Tamsin geht es wieder einmal
nicht so gut, wie es sollte. In der Nacht ist sie mit einer panischen
Vorstellung aufgewacht: Bei tiefen Minusgraden Kilometerlang unterwegs zu sein.
Zu Fuß. Alleine im Dunkeln durch das Dorf zur Maßnahme zu hetzen. Mit glatten
Schuhen durch den Schnee. Gute Winterschuhe sind schwer zu finden, und wenn,
dann kann und will Tamsin ihre Füße nicht 8 Stunden in dem ducken Felldingern
einzwängen „Es ist echt mies. Was mit dem Auto 10Minuten dauert, dauert mit dem
Bus über eine Stunde.“ Nicht nur Fahrt, sondern auch der Marsch von der
Haltestelle und die Wartezeit miteinberechnet.
Im Sommer ist es ja
erträglich. Aber im Winter, bei Sturm und Regen durch die Kälte warten!? „Ich
tue alles, um schnell voranzukommen! Einen Job finden, oder was auch immer.
Danach ein Auto und eine richtige Wohnung.“ 1 Jahr hat sie Zeit. Indirekt. Der
Mietvertrag könnte auch verlängert werden… Bei einer Kollegin ging es schnell;
innerhalb weniger Wochen konnte sie die Maßnahme zugunsten etwas Besserem
verlassen. Tamsin ist glücklos, aber sie hofft das Beste.
Letztlich weiß sie, dass es
niemals so einfach werden wird. Nicht für sie. Das ist es nie.
„Der lange Weg fühlt sich an
wie eine halbe Weltreise. Ich muss mich immer wieder selbst daran erinnern,
dass dies doch mein Wunsch war. Etwas zu erleben. Mehr als nur Essen, Schlafen
und Fernsehen. Das Leben leben und es nicht stumpf an mich vorüberziehen lassen!“
Die Nacht war übel. In ihrer
Nase brennt es noch immer. Ihr war übel. Nachts hört sie Schritte im Flur, hat
Angst, dass jemand an ihrer Klinke rüttelt. Träumt davon. Jeden Morgen wird sie
von einem Rauschen geweckt. Wahrscheinlich ist es der Morgenverkehr auf der
nahen Straße.
Nachdem sie nach dem Erwachen
ihren Kaffee getrunken und ihren Alltag dokumentiert hat, geht es ihr schon ein
wenig besser. Obwohl sie eher ein Außenseiter ist, fühlt sie Vorfreude, ihre
Kollegen wiederzusehen. Einst hat sie eine alte Bekannte getroffen, die noch
immer in der Werkstatt abreitet, die Tamsin damals verlassen hat und ihr die
Maßnahme empfohlen. Nun ist sie auch dort. „Ich finde es schön, alte, nette
Leute wiederzutreffen. Da fühlt man sich wohler, als wenn man zwischen eilten
Mädels sitzt, die nur über heiße Typen und Schminke diskutieren. Oder lästern.“
Auch wenn sie weiß, dass die, die mit ihr reden, ihr nur Fragen stellen und sie
ausfragen.
Da Tamsin heute Therapie hat,
fährt sie später in die Maßnahme. Käme der Kontrolleur nicht, hätte sie gestern
schon hingemusst, was besser wäre, weil sie jetzt nicht weiß, welchen Bus sie
nehmen soll. Die Pläne sind typisch unübersichtlich. Mit ihrer Mom war sie
gestern unterwegs, noch einen richtigen Plan zu bekommen, doch selbst am
Bahnhof gab es keine du die Busse fuhren ihr immer vor der Nase weg.
Ohne Internet ist ihr
schrecklich langweilig. Tamsin hat Sorgen, und da sie keine Freunde hat, fehlen
ihr die Foren, in denen sie gerne schreibt.
Nach der Therapie wurde der
Tag wahrhaft übel. Tamsin willigt ein, freiwillig in die Maßnahme zu fahren.
Sie will nicht den ganzen Tag alleine drinsitzen und dort sind nette Menschen.
Doch der Bus kam nicht. Sie ruft an, fährt schließlich mit einem Späteren. Es
ist kalt, herbstlich, und sie hat keine Lust weit zu laufen. Tut es aber
dennoch. Versucht, sich schöne Gedanken zu machen. Laufen ist gesund, und
eigentlich tut sie es gerne. Insgesamt war sie 1:10h unterwegs. 30Min.
Busfahren, 30. Min laufen. Und dazu die Wartezeit auf den Bus. So viel Zeit.
Für Tamsin ist es eine Menge. Sie äußert ihren Unmut. Doch wie erwartet werden
ihre Probleme von anderen kaum verstanden. Tamsin hat in der Vergangenheit oft
beweisen, dass sie laufen kann, und daher muss sie es auch tun. „Im Sommer in
einer Gruppe durch das Dorf zu laufen ist anders, als im Dunkeln bei Kälte,
Sturm und Regen zum Bus zu hetzen.“ Würde sie nur eine Stunde später zur
Maßnahme können, würde ihr das alles erspart bleiben. Aber das ist nicht
möglich, weil all punkt 8Uhr da sein müssen. Egal wie.
Tamsin fühlt sich unter Druck
gesetzt. Zum einen der Umzug; die Umgewöhnung an das Leben, alles von nun an
alleine bewältigen zu müssen und dazu der Stress mit den Bussen. Das hatte sie
nicht erwartet, als sie der Verlängerung der Maßnahme zugestimmt hat. Ihre
Angst um den Zeitverlust und das weite Laufen durch die Kälte treibt sie in der
Verzweiflung, und obwohl sie trotz der Ängste stark wirken will, kommen ihr die
Tränen in der Öffentlichkeit.
Tamsin hasst ihre
Vergangenheit. „Wirklich, hätte ich gewusst, wie wichtig Schule damals war und dass
ich als Strafe für meine Lernfaulheit so ein Leben führen müsste, hätte ich
mich bemüht! Vielleicht hätte ich dann jetzt einen Job. Ein richtiges Leben.“
Hätte sie gewusst, wie sehr
Freunde ihr fehlen würde, hätte sie mehr getan, um alte Bekanntschaften
aufrecht zu erhalten. Wäre mehr gewesen, als nur ein passiver Zuschauer, der
beim Gang durch die Stadt wie ein Hund schweigend hinterhertrottet und nur
zuhört, anstatt selbst das Wort zu ergreifen. So gesehen ist es erstaunlich,
dass sie sich überhaupt mit Tamsin getroffen hatten… sie zu sich einluden…
Alles, was ihre Eltern zuvor
für sie erledigt haben muss Tamsin von nun an alleine schaffen. Sie muss! Ob
wie will oder nicht. Ob sie kann oder nicht. Dadurch entsteht ein seelischer
Druck, dem sie kaum gewachsen ist.
Tamsin denkt darüber nach, in
eine Angstklinik zu gehen. Vielleicht würde sich ihr Kummer legen, gäbe es den
Busstress nicht. Vielleicht…
Tamsin ist unglücklich mit
einer Angst, durch die sie nicht mal alleine Einkaufen gehen kann. Die beste
Zeit ihres Lebens hat sie an sie vergeudet. Vielleicht würde ihr in so einer
Klinik geholfen werden. Vielleicht.
Vielleicht ist es aber auch
die falsche Entscheidung. Vielleicht ist es dort wie in Aukrug, wo ihre Mom zur
Kur war. Ein muffiges Zimmer, hartes Bett, und dann die Sache mit dem Essen. Noch
kann Tamsin sich machen, was sie will. „Gäbe es dort Sauerkraut mit
Schweinefleisch, müsste ich dann an dem Tag hungern, weil ich es nicht mag?“
So viele Sorgen.
Egal, was sie tut. Tamsin
macht alles falsch.
Tamsin könnte fragen, ob sie
bei Freitäglichen, gemeinsamen Frühstück dabei sein kann und nicht in die
Maßnahme muss. Die Chefin würde dies akzeptieren. Doch hier gibt es die
Regelung, dass jeder es mal zubereiten muss, und dann müsste Tamsin auch mal
alleine den Einkauf machen. Das schreckt sie ab. So sehr, dass sie sogar die Unannehmlichkeiten
mit dem Busfahren in Kauf nimmt.
3 Monate. Ausgerechnet nun, wo
es Winter wird. Tamsin ist an einem Punkt, an dem sie nichts mit ihrer Zukunft
anzufangen weiß. Zuhause sitzen ist sinnlos. Rauszugehen ist anstrengend. Sie
fühlt sich unglücklicher als je zuvor „Ich brauche eine Beschäftigung, die mir
und auch anderen Freude bereitet.“
Ihren Roman hat sie noch nicht
aufgegeben, aber bei ihrer Glücklosigkeit – wenn diese auch nicht gänzlich ist –
wäre es ein Wunder, wenn daraus ernsthaft mehr wird, als nur eine Textdatei auf
ihrem PC.
Nach Einzug hatte Tamsin eine
Mücke, die an der Decke hing, mit einem Zollstock todgedrückt. Als Tamsin nun aufsteht,
um wieder eine Mücke zu fangen, von der sie sich nicht erklären kann, wie diese
trotz Fliegennetz reingekommen sein könnte, bemerkt sie, dass der schwarze Fleck
von der alten Mücke sehr verblasst, ja fast verschwunden ist. In der Ecke
darunter hing Tagelang eine kleine Spinne, von der sie ausging, sie wäre
ebenfalls Tod. Auch die ist nicht mehr da. „Seltsam. Der Fleck war so groß,
dass ich ihn von der Toilette aus sehen konnte. Nun ist er fort.“ War jemand in
ihrem Raum und hat es entfernt? Kein Betreuer ist da. Niemand sonst hätte einen
Schlüssel. Und warum sollte jemand so etwas tun?
Tamsin ist verwirrt.
Wenigstens hat die Mücke sie
aus ihrer Trauer gerissen.
+++
> „Was
war besonders schön an diesem Tag?“
Tamsin
wurde von einer Kollegin zur Haltestelle mitgenommen, weil sie sonst den Bus
nichtmehr geschafft hätte.
> „Wie
fühlst du dich?“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen