Donnerstag, 12. Oktober 2017

Tamsins Welten zerbrechen?

Tamsin geht es wieder einmal nicht so gut, wie es sollte. In der Nacht ist sie mit einer panischen Vorstellung aufgewacht: Bei tiefen Minusgraden Kilometerlang unterwegs zu sein. Zu Fuß. Alleine im Dunkeln durch das Dorf zur Maßnahme zu hetzen. Mit glatten Schuhen durch den Schnee. Gute Winterschuhe sind schwer zu finden, und wenn, dann kann und will Tamsin ihre Füße nicht 8 Stunden in dem ducken Felldingern einzwängen „Es ist echt mies. Was mit dem Auto 10Minuten dauert, dauert mit dem Bus über eine Stunde.“ Nicht nur Fahrt, sondern auch der Marsch von der Haltestelle und die Wartezeit miteinberechnet.
Im Sommer ist es ja erträglich. Aber im Winter, bei Sturm und Regen durch die Kälte warten!? „Ich tue alles, um schnell voranzukommen! Einen Job finden, oder was auch immer. Danach ein Auto und eine richtige Wohnung.“ 1 Jahr hat sie Zeit. Indirekt. Der Mietvertrag könnte auch verlängert werden… Bei einer Kollegin ging es schnell; innerhalb weniger Wochen konnte sie die Maßnahme zugunsten etwas Besserem verlassen. Tamsin ist glücklos, aber sie hofft das Beste.
Letztlich weiß sie, dass es niemals so einfach werden wird. Nicht für sie. Das ist es nie.
„Der lange Weg fühlt sich an wie eine halbe Weltreise. Ich muss mich immer wieder selbst daran erinnern, dass dies doch mein Wunsch war. Etwas zu erleben. Mehr als nur Essen, Schlafen und Fernsehen. Das Leben leben und es nicht stumpf an mich vorüberziehen lassen!“

Die Nacht war übel. In ihrer Nase brennt es noch immer. Ihr war übel. Nachts hört sie Schritte im Flur, hat Angst, dass jemand an ihrer Klinke rüttelt. Träumt davon. Jeden Morgen wird sie von einem Rauschen geweckt. Wahrscheinlich ist es der Morgenverkehr auf der nahen Straße.

Nachdem sie nach dem Erwachen ihren Kaffee getrunken und ihren Alltag dokumentiert hat, geht es ihr schon ein wenig besser. Obwohl sie eher ein Außenseiter ist, fühlt sie Vorfreude, ihre Kollegen wiederzusehen. Einst hat sie eine alte Bekannte getroffen, die noch immer in der Werkstatt abreitet, die Tamsin damals verlassen hat und ihr die Maßnahme empfohlen. Nun ist sie auch dort. „Ich finde es schön, alte, nette Leute wiederzutreffen. Da fühlt man sich wohler, als wenn man zwischen eilten Mädels sitzt, die nur über heiße Typen und Schminke diskutieren. Oder lästern.“ Auch wenn sie weiß, dass die, die mit ihr reden, ihr nur Fragen stellen und sie ausfragen.

Da Tamsin heute Therapie hat, fährt sie später in die Maßnahme. Käme der Kontrolleur nicht, hätte sie gestern schon hingemusst, was besser wäre, weil sie jetzt nicht weiß, welchen Bus sie nehmen soll. Die Pläne sind typisch unübersichtlich. Mit ihrer Mom war sie gestern unterwegs, noch einen richtigen Plan zu bekommen, doch selbst am Bahnhof gab es keine du die Busse fuhren ihr immer vor der Nase weg.

Ohne Internet ist ihr schrecklich langweilig. Tamsin hat Sorgen, und da sie keine Freunde hat, fehlen ihr die Foren, in denen sie gerne schreibt.

Nach der Therapie wurde der Tag wahrhaft übel. Tamsin willigt ein, freiwillig in die Maßnahme zu fahren. Sie will nicht den ganzen Tag alleine drinsitzen und dort sind nette Menschen. Doch der Bus kam nicht. Sie ruft an, fährt schließlich mit einem Späteren. Es ist kalt, herbstlich, und sie hat keine Lust weit zu laufen. Tut es aber dennoch. Versucht, sich schöne Gedanken zu machen. Laufen ist gesund, und eigentlich tut sie es gerne. Insgesamt war sie 1:10h unterwegs. 30Min. Busfahren, 30. Min laufen. Und dazu die Wartezeit auf den Bus. So viel Zeit. Für Tamsin ist es eine Menge. Sie äußert ihren Unmut. Doch wie erwartet werden ihre Probleme von anderen kaum verstanden. Tamsin hat in der Vergangenheit oft beweisen, dass sie laufen kann, und daher muss sie es auch tun. „Im Sommer in einer Gruppe durch das Dorf zu laufen ist anders, als im Dunkeln bei Kälte, Sturm und Regen zum Bus zu hetzen.“ Würde sie nur eine Stunde später zur Maßnahme können, würde ihr das alles erspart bleiben. Aber das ist nicht möglich, weil all punkt 8Uhr da sein müssen. Egal wie.
Tamsin fühlt sich unter Druck gesetzt. Zum einen der Umzug; die Umgewöhnung an das Leben, alles von nun an alleine bewältigen zu müssen und dazu der Stress mit den Bussen. Das hatte sie nicht erwartet, als sie der Verlängerung der Maßnahme zugestimmt hat. Ihre Angst um den Zeitverlust und das weite Laufen durch die Kälte treibt sie in der Verzweiflung, und obwohl sie trotz der Ängste stark wirken will, kommen ihr die Tränen in der Öffentlichkeit.

