Tamsin
ist sehr erleichtert, dass sie nicht wie damals mit dem frühen Schulbus in die
Maßnahme fahren muss. Der eine Stunde spätere hat immer einen Platz für sie
frei, und auch das Gedrängel vor der Haltestelle hält sich in Grenzen. Sie muss
nicht bei ekligen Kerlen stehen, die den anderen in der Haltestelle ständig vor
die Füße spucken. Nur, dass sie einmal umsteigen muss, bereitet ihr und allen
anderen Schwierigkeiten. Es sind Ferien. Niemand weiß, wie die Busse fahren.
Deshalb wird sie und die andere Teilnehmerin zunächst von der ersten Station
abgeholt.
Allein
die Tatsache, in dieser neuen Maßnahme bekannte Gesichter widerzutreffen, nimmt
eine sehr schwere, von Panik erfüllte Last von ihren Schultern! „Man kennt
sich. Niemand guckt mich komisch an, weil ich anders bin. Man muss sich nicht
lange vorstellen und erklären…“ Zudem sind es sehr nette Leute. Keine
eingebildeten Weiber.
Dort
angekommen gings zunächst ans Frühstück. Alles musste vorher eingekauft werden,
aber da jeder sich aussehen durfte, was er mag - Brötchen, Grapefruitsaft - und
nicht mal selbst dafür zahlen musste, konnte Tamsin nicht meckern. Sie mag
keine Küchenarbeit, aber so lange es nur darum geht, ein bisschen Käse und
Wurst aufzudecken und sie nicht vor einer riesigen Bratpfanne stehen muss, wo
das Fett ihr auf die Arme spritzt und diese anschließend abgescheuert werden
muss, ist Tamsin fast schon… glücklich.
Die
kleine Küche ist dagegen weniger berauschend. Tatsächlich war sie ziemlich
schittig! Fleckige Schränke, alte, abgenutzte Amateuren. Aus der Spüle steigt
ein unangenehmer Geruch empor. Und im Kühlschrank stand faule Milch. Aber
anscheinend stand die Küche eine Weile leer und wurde zuvor von Jugendlichen
genutzt, so wie der Rest der Einrichtung. Es gab nicht einmal Seife. Tamsin
hatte sich die Hände zuvor aufm Klo gewaschen. Wie und ob die anderen es getan
haben weiß sie nicht. Aber da sie ihr Brötchen selbst belegen konnte, spielt es
für sie auch keine Rolle.
Leider
kann Tamsin nicht leugnen, sich wieder einmal vor dem Abwasch gedrückt zu
haben. "Sobald es ans Aufräumen ging, habe ich den Tisch abgedeckt. Aus
den Augenwinkeln hatte ich die Spüle im Blick." Tamsin hat sich Zeit
gelassen, und wie immer übernahm währenddessen jemand anders diesen Job. Sie ist
erleichtert, dass niemand sie fragen würde, ob sie dies vielleicht übernehmen
möchte. Obwohl sie gerne ihre ehrliche Meinung kundtut, ganz gleich, ob sie
anderen nicht gefällt, hätte sie wohl nicht abgelehnt. Sie will nicht schon am
Anfang als "fauler Asi" dastehen. Ja, sobald der Abwasch anfing hat
sich Tamsin erleichtert mit dem Handtuch zum Abtrocknen daneben gestellt. Obwohl
sie gewisse Aufgaben meidet, trägt sie dennoch gerne einen Teil zum Wohle der Gruppe
bei. Abtrocknen tut sie sogar gerne. Nur den Blick in das trübe Wasser, in dem
Krümel und andere Essensreste schwammen, konnte sie nicht lange halten. Ihr
stellen sich die Nackenhaare auf, müsste sie mit den eigenen Händen darin herumrühren,
nach dem letzten, schmierigen Buttermesser suchend... Mh, es ist nicht schlimm,
doch Ekel und Ängste folgen keiner Logik. Sie sind einfach da. Ob man will oder
nicht.
Die
Zeit verging recht schnell. Anschließend wurden noch Ideen gesammelt. Tamsin
hat viel dazu beigetragen. Wenn sie es richtig verstanden hat, kann man sich
dort aussuchen und man tun will und am liebsten mag. Den Angestellten schien
die Äußerung der Wünsche sehr wichtig gewesen zu sein. Und das wiederum motiviert
Tamsin. Noch hat sie früh Feierabend, und die Vorstellung, wenn sie bis abends
dortbleiben muss und dann tun kann, was sie auch zuhause gern täte, ist sehr
beruhigend. Gerne will sie mit Freude dorthin gehen! Ohne die Angst, etwas tun
zu müssen, was sie hasst.
