Trotz
des heutigen Ereignisses geht Tamsin in guter Stimmung in die Maßnahme. Das
Wetter ist toll, warm, ihr ist heiß, das ist schön.
Nun
wo neue Anleiter da sind geht alles wieder von vorne los. „Ich muss alles
wieder neu erklären. Alle meine Abneigungen und warum ich so bin wie ich bin.
Das macht keinen Spaß. Heute war mit der Gruppe kochen geplant. Wir alle sind
in die Küche gegangen. Allerdings nehmen die neuen Anleiter die Regeln in der
Einrichtung nicht ganz so ernst wie Frau Ti. Wir mussten nicht die unbequeme
und ausgeleierte Arbeitskleidung und die weißen abgetretenen Schuhe anziehen,
die sonst immer im Küchenbereich Pflicht sind. Auch die ausgefransten roten
Mützen fielen weg. Entweder wissen die neuen Anleiter noch nichts von den
strengen Regeln, die in diesem Bereich gelten, oder sie nehmen sie echt nicht
ernst und halten sie für überflüssig, da die Wahrscheinlichkeit, dass das
Gesundheitsamt auftaucht und die Arbeitskleidung kontrolliert doch sehr gering
ist. Jedenfalls hat das Kochen denn doch keinen Spaß gemacht. Wie schon früher
in alten Zeiten durfte ich nur Hilfsarbeiten erledigen und selbst nicht am
Kochtopf stehen. Das durften die, die die Gerichte ausgesucht haben. Die
anderen durften Gemüse schneiden. Aber was soll’s. Solange ich nichts tun muss
was mir Schmerzen bereitet ist doch alles in Ordnung. Als plötzlich Zwiebeln
ausgepackt worden bin ich einige Meter zurückgewichen. Uah. Später gab es noch
eine Diskussion über das Thema Zwiebel, in dem ich meine Abneigung betonte. Ich
würde sie niemals schneiden – auf Zwang! Das Essen jedoch war nicht schlecht.
Es gab Reis mit Lammfleisch und Erbsen. Zuerst wusste ich nicht, dass das
kleine braune Zeug wirklich Fleisch war und es hat mir geschmeckt. Das Gericht
wurde von zwei neuen Frauen zubereitet, die aus dem Süden, kommen. Ich glaube
Syrien oder Türkei. Nun, da ich wieder ein Teil der Gruppe sein kann, fällt es
mir auch gar nicht mehr so schwer mit den Leuten zu reden. Es entstehen sogar
einzelne kleine Gespräche. Um 13 Uhr waren wieder alle Teilzeit Leute weg und da
ich als einzige zurückblieb, war ich wieder traurig und frustriert. Die haben
einen warmen schönen langen Tag vor sich, auch die Kinderlosen, und ich muss
noch zwei Stunden bleiben, um dann gestresst nach Hause zu kommen und nicht mal
mehr richtig essen zu können. Aber wenigstens musste ich mich nicht langweilen.
Die beiden Anleiter haben mit mir gesprochen… darüber was ich in meinem Leben
verändern kann und über Essgewohnheiten. Vielleicht wollen wir später in der
nächsten Woche noch mal kochen und dann etwas, wo ich auch richtig mitmachen
kann. Am Abend fand dann noch in der WG ein Gespräch über die Berufsausbildung
statt. Ich habe mir Fragen aufgeschrieben, die ich zwei Mitbewohnern, die dort
tätig sind stellen durfte. Ich habe einiges erfahren. Unter anderem dass man
von 6 Uhr bis 18 Uhr unterwegs ist. 12 Stunden. Mir wurde dann erklärt, dass so
etwas für anstrengend aber ein normales Ausbildungs- oder Arbeitsleben wäre.
Dass man für soziale Kontakte und andere Arbeit nur am Wochenende Zeit hätte.
So ist das Leben. Und einkaufen müsste ich dann eben auf den Rückweg. Obwohl
für meine Sorge und die wenige Belastbarkeit Verständnis aufgebracht wird, habe
ich auch das Gefühl, dass die Tiefe dieser Angst nicht ganz ernst genommen
wird. Weil viele Menschen die eben nicht nachvollziehen können. Die Leben so
sehr in dieser Normalität der Moderne, dass ein anders denken vollkommen absurd
für sie ist. Ein acht Stunden Tag ist eigentlich das gesetzliche Maximum. Die
Menschheit scheint dies aber eher als Minimum oder Standard zu betrachten.
weniger geht nicht. Aber mehr auch nicht. In der Ausbildung würde ich
wahrscheinlich um die 100 € mehr als jetzt zur Verfügung haben. Aber Geld ist
mir nicht wichtig. Und es spielt auch gar keine Rolle mehr, wenn ich keine
freie Lebenszeit mir zur Verfügung hätte, um es auszugeben. Ich weiß, dass es
genauso werden wird wie im Jahr 2007. Von 18 Uhr bis 5 Uhr nachts schlafen,
selbst das wäre mir zu wenig. Und dann soll ich auch noch auf Schlaf zusätzlich
verzichten, um Pflichten zu erfüllen, für die am Wochenende keine Zeit wäre.
Wie Duschen. Ein solches Leben wäre mein manifestierter Albtraum. Teilzeit ist
möglich, aber sehr schwer zu erreichen, da die Ämter und Behörden sich da oft
quer stellen. Und dann noch die Sache mit dem Essen. In der Einrichtung stehen
einen täglich zwei Gerichte zur Auswahl. Sich selbst etwas zubereiten darf man
nicht, wegen irgendwelche Hygienevorschriften, wegen denen man die Küche nicht
betreten darf. Dazu wurde mir gesagt, wenn ich die Gerichte nicht mag, muss ich
mir selbst etwas Kaltes mitbringen, oder mir ein Brötchen holen. Kein warmes
Essen. Hm. Nur das essen dürfen, was die anderen vorschreiben. Angeblich wäre
ich diejenige, die sich nichts zutraut und viel zu viel Angst hat vor Dingen,
vor dem man keine Angst haben muss. Weil die normal sind. Dies war nur ein
kleines Beratungsgespräch und nichts Offizielles. Aber ich habe im Leben kein
Glück und so viele Albträume sind bereits wahr geworden. Wieso sollte es jetzt
mal anders werden? Dunkle Gedanken kommen mir in den Sinn. Gedanken, die man
nicht laut aussprechen darf. Andere würden einen dafür verurteilen. Es nicht
verstehen. Vielleicht wird es Tabletten geben, die mich beruhigen und mich
gefügig machen, indem sie dafür sorgen, dass ich dieses Leben lebe. Ob ich will
oder nicht. Oft stelle ich mir vor, wie es wäre, den dunklen Faden zu folgen
und damit den unangenehmen Pflichten zu entrinnen. Ich will einfach nicht mehr
traurig sein. Angeblich kann man mit so einem Leben glücklich werden, aber ich
kann es nicht.“
„Ich
habe Probleme die niemanden interessieren.“ Den ganzen Abend lang kann Tamsin
nichtmehr aufhören zu weinen.
„Eine
ist sehr seltsam. Etwas ist ungewöhnlich. Bei offiziellen Gesprächen und
Kontakten mit fremden Menschen habe ich immer Angst, verspüre eine große innere
Panik, die mir das Herz schwer werden lässt. Ich bin richtig nervös. Sei es in
der Therapie oder wenn ich nur bei der Post ein Paket abhole. Wobei sich
letzteres schon ein wenig legt, da dies nicht allzu schwierig ist. Doch
unterhalte ich mich mit inoffiziellen Menschen, also bekannten oder sogar
Freundin wie Dave, verspüre ich kaum den Hauch einer Angst. Keine Panik, die
mich sprachlos werden lässt. Mit ihm will und muss ich reden, denn durch Schweigen
würde ich nichts erreichen. Warum will ich es und habe die Motivation es zu
tun. Bei offiziellen Gesprächen will ich es zwar auch, dennoch fühlt es sich
irgendwie anders an. Ich habe noch niemanden von ihm erzählt. Dass ich Kontakt
mit einem anderen Menschen außerhalb meines direkten Umfeldes aufgenommen habe.
Ich habe eben Angst davor, wie die Menschen darauf reagieren würden. Meine
Eltern wären natürlich wieder einmal besorgt und aufgeregt. Doch die Reaktion
der Betreuer kann ich nicht einschätzen. Wären sie erfreut? Oder entsetzt?
Ungläubig? Gerade ist es kurz vor 20 Uhr abends und ich habe das Gefühl, als
wäre dieses aufkeimende Glück nur wie ein letzter Sonnenstrahl, der einmal hell
aufflackert, bevor das Licht für immer versiegt.“
„Bin
ich überhaupt bereit für einen Freund? Kann ich mit so etwas umgehen? Es ist
wie bei allen anderen Sachen, wie beim Einkaufen oder einer Kundenberatung. Ich
weiß wie es geht. Ich meine, wie man mit Menschen umgeht. Aber es umzusetzen
ist eine andere Sache. Lohnt es sich überhaupt, es zu versuchen, wenn die
Möglichkeit besteht, dass dieser Kampf sinnlos ist? Ich weiß nicht ob ich
überhaupt fähig bin Gefühle zu zeigen oder zu erwidern. Ich sollte glücklich
sein, solange ich noch kann. Aber die Ungewissheit wie lange das noch sein Weg
nagt an mir. Ich sitze abends im Bett und kann nicht schlafen, weil ich weinen
muss, wenn ich nur an ein Leben mit Vollzeit denke. Und daran, dass ich keine
Wahl haben werde. Wieder habe ich das Gefühl, als steuere ich direkt auf einen
tiefschwarzen Abgrund zu. Ich vermisse die Zeit, als ich noch völlig euphorisch
nach Hause gekommen bin, weil meine alte Chefin mein Roman so gut gefallen hat.
Nun da sie weg ist fragt sie auch nicht mehr nach weiteren Kapiteln, was sie
sonst immer getan hat. Vielleicht war das alles auch nur eine Lüge, erschaffen,
um mich zu motivieren. Denn das war ja ihr Job. Ich habe mir gestern alle alten
Berichte von meinem Eintritt in die Maßnahme durchgelesen. Vom ersten Halbjahr.
Von Ereignissen wie der Präsentation fehlte darin jede Spur. Aber was da drin
steht spielt letztens sowieso keine Rolle. Wenn darinsteht, dass ich tolle
Sachen am Computer erstellen kann, verhindert es auch nicht, dass ich
irgendwann als Putzfrau oder einem anderen wenig erfüllenden Beruf lande. …wenn
andere das von mir wollen. Bin ich krank oder verrückt, wenn ich denke, das
irgendwann und vielleicht schon bald alles für mich vorbei sein wird? Dass dies
ein schöner Sommer aber auch der letzte schöne Sommer für mich sein wird? Und
dass sich die Türen zur Ebene der Ewigkeit mit jeder Träne, die mehr aus dem
Augenwinkel fließt, knarrend ein Stückchen weiter auftut. Heute sollte ich eine
Recherche über die Tabletten machen, die ich nehme. Sollte herausfinden wie die
wirken. Dabei habe ich gelesen, dass es ratsam ist der Arzt auf gewisse
Probleme anzusprechen. Gerade an Tagen wie diesen habe ich das Gefühl, ihnen
nicht mehr gewachsen zu sein.“
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