem Chat im Internet aktiv. Erst hatte sie dort einen Namen. Doch da sie nie von einer Sache genug haben kann, erstellte sie sich bereits nach kurzer Zeit mehrere Chatnamen (Im Laufe der Jahre wurden es 300).
Anfangs hielt sie es für selbstverständlich, dass alle Menschen sie trotz anderer Namen am Schreibstil erkannten. Bis jemand eines Tages ihre verschiedenen Namen für verschiedene Personen hielt – und Tamsin ebenso so behandelt wurde.
Tamsin hatte beschlossen, die Sache nicht aufzuklären. Nicht zu erzählen, dass die Namen, welche für verschiedene Personen gehalten wurden, alle ihr gehörten. „Plötzlich gefiel es mir.“
Langsam entwickelte Tamsin für ihre verschiedenen Namen unterschiedliche Persönlichkeiten, die wie Charakteren in einem Buch unterschiedlich im Chat auftraten. Wahrscheinlich als Sicherheitsmaßnahme, damit trotz gleicher Altersangaben niemand durchschaute, dass alle Namen dieselbe Person waren. Jeeze war vulgär und albern. Jum war ernst und gewissenhaft. Hinata stets überfreundlich. Tini verhielt sich süß und lieb. Neji eingebildet, arrogant.
Manchmal waren alle diese Persönlichkeiten mit ein und denselben Menschen befreundet. „Wenn Jeeze zu jemandem gemein war, kam Tini um zu trösten.“
Einige wenige durchschaute dieses Spiel, doch es gelang ihr immer, diese Leute von ihren „Freunden“ fernzuhalten.
Es war normal. Selbstverständlich. Nie hätte Tamsin sich etwas dabei gedacht.
Nur einmal packte sie das schlechte Gewissen. „Da war Rin, eine gute Freundin von Jum. Die war wirklich nett. Sozusagen meine beste Freundin. Allerdings konnte sie Jeeze nicht ausstehen. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie hätte mich durchschaut. Daher hatte ich beschlossen, ihr eines Tages die Wahrheit zu sagen. Ich wollte ehrlich sein, nicht mehr lügen. Und ich wollte, dass sie Jeeze mag. Dies ging allerdings nach hinten los. Rin war entsetzt. Hat von da an nie wieder mit mir gesprochen. Danach hatte ich beschlossen, nie wieder ehrlich in dieser Sache zu sein! Nie wieder sollte jemand derartig dunkle Geheimnisse erfahren!“
Tamsin war traurig, diese gute Freundin verloren zu haben.

Dann war da noch Steffi, eine gute Chatfreundin. Die wohnte auf Fehmarn und hatte Tamsin (Jum) an ihrem 18. Geburtstag besucht. „Es war ungewohnt, als sie plötzlich bei mir war. Auch die Eltern waren erstaunt. Steffi hatte Sake und ein gemaltes Bild mitgebracht. Ich war so ängstlich, dass ich kaum gesprochen habe. Sie hat viel erzählt. Anfangs war ich beschämt über die Lügen; die daraus bestanden, dass ihre anderen Chatfreunde, über die wir uns auch unterhalten haben, in Wahrheit alle ich war. Naja, die meisten. Doch je länger sie davon erzählt und es geglaubt hatte, umso normaler wurde es auch für mich über diese „Leute“ zu reden, als wären es wirklich andere Personen.“

Tamsin hatte es nie leicht, Freunde zu finden. Sobald sie Menschen fand, die sie kennenlernte und die sich mit ihr anfreundeten, holte sie ihre anderen Persönlichkeiten dazu. Wusste, wie die Menschen reagierten. Konnte schreiben, was denen gefiel, um gezielt eine Freundschaft aufzubauen. „Wenn ich mit 5 verschiedenen Namen/Persönlichkeiten mit einem Menschen schreibe, ist das genauso „spannend und unterhaltsam“, als würde ich als Einzelne mit 5 verschiedenen Leuten schreiben.