Tamsin hasst ihre Vergangenheit. „Wirklich, hätte ich gewusst, wie wichtig Schule damals war und dass ich als Strafe für meine Lernfaulheit so ein Leben führen müsste, hätte ich mich bemüht! Vielleicht hätte ich dann jetzt einen Job. Ein richtiges Leben.“
Hätte sie gewusst, wie sehr Freunde ihr fehlen würde, hätte sie mehr getan, um alte Bekanntschaften aufrecht zu erhalten. Wäre mehr gewesen, als nur ein passiver Zuschauer, der beim Gang durch die Stadt wie ein Hund schweigend hinterhertrottet und nur zuhört, anstatt selbst das Wort zu ergreifen. So gesehen ist es erstaunlich, dass sie sich überhaupt mit Tamsin getroffen hatten… sie zu sich einluden…

Alles, was ihre Eltern zuvor für sie erledigt haben muss Tamsin von nun an alleine schaffen. Sie muss! Ob wie will oder nicht. Ob sie kann oder nicht. Dadurch entsteht ein seelischer Druck, dem sie kaum gewachsen ist.
Tamsin denkt darüber nach, in eine Angstklinik zu gehen. Vielleicht würde sich ihr Kummer legen, gäbe es den Busstress nicht.  Vielleicht…
Tamsin ist unglücklich mit einer Angst, durch die sie nicht mal alleine Einkaufen gehen kann. Die beste Zeit ihres Lebens hat sie an sie vergeudet. Vielleicht würde ihr in so einer Klinik geholfen werden. Vielleicht.
Vielleicht ist es aber auch die falsche Entscheidung. Vielleicht ist es dort wie in Aukrug, wo ihre Mom zur Kur war. Ein muffiges Zimmer, hartes Bett, und dann die Sache mit dem Essen. Noch kann Tamsin sich machen, was sie will. „Gäbe es dort Sauerkraut mit Schweinefleisch, müsste ich dann an dem Tag hungern, weil ich es nicht mag?“
So viele Sorgen.
Egal, was sie tut. Tamsin macht alles falsch.

Tamsin könnte fragen, ob sie bei Freitäglichen, gemeinsamen Frühstück dabei sein kann und nicht in die Maßnahme muss. Die Chefin würde dies akzeptieren. Doch hier gibt es die Regelung, dass jeder es mal zubereiten muss, und dann müsste Tamsin auch mal alleine den Einkauf machen. Das schreckt sie ab. So sehr, dass sie sogar die Unannehmlichkeiten mit dem Busfahren in Kauf nimmt.

3 Monate. Ausgerechnet nun, wo es Winter wird. Tamsin ist an einem Punkt, an dem sie nichts mit ihrer Zukunft anzufangen weiß. Zuhause sitzen ist sinnlos. Rauszugehen ist anstrengend. Sie fühlt sich unglücklicher als je zuvor „Ich brauche eine Beschäftigung, die mir und auch anderen Freude bereitet.“
Ihren Roman hat sie noch nicht aufgegeben, aber bei ihrer Glücklosigkeit – wenn diese auch nicht gänzlich ist – wäre es ein Wunder, wenn daraus ernsthaft mehr wird, als nur eine Textdatei auf ihrem PC.

Nach Einzug hatte Tamsin eine Mücke, die an der Decke hing, mit einem Zollstock todgedrückt. Als Tamsin nun aufsteht, um wieder eine Mücke zu fangen, von der sie sich nicht erklären kann, wie diese trotz Fliegennetz reingekommen sein könnte, bemerkt sie, dass der schwarze Fleck von der alten Mücke sehr verblasst, ja fast verschwunden ist. In der Ecke darunter hing Tagelang eine kleine Spinne, von der sie ausging, sie wäre ebenfalls Tod. Auch die ist nicht mehr da. „Seltsam. Der Fleck war so groß, dass ich ihn von der Toilette aus sehen konnte. Nun ist er fort.“ War jemand in ihrem Raum und hat es entfernt? Kein Betreuer ist da. Niemand sonst hätte einen Schlüssel. Und warum sollte jemand so etwas tun?
Tamsin ist verwirrt.
Wenigstens hat die Mücke sie aus ihrer Trauer gerissen.


+++

> „Was war besonders schön an diesem Tag?“

Tamsin wurde von einer Kollegin zur Haltestelle mitgenommen, weil sie sonst den Bus nichtmehr geschafft hätte.


> „Wie fühlst du dich?“

Traurig. Hilflos. Entmutigt.

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