Dienstag, 18. September 2018

Lebensgeschichte aus heutiger Sicht

Psycho?  Depressiv? Am Ende? Ein Versager?


Etwas finde ich seltsam. Ich finde es vieles seltsam, aber dies ist wirklich sonderbar.  Manchmal habe ich Depressionen. Oha. Würde mich am liebsten unter meiner Bettdecke verkriechen und den Rest des Lebens mit Schlafen verbringen, denn wenn man schlafen tut, kann man nicht nachdenken.
Ich tue nachdenken. Grüble über so viele Dinge nach und komme doch zu keinem Ergebnis. Ist der Gedanke zu Ende, beginnt er von vorne. Wie ein Karussell, das sich im Kreis dreht... Stundenlang. Manchmal die ganze Nacht lang.
Sollte ich es dann doch schaffen einzuschlafen, hält der Schlaf nicht lange an. Kummervolle Gedanken, Ängste und Sorgen sind stärker als schöne Träume.
Die Augen öffnen sich. Das Herz macht einen Sprung. Realität!
Und dann sitze ich da, im schwachen Licht, das auf die niedrigste Stufe eingestellt ist, die Beine unter der warmen Decke vergraben und taste nach meinen Taschentüchern. Denn die Gedanken sind so bedrückend, dass sich die Tränen nicht mehr zurückhalten lassen. Alles Schöne ist plötzlich traurig. Lachen ist unmöglich. Wäre es Tag und ich würde andere lachen sehen oder in eine amüsante Situation einfallen, kann ich nicht lachen, nein stattdessen laufen die Tränen. Unaufhaltbar.
Irgendwann sind die Taschentücher aufgebracht. Mürrisch steige ich aus dem Bett. Schwankend, weil mir schwindelig ist, begebe ich mich ins Badezimmer. Dort liegt mein Vorrat.


Lebensgeschichte aus heutiger Sicht

Wie ich zu dem geworden bin was ich heute bin, weiß wohl niemand. Oder?
Schon in der Vorschule stand ich immer im Abseits. Die anderen Kinder haben gespielt und ich stand alleine in der Ecke. Niemand hat sich darum gekümmert.
Als ich dann in die Schule kam, hat sich das kaum geändert. Auch da stand ich in jeder Pause alleine in einer schattigen Ecke neben den Mülltonnen. Ich hatte Angst. Vor den Kindern und vor allem. Die Angst war so groß, dass ich mich nicht getraut habe, mich im Unterricht zu melden. Die Lehrer hielten mich daraufhin für dumm und unwissend und meinten, ich brauche extra Sonderschulunterricht, weil ich den Lehrstoff nicht schaffe.  Denn ich habe mich nie gemeldet und demnach wusste ich auch nie die Antworten. Das war deren Meinung.
Das andere Kinder mich jahrelang geärgert und ausgelacht haben, hat kaum jemand ernst genommen. Es sind ja nur Kinder, hieß es, die machen sowas nunmal. Das ist ganz normal.
So lief das von der ersten bis zur neunten Klasse.
Nach der Schule bekam ich keine Ausbildungsstelle, dafür in eine berufsvorbereitende Maßnahme. Meine Kameraden dort waren erwachsener als die Kinder in der ersten Klasse -  allerdings nur körperlich! Neben den seelischen Schmerzen, die sie mir zufügten, als sie in den Pausen um mich herumstanden und mich angeschrien haben, dass ich in eine Behindertenwerkstatt gehen soll, weil ich eben so schüchtern war und nicht mit denen reden konnte, bestanden die Aufgaben in dieser Einrichtung aus hauswirtschaftlichen Aufgaben. Von 8 bis 17 Uhr musste ich putzen. Erst die Toiletten, dann die Flure, die Oberflächen und den Speisesaal wischen, nachdem die Schüler und Lehrer dort zu Mittag gegessen hatten. Immer, wenn ich dort reinkam, habe ich mich gefragt, ob das wirklich zivilisierte Menschen waren, die dort gegessen haben. So wie das dort aussah… Mhm.

Das Tagelang andauernde Stehen und Laufen hat mir große Schmerzen bereitet. in diesem einen Jahr in dieser Einrichtung bestand mein Leben aus Arbeit, essen und schlafen. Die Schmerzen waren so stark, dass ich mit krummen Rücken und tränenden Augen und Übelkeit im Bauch nach Feierabend zur Tür nach draußen gehumpelt bin. Habe ich mich darüber beklagt, bekam ich als Antwort: “So ist das Arbeitsleben. Das ist normal. Daran gewöhnst du dich. Das Leben ist kein Zuckerschlecken.”
 Ich musste durchhalten. Die Schmerzen waren nicht wichtig. Wichtig war, dass die Toiletten sauber sind. Dass der Speisesaal gefegt und gewischt wurde und die Teller gespült warne. Dass alle Aufgaben erledigt sind!

Dies war das Jahr, in dem ich den Glauben an Menschlichkeit und das Gute verloren habe.

Nach diesem Jahr bekam ich immer noch keine Arbeit. Weil ich so schüchtern war und mit anderen Leuten nicht sprechen konnte, wurde gesagt, dass man nichts für mich tun kann. Tja. Pech.

Ich persönlich war froh darüber. Ich war damals 17. An meine Zukunft habe ich nicht gedacht. Das einzige, woran ich damals gedacht habe, war, dass die Schmerzen endlich ein Ende hatten. Alles andere war egal.  Ein Leben ohne Glück ist traurig. Aber ein Leben das aus Schmerzen besteht, wäre unerträglich.

Von da an verbrachte ich die nächsten 7 Jahre zu Hause. Meine Eltern wussten, dass ich anders bin als normale Menschen und haben es einfach akzeptiert. Für mich bedeutete Arbeit:  Dinge tun die man nicht mag, Schmerzen ertragen und erst abends zu Hause zu sein. Schnelles Essen und müde ins Bett fallen. Und das jeden Tag. Ein Leben lang.
Denn so hatten die Ausbilder es dort gesagt. So ist das Arbeitsleben. Und das Leben ist kein Zuckerschlecken!

Immer musste ich nur tun was andere wollten und niemals durfte ich tun, was mir selbst Freude bereitet.

Ich konnte nicht akzeptieren, dass das Leben hart und schmerzhaft und anstrengend sein soll. Warum? Wurde ich nur geboren, um der Gesellschaft zu dienen?  Um mich einem Dasein, dass niemand hinterfragt, willenlos anzupassen?
Und so verbrachte ich die Tage fortan damit, am Computer zu sitzen, fernzusehen, malen und zu basteln und nur zu tun, was mir gefällt. Freunde hatte ich nicht. Nur die Eltern, die mir essen zubereitet haben.
Ich habe mich allein gefühlt. Im Laufe der Jahre wurde die Einsamkeit immer stärker. Im Internet habe ich mit Leuten geschrieben. Wollte kommunizieren. Aber das war nicht genug. Irgendwann fing ich an, mein Leben zu hinterfragen. Ob das wirklich schon alles ist? Wegen meiner unbehandelten Ängste war und ist es mir heute immer noch nicht möglich, soziale Kontakte in der realen Welt aufzubauen.
Inzwischen weiß ich, dass Arbeit nicht zwangsläufig Schmerzen und Unannehmlichkeiten bedeutet. Die Hoffnungslosigkeit, niemals einen sinnerfüllten Beruf zu finden und niemals Freunde zu haben, steigert sich an manchen Tagen dennoch ins Unermessliche.

Irgendwann nach diesen sieben Jahren habe ich mich freiwillig bemühst, aus diesem Alptraum-Leben, das nur aus Computer und Fernsehen besteht, zu befreien. Ich war 25. Das Jobcenter durfte mich nichtmehr abweisen.
Dann kam ich in eine neue Maßnahme. Die war nicht so schlimm wie die erste. Allerdings auch nicht immer so super. Einmal meinten sie, ich solle in der Küche arbeiten, weil mir das guttun würde. Das wollte ich selbst nicht. Denn dort musste ich wieder den ganzen Tag stehen, bis ich Schmerzen hatte. Aber das war egal. Es war ja nur zu meinem Besten!
Der Koch hat mir Zwiebeln in die Hand gedrückt. Hat mir flüchtig erklärt, so und so werden die geschnitten und ist dann abgehauen. Als ob ich das so schnell verstanden hätte. Denn Zwiebeln zu schneiden, ohne dass die Augen tränen, ist eine Kunst. Eine, die ich nicht beherrsche. Schon nach wenigen Minuten hat mich der Schmerz in den Augen überwältigt. Ich solle mich nicht so anstellen, wurde dann gemeint. Muss mich dran gewöhnen. Lernen. Durchhalten! Damit die anderen nachcher satt und zufrieden sind!
Ich fragte mich:  Hört das denn nie auf?
Und so stand ich da, habe weinend auf das Gemüse eingeschlagen, bis es „fertig“ war.
In der nächsten Woche hat mir der Koch wieder die Zwiebeln gegeben.  Noch, bevor ich das Messer in die Hand genommen hatte, kamen mir die Tränen. Gleich würde ich wieder Schmerzen aushalten müssen.

Wider musste ich tun was andere wollten und durfte nicht tun, was mir selbst Freude bereitet.

Inzwischen habe ich Diagnosen. Psychische Probleme. PTBS, Depression und Angststörungen.
Was sind die Ursachen? Ist es meine Schuld, weil ich mich nicht bemüht habe und ein Weichei bin, oder war es die Gesellschaft, die mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin?

Überall wird immer mehr Leistungsdruck gefordert. In Fabriken müssen die Arbeiter im Stehen im Akkord arbeiten. Für Schmerzen ist dort gar keine Zeit! Was nicht bedeutet, dass sie keine haben.
Aber das Geld ist wichtig. Man braucht Geld, um zu überleben. Um nach Feierabend etwas zu essen zu haben, in einer warmen Wohnung in einem Bett verbringen zu können, bevor es am nächsten Tag weitergeht… Zwei Tage in der Woche reichen ja, sich zwischen Haushalt und Einkauf mal eben schnell auszuruhen.

Ist man alt und grau fragen die Enkelkinder:  was hast du schönes erlebt?
Antwort: an einem Wochenende war ich auf dem Jahrmarkt!

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