Dabei hatte Tamsin nur selten richtige „Fakenamen“ mit falschen Profilangaben erstellt.
„Paarmal hatte ich mich im Chat als Mann ausgegeben. Mal mit Foto, mal ohne. Ich habe mit Frauen geschrieben, die sich in mich verliebt hatten.“ Zu der Zeit hatte Tamsin keine richtige Chat Freundin mehr, konnte auch keine finden und wurde nur von Männern angeflirtet. Als sie sich dann selbst als Kerl ausgegeben hatte, wurde sie plötzlich wieder von Frauen angeschrieben. Die wollten nicht über Intimes reden, was eine wahre Wohltat war!
„Mit 4 Frauen hatte ich als Kenny und Vincent längere Chat Beziehungen. Mit Liz, Yori, Misa und Blue.“ Die letzte hatte Tamsin dann von sich aus beendet, weil die eine Frau einen Admin kannte, welcher ihr im Vertrauen erzählte, dass Tamsin/Vincent noch weitere weibliche Namen hatte, woraufhin sie Angst bekam, enttarnt und mit allen Namen gesperrt zu werden. Schnell hatte sie es beendet und den Männernamen löschen lassen. Der Kontakt zu Blue war dann weg, worüber diese auch traurig war, da sie Vincent geliebt hatte.

Mehr als 10 Jahre später empfindet Tamsin keinerlei Scham mehr. Zwar erstellt sie sich keine Fakenamen mit falschen Angaben mehr, dennoch ist sie im Besitz mehrerer fiktiver virtueller Persönlichkeiten.
Eine davon entstand ungewollt durch Don. „Don hatte mich bedrängt, darum erschuf ich Tina, die mich von ihm fernhielt.“ Als Ausrede, dass Tamsin keine Lust hatte, sich mit Don zu treffen und mehr, behauptete sie mit Tina unterwegs zu sein und deshalb keine Zeit zu haben. Tina schrieb mit Don, ärgerte ihn, was unterhaltsamer war, als sich mit dem Kerl dutzende Male am Tag über ihre Ablehnung intimer Gesprächsthemen zu streiten. Für ihn war Tina real.

„Heute ist es für mich wie ein Spiel, in dem ich in der Rolle eines anderen stecke. Ich kann sein, wer ich nicht bin. In der virtuellen Welt kann ich schön sein. Mutig. Albern. Arrogant. Alles, wozu ich mich in der Realität nicht traue.“

Jedoch versucht Tamsin auch, das Finden von Freunden unter Fakeangaben zu vermeiden und lieber mit ihrem wahren Ich in Erscheinung zu treten. Denn nur dann kann sie wahre Freunde finden. Telefonieren, treffen.
Dies klappt jedoch noch nicht so gut. „Wenn ich ich selbst bin, bin ich schüchtern. Langweilig. Ängstlich.“

Tina, Karina und Tom.
2019 entstand Karina.
Durch Karinas Entstehung lernte Tamsin Tom kennen. Karina sollte Dons Traumfrau sein. Erschaffen, um ihn so zu verletzen, wie Don damals Tamsin verletzt hatte. „Ich dachte, er wollte mein Freund sein. Weil ich keine Beziehung wollte, hat er über mich Lügen erzählt und wollte mir ein schlechtes Gewissen einreden. Ich hätte ihn bewusst verarscht. Aber das stimmte nicht. Tamsin war ehrlich zu ihm.“
Um es ihm heimzuzahlen, erschuf Tamsin die Illusion seiner Traumfrau, die ihm alle seine Wünsche erfüllen sollte. Er hatte sich in sie verliebt. Ein Leben mit ihr geplant. Und dann kam die für ihn schmerzhafte Trennung. „Es hatte mir Spaß gemacht, Karina zu sein. Ich wusste immer genau, was ich sagen musste, um ihn glücklich zu machen.“
Als Don die Nacht draußen in ihrem Dorf verbracht hatte, weil er sie besuchen wollte – Karina konnte ihn nicht abholen weil sie Aids hat und einen Zusammenbruch hatte, - begegnete er Tom. Bei ihm konnte Don sein leeres Handy kurz aufladen und Kaffee trinken. Dabei lernte Tom Karina kennen, und Tina, über die Don sich ständig beschwert hatte, weil sie seine Beziehungen – zu Tamsin und Karina - zerstört.

Im Laufe des Geschehens, als Don und Tom öfters miteinander Telefoniert und er auch durch Tina langsam erfahren hatte, wie mies Don in Wahrheit ist, verliebte der sich in Karina. Karina war lieb, schwach und bedürftig nach Zuneigung.
Nachdem Don aus Wut alle Kontakte abgebrochen hatte, schrieben Tina, Karina und Tamsin weiterhin regelmäßig mit Tom. Mit dem konnte man sich gut unterhalten.
Tamsin erkannte, dass er trotz des hohen Altersunterschiedes vielleicht ein guter Freund sein könnte. „Er hatte uns drei zum Bootfahren eingeladen. Und zum Essengehen.“
Weil sie ihn nicht absichtlich verletzten wollte, die Wahrheit aber auch nicht erzählen konnte, zog Karina nach der Trennung von Don nach Büsum. Weit weg. „So musste ich keine Ausreden mehr erfinden, warum sie sich nicht mit ihm treffen kann.“
Die direkte Art von Tina gefiel ihm sehr. „Oft war ich traurig, dass es Tina, meine beste Freundin, nicht wirklich gibt!“ Tina muss viel arbeiten, und als Ausrede gegen ein Treffen erfand Tamsin, dass Tina nach Lübeck ziehen würde. Dabei hat Tina versucht, es so hinzudrehen, dass er sich mehr mit Tamsin anfreundet. Denn die kann sich mit ihm treffen. Etwas unternehmen.
Tamsin sehnt sich so sehr danach nicht mehr alleine zu sein, dass sie keine moralischen Grenzen mehr kennt.
Da Karina gegenüber Don verletzlich und schwach erschien, hatte er sich in sie verliebt. Zwar hat diese das nicht erwidert, konnte die Sache trotz einiger Bedenken, wie sehr es ihn verletzen würde, wenn er herausfindet, dass sie gar keine reale Person ist, nicht beenden. Immer hat er sich gefreut, wenn sie online kam und sich mit ihm unterhalten hatte. Er träumt davon, sie eines Tages zu treffen – und mehr. Sie genießt das Gefühl, von einem Menschen „geliebt“ zu werden. Auch, wenn es nicht Tamsin ist, die er liebt und sich alles nur auf virtueller Basis abspielt. „Es ist wie ein Rollenspiel, bei dem man in verschiedene Charaktere schlüpft.“, findet Tamsin.
Niemals würde sie die Wahrheit offenbaren. Nicht nur, weil es ihn sehr verletzen würde, da diese ganzen fiktiven Freundschaften im Grunde nur eine große Lüge sind, sondern auch, weil Tamsin dann wieder alleine wäre. Ohne jemanden, mit dem sie jeden Tag ganz lange und viel schreiben kann. „Dann hätte ich wirklich ein schlechtes Gewissen. Würde mich mies fühlen.“
Eines Tages hatte er ein CB Funkgerät besorgt. Tina hatte ihn darauf angesprochen, woraufhin er zu einer Oma gefahren ist, die von ihren Mann dutzende solcher Geräte im Keller liegen hatte. Tatsächlich hatte er ein funktionsfähiges Gerät gefunden. Dies wollte er Tamsin vorbei bringen. Tamsins Bedenken darüber, dass sie eigentlich eine Lügnerin ist und ihm nur eine Show Vorspielt – wobei sie es nicht macht um ihn bewusst zu verletzen  - halten sich in Grenzen. Zudem wollte sie schon immer so ein Gerät haben. Ihre Eltern waren immer dagegen. Nun lebt sie alleine und kann sich kaufen, was sie will. „Ein schlechtes Gewissen habe ich nur, weil er kein Geld dafür wollte. Dann wäre es ein normaler Handel. Ein Geschäft.“









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