„Ich
mag es nicht, Autoritätspersonen zu duzen.“, dachte Tamsin, als dort
beschlossen wurde, dass ein „Sie“ zu förmlich klingt. Widerwillig hatte sie dem
zugestimmt. Aber nur, weil sie nicht das Verlangen für eine längere,
rechtfertigende Diskussion verspürte.
Gegen
Mittag verließ Tamsin zusammen mit einer ihr bekannten Teilnehmerin von damals
die Einrichtung. Ihr wurde angeboten länger zu bleiben, doch Tamsin muss
gestehen, dass es ihr sehr half, das erste Mal beim Umsteigen und die richtige Haltestelle
zu finden nicht alleine zu sein. Eine gute Entscheidung, wie sich herausstellte!
Denn der Anschlussbus kam nicht - wegen den Ferien. Alleine wäre Tamsin ratlos.
Hätte eine Stunde auf den nächsten warten oder ihren Vater zum Abholen anrufen
müssen. Die andere Teilnehmerin hatte jedoch die Nummer von der Einrichtung
dabei. Dass sie Tamsin bat, das Gespräch zu führen hätte Tamsin in anderen
Situationen sehr beunruhigt, doch die Leute sind so nett, dass sie schnell
Vertrauen zu ihnen fasst und ihre Ängste teilweise in Vergessenheit gerieten.
„Ich war ein wenig verärgert. Das half ebenfalls, Mut zu erlangen.“ Jemand von
dort kam und hat die beiden dann gefahren.
Inzwischen
ist es wieder so kalt und windig, dass der Gasofen an muss. Tamsin spürt, wie
die klebrige Flüssig-Hitze an ihrem Körper anhaftet.
Einerseits
ist Tamsin glücklich, etwas erlebt zu haben und dennoch den ganzen Tag vor sich
zu haben. Die frühen Stunden bis Mittag sind immer die langweiligsten. Man ist
müde und gerne unterwegs. Besonders wenn’s Warm ist. Vielleicht hat die Angst
vor dem Zeitverlust gar nichts damit zu tun, dass Tasmsin bei einer
Vollzeitbeschäftigung weniger Freizeit hat, überlegt sie. Sicher, wenn sie
unter Schmerzen ackern müsste wäre es etwas Anderes, als wenn sie etwas tut,
was ihr Freude bereitet. Doch diese Verlustangst, keine Zeit mehr für sich zu
haben - in schweren Fällen auch als Chrono Phobie bezeichnet - begleitet sie
schon seit mehr als einem Jahrzehnt, vermutlich ausgelöst durch JOBB 2007.
"Ich will immer möglichst früh zu Hause sein, egal, was ich tue. Selbst,
wenn ich um 12 Uhr Feierabend habe." Muss der Bus an vielen roten Ampeln
halten, ärgert sie sich. Als der Bus früher einmal zehn Minuten am Bahnhof vor
Tamsins letzter Station stand - normalerwiese fährt er zügig weiter - und es
aussah, als würde er Pause machen, da vor der Weiterfahrt niemand eingestiegen
war, wäre Tamsin am liebsten aufgesprungen, um ihn zu fragen, was denn los sei.
Sie
spürt, wie die Sekunden sinnlos verstreichen. Wünscht sich, diese sinnvoll zu
füllen. Egal, ob sie weiß, dass sie sich zuhause langweilen wird. Und das ist
seltsam.
Auch darüber hat sich
Tamsin einst in einem Forum geäußert. Sie will wissen, was mit ihr los ist.
Prompt wurde ihr Faulheit vorgeworfen. Die Gesellschaft scheint zu meinen:
Jeder, dem Freizeit wichtiger ist als Arbeit, ist ein Faulpelz! Okay, Tamsin
will nicht leugnen, dass sie hin und wieder gerne ein wenig Bequem ist. Jeder
Mensch ist mal faul. Einer mehr, andere weniger.
Tamsin bemerkt, dass
sich auf ihrem Plattenteller schon wieder ölige Tropfen gebildet haben. Was
kann das nur sein? „Ich schätze fast, der damals geschenkte Plattenspieler, wo
wir die Nadel mit Draht befestigt haben, ist viel besser, als dieser.“
Tamsin analysiert die
Zeit von Feierabend bis 17Uhr. Bis auf ihr Bild fertigzustellen und ihren Roman
zu überarbeiten hat sie nicht viel Sinnvolles vollbracht. Sie redet sich ein,
dass sie nichts verpassen würde, was diese Panik vor den Zeitverlust
rechtfertigt. Sie geht Duschen. Abends zu duschen ist ebenfalls eine
Umstellung. Da sie keine Tür zur Dusche hat, breitet sich die Feuchtigkeit in
ihrer ganzen Behausung aus. Sie kann nicht lange lüften, weil sie danach
fernsieht und das Rauschen der ständig vorbeifahrenden Autos sie nervt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen