Sonntag, 1. Oktober 2017

Die Chatsucht zahlt sich aus



Chatsmileys sind wertvoll. Heute denkt Tamsin an dem Tag zurück, an dem sie einen Ufosmiley ertauscht hatte, der ihren Nick im Chat leuchten ließ. Damals war dies einzigartig. Tagelang war Tamsin damals online, hat gesammelt und gezockt, um endlich die 2000 Knuddels – die dortige Chatwährung – zu erbeuten, die der Smiley wert war. Aufgrund einer Inflation ist er heute über 27000 Knuddels wert. Aber das kümmert Tamsin wenig. Leuchtnicks sind nichts Besonderes mehr, und der Chat hat sich so verändert, dass längst nicht mehr alle Chatter mangels Java den Leuchteffekt wahrnehmen. Tamsin chattet nicht mehr – es gibt besseres, als sich von Kerlen anmachen zu lassen – und steckt diese Energie lieber in ihr Buch. Bald zieht sie um. Sie hat einfach keine Zeit mehr für so etwas.
Daher kam ein Bekannter, dem sie schon seit längerer Zeit immer wieder Smileys ausleiht, gerade recht. Smileys sind Geld wert, und er, der diesen Chat noch wohlgesonnen ist, freut sich, als Tamsin einwilligt, ihm ihre alten Secretsmileys gegen Amazongutscheine zu verkaufen. Es klingt seltsam, ist aber absolut legitim. Diese kleinen Pixelbilder wurden wie Pokemonkarten schon damals bei Ebay zu Höchstpreisen gehandelt. Mehrere Hundert Euro geben einige dafür her. Per genauer Umrechnung wären einige sogar über tausend Euro wert.
„Naja, es war immer schön, in einem Chat auf diese Weise einzigartig zu sein. Aber Smileys werden nichtmehr bewundert. Niemandem fällt ein leuchtender Nickname auf. In meinen Augen ist es ein sterbender Chat, in dem die Frauen von versauten Kerlen vertrieben werden und wo, äh, was war noch gleich das Gegenteil von Niveau, regiert.“ Tamsin hat auch nicht immer Lust, online zu gehen, um den Smiley verleihen. Daher kam ihr dieses Angebot gerade sehr gelegen.
Angesichts des Preises freut sie sich, dass die Zeit, die sie einst in den Chat gesteckt hat, doch nicht gänzlich vergeudet ist. „Niemals habe ich Geld dafür ausgegeben. Weder für Abos, noch Spiele.“ Seit sie 2004 im Videotextchat wahrscheinlich mehrere Hundert Euro losgeworden ist, ist sie schlauer geworden.
Es ist erstaunlich. Man sammelt „Knuddels“, tauscht die gegen Smileys und kann diese dann gegen Geld verkaufen. Und da Smileys an sich auch direkt gegen Geld erwerbbar sind und damit sozusagen Besitzgüter sind, spricht kein Gesetz dagegen.
„Meine Mom würde mir den Vogel zeigen, wüsste sie davon.“ Jeder, der den Chat nicht kennt, wäre erstaunt.

Nunja, den Morgen verbrachte Tamsin damit, Kartons zu packen. Ihre Mom kümmerte sich um die Wäsche. Und das Bad. Macht noch einmal sauber, damit die Leute, die die Möbel rausholen, nichts schlechtes denken. „Die Wand war feucht. Schimmelig.“
Tamsin ist aufgeregt. Morgen will ihre Chefin mit ihr nach Ikea. Tamsin hat noch immer keine neue Matratze. Tamsin ist froh über die Hilfe. Auch darüber, dass sie sich beim Umziehen hilft und den Möbeltransport organisiert. Oft grübelt Tamsin über den Grund darüber nach. Tamsin kann kaum an Uneigennützigkeit glauben, und dass jemand etwas für andere tut, einfach um ihnen zu helfen, findet sie erstaunlich. „Eigentlich leben wir in einer Welt, in der es nichts geschenkt gibt.“ Warum tun anderen sich aufopfern, nur, damit Tamsin ein besseres Leben hat? Mit Tamsin nicht mehr traurig ist? Einfach so? Wen interessiert, ob sie lacht oder weint? Sie denkt: „Wenn andere sagen, ich solle beim Laufen über einen frisch gewischten Flur vorsichtig sein, dann sagen sie das nur, weil, wenn Tamsin fällt uns sich ein Bein bricht, viel Papierkram auf sie zu kommt und das Drumherum mit dem Krankenwagen viel Zeit kostet.“ Ein Arbeitsunfall würde sicher viel Bürokratie beanspruchen. So viel müsste geregelt werden. Versicherungen. Arbeitszeitverlust – nicht nur Tamsins Eigene ondern auch die der Kollgen, die nicht weiterarbeiten können, weil Tamsin im Weg liegt oder jemand sie beruhigen muss, weil sie vor Schmerzen so laut schreit, dass niemand mehr sich auf seine Aufgabe konzentrieren kann. Tamsin fällt es schwer, sich um das Wohlergehen anderer zu sorgen, darum glaubt sie, dass niemand sich ernsthaft um ihr Wohl sorgt.

Eine Bekannte aus einer alten Maßnahme schreibt Tamsin, dass sie zu ihr wechselt – in die Maßnahme.

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