Dienstag, 11. April 2017

Der zweite Tag

Tamsin ist sehr erleichtert, dass sie nicht wie damals mit dem frühen Schulbus in die Maßnahme fahren muss. Der eine Stunde spätere hat immer einen Platz für sie frei, und auch das Gedrängel vor der Haltestelle hält sich in Grenzen. Sie muss nicht bei ekligen Kerlen stehen, die den anderen in der Haltestelle ständig vor die Füße spucken. Nur, dass sie einmal umsteigen muss, bereitet ihr und allen anderen Schwierigkeiten. Es sind Ferien. Niemand weiß, wie die Busse fahren. Deshalb wird sie und die andere Teilnehmerin zunächst von der ersten Station abgeholt.
Allein die Tatsache, in dieser neuen Maßnahme