Donnerstag, 5. Oktober 2017

Nach der ersten Nacht



Die erste Nacht war für Tasmin wahrhaft alptraumhaft. Der Gummifußboden sondert einen beißenden Geruch ab, der ihr in der Lunge wehtut. Tamsin lüftet. Und lüftet. Alle paar Stunden steht sie auf, um die Fenster aufzureißen. Schließlich entscheidet sie sich, das Kleinere einfach offenzulassen. Doch draußen tobt ein Sturm. Nun hält der Lärm Tamsin wach. Mühsam versucht sie, nicht tief durchzuatmen, weil sie das Gefühl hat, davon Atemnot zu bekommen.

Am nächsten Morgen will Tamsin sich ein Toast machen. Dummerweise hat sie ihren Toaster nicht dabei. Sie wartet, bis die Geräusche auf dem Flur verstummen, ehe sie sich in die Küche traut.
Warum? Die Leute sind doch nett.
Naja, dann bemerkt sie: Das Brot scheint vom Schimmel befallen. Frustriert stellt sie den Teller zurück und packt ihre restlichen Getränke in den Kühlschrank – gestern hatte sie sich nicht mehr getraut. Wieder in ihrem Raum, will sie sich Müsli machen. Sie packt ihre Schüssel aus und bemerkt, dass sie ihr Besteck nicht finden kann. Die Vorstellung, in der Küche herauszusuchen ist ihr ein Graus. Was, wenn jemand kommt, und sie anspricht? Naja, sie hat ja noch Kekse dabei. Zitronenwaffeln. „Igitt.“
Ihre Frustration steigert sich, als durch die offenen Fenster Mücken eindringen. Mit ihrer elektronischen Fliegenklatsche jagt sie ihnen nach, bevor sie die Zeit hat, wenigstens ihren Kaffee entspannt zu genießen. Tränen steigen ihr in die Augen und sorgen dafür, dass sie die Mücken nur noch verschwommen sieht. Ihre Augen brennen. Mühsam würgt sie ihre Waffel herunter – sie muss etwas essen!

„Es ist alles so anders als erwartet.“ Tamsin erwähnt besagten Gummigeruch. Darauf wurde ihr gesagt, sie solle in der Nacht einfach das Fenster offenlassen, der Kälte zum Trotz. Genauso wie sie bei Lärm einfach Ohrenstöpsel nehmen soll. Wenigstens ist es hier nicht so laut, dass sie ernsthaft darüber nachdenken muss.
Tamsin belässt es dabei. Was bringt es schon zu diskutieren? „Schlimmstenfalls sagen sie, ich würde mir das nur einbilden…“ Allen, denen sie davon erzählt, behaupten, sie würden nichts riechen. Seltsam…

Tamsin erwähnt ihre Angst, ihr Zimmer zu verlassen. Daraufhin solle sie diese Angst einfach überwinden. Oder im Zimmer essen.

Zum Zahnarzt wurde sie zwar gebracht, weil sie den Standort nicht wusste, doch auch dort war sie ganz auf sich allein gestellt. Wie erwartet konnte der Zahnarzt ihr auch nicht helfen. So lange der Zahn gesund ist, muss nichts gemacht werden… „Einen Gesunden Zahn zu überkronen wäre Schwachsinn. Was nützt mir ein halber, heiler Zahn, wenn ich vor Schmerzen an der Zunge kaum ein Auge zukriege!?“
„Ich werde nicht ein Leben mit Schmerzen führen, nur, weil alle meinen: Was man nicht sehen kann, ist auch nicht vorhanden! Oder, weil es für mein Problem in den Akten dieser bürokratischen Welt keine akribisch festgelegte Vorgehensweise gibt!“

… „Ich habe mehr Hilfe von so einer Einrichtung erwartet.“
Es ist bereist Nachmittag und alles, was Tamsin bisher gegessen hat, war die scheußliche Waffel. „Ich bin nicht hungrig.“ Tamsin versinkt in bedrückender Melancholie. Selbst als sie noch bei den Eltern wohnte und noch nicht in ihrer Maßnahme war, war ihre Traurigkeit nie so heftig und lange, dass ihr sogar der Hunger fernbleibt.
„Hätte ich gewusst, ich mich mit den Ängsten und dem, was sie auslöst sowieso alleine herumquälen muss, hätte ich mir auch eine richtige Wohnung nehmen können.“ Dann hätte sie eine eigene Küche und mehr Freiheiten ohne diese vielen Regeln und Verbote. Während sie die Papiere unterschreibt, grübelt sie darüber nach, sich mit ihren Sorgen an eine höhere Stelle zu wenden, denn mehrere Wochen hält sie diesen Geruch nicht aus. Tamsin wird keine Wochen oder Monate hier aushaaren, wenn es sich nicht zu ihrem Vorteil verbessert. „Ich werde nach Lösungen suchen. Und die gibt es immer!“ Selbst, wenn diese daraus besteht, eines der Verbote zu brechen, wie ein Bier zu trinken, nur, um dort raus zu können.“ Wenn sie keine Hilfe bekommt ist es nicht besser als in ihrem alten Zuhause. „Und was soll ich hier alleine rumsitzen und ununterbrochen heulen!?“

Idel wäre eine Wohnung im Stadtzentrum. In der Nähe ihrer Arbeit. Oder zumindest so, dass sie nicht zu viel Zeit mit dem Bus verschwenden muss. Eine Therapie, die sie nicht selbst bezahlen muss und vielleicht jemand dazu, der ihr bei Alltagssorgen hilft. „Dad hatte vielleicht Recht.“

Es ist verboten, Dinge vor die Tür zu stellen, damit die Fluchtwege freibleiben. Einerseits richtig so. Betrachtet man dies jedoch mit klarem Menschenverstand, so würde Tamsin im Brandfall nicht in einen verräucherten Flur laufen, um nach draußen zu fliehen, sondern durch die Terrassentür verschwinden. Ihr Zimmer liegt als einziges ganz am Ende des Flures.

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