Dienstag, 3. Juli 2018

Palette abschleifen

Tamsin muss endlich ihre Ängste verlieren. Lernen, sich zu artikulieren.

Tamsin muss zum Frauenarzt. Sie hat ein Leiden, dass sich nicht erklären lässt und ihre größte Sorge ist die Antwort: Da kann man nichts machen.

Tamsin muss sich eine neue Buskarte kaufen. Sie muss so viel, aber je öfter sie es tut, umso geringer wird die Angst. Das ist gut. Sie Überwindung ist grauenhaft. Doch die Freude über den Erfolg ist umso größer!

Trotz des schönen Sommerwetters freut sie sich, an diesem Dienstag wieder in der Maßnahme zu sein. Oder gerade deswegen? Sie kann draußen sein, ist unterwegs. Das ist besser als nur drinnen zu sitzen und nichts Sinnvolles zu tun.   



„In der Maßnahme habe ich gesagt, dass ich nicht den ganzen Tag nur häkeln möchte. Daraufhin wurde gesagt, dass ich mit einer anderen Frau eine Palette abschleifen muss. Darauf hatte ich zwar auch keine Lust, aber wenigstens konnte ich dann an der frischen Luft sein. Die geduckte Haltung, da die Palette etwas tief lag, war unangenehm für den Rücken, aber wenigstens vergingen die Zeit dabei schnell. Immerhin hatte ich dabei noch Glück. Letzte Woche dürften die anderen Leute die drei übrigen Paletten abschleifen. Die lagen dann auch noch auf dem Boden. Und Handschuhe gab es da auch noch nicht. Nebenbei wurde ein ersten geplant. Morgen wollen wir zusammen essen. Dazu wurde heute noch eingekauft. Einige bringen etwas mit und die anderen tun es vorher in der dortigen Küche zubereiten. Ich habe Pesto vorgeschlagen. Das soll ich dann selbst machen. Er scheint mir müßig, aber ich bin froh, dass es etwas geben wird, was ich gerne esse und nichts, dass ich nur esse um überhaupt etwas im Bauch zu haben, egal ob es gut schmeckt oder nicht. Wie durch ein Wunder durfte ich heute früher gehen. Na ja ich durfte einen früheren Bus nehmen, weil ich bei dem anderen immer so lange warten muss. Es ist seltsam aber ich freue mich. So habe ich weniger Stress zu Hause mit dem Essen und dem später anstehenden Arzttermin. Wir waren gerade beim Einkaufen als es 1:45 Uhr war und ich zum Bus gehen durfte. Die Angst vor dem Arzttermin hält sich in Grenzen. Viel größer ist die Sorge über mein aktuelles Unbehagen in meiner Unterkunft. Ich weiß nicht ob ich mich hier noch so richtig wohl fühle. Ich möchte gerne ein freier Mensch sein. Frei von Ängsten und frei, alle Entscheidungen allein zu treffen. Das betrifft hauptsächlich die Sache mit Dave. Für andere wäre sowas selbstverständlich. Sich mit jemanden zu treffen, oder das auch länger. Ich hingegen habe ständig Angst, dass die Betreuer etwas mitbekommen und ich dann Ärger bekomme. Einfach immer noch wegen der Tatsache, dass die gesagt haben, dass ich nur mit vertrauten Menschen aus meiner Gruppe Kontakt haben soll. Ich bin richtig frustriert, wenn ich mir jetzt schon vorstelle, den kommenden Geburtstag in einigen Wochen nicht wie damals immer gewollt zu Hause mit Freunden feiern zu können. Denn wie sollte ich das erklären? Dummerweise ist das nämlich an einem Mittwoch.
Eine Sache ärgert mich allerdings dann doch mehr als gedacht. In der Maßnahme haben wir andere Pausen als die Schüler, weil wir eine andere Gruppe sind. Die haben um 12 Uhr Pause und wir um 13 Uhr. Bedeutet, dass die ihr Essen stand schon immer um 12 Uhr bekommen. Wir hingegen eigentlich nicht. Heute war es so, dass es Baguettes gab, ich aber keins abbekommen habe. Und eine Stunde später waren die auch längst kalt. Übrig blieben nur die mit Salami. Dass uns dann die kalten Reste angeboten werden die die Schüler nicht Essen, ja, das ärgert mich. Vor allem da ich es so sehr hasse, nachmittags so ausgehungert nach Hause zu kommen. Dieses Hungergefühl ist einfach Elend. 8 Stunden bin ich unterwegs, 6 Stunden in der Maßnahme. Und dort gibt es nichts außer das trockene Toastbrot oder den Kuchen, den ich mir mitnehme. Jetzt also nächste Woche sind Ferien. Da ist kein Koch da, war ja auch keine Schüler da sind. Vor kurzem war es noch so, dass die Pause um 12 Uhr für alle war. Aber da die Vollzeit Leute jetzt bis um 16 Uhr bleiben müssen, wurde das geändert. Na ja anstatt mich zu beklagen sollte ich froh sein dass ich nicht mehr dazu gehöre, denn dann würde ich einen Bus um 16:30 Uhr nehmen müssen und wäre erst um 17 Uhr zu Hause. Einen ganzen Tag nichts Warmes essen, das ist für viele Leute normal und einige Essen eine ganze Woche nur kalt. Aber ich bin es so nicht gewohnt. Ich finde sowas abnormal. Ich fühle mich unwohl, wenn ich selbst am späten Nachmittag erst Warmes essen bekomme und den ganzen Tag über Hunger und muss oder mich mit anderen Unappetitlichkeiten über Wasser halten muss. Ja, das ist die Norm der Gesellschaft. Das ist normal und jeder hat sich anzupassen und wer sich weigert oder auch nur den Mund aufmacht wird doof angeguckt.“

Sie ist stolz auf sich, dass sie sich beim Frauenarzt so gut wie angstfrei ausdrücken konnte. Angeblich wurde sogar die Ursache ihres neun Monate andauernden schmerzhaften Leidens gefunden. Nun hat sie allerdings eine Creme bekommen, die sich allgemein Wundsalbe nennt. Also nichts Besonderes. Dass so etwas Banales bei einem so komplexen leiden tatsächlich komplett helfen soll, na ja, sie hat da so ihre Zweifel. Aber sie werde es erst mal ausprobieren. Eine andere Wahl hat sie ja wohl nicht.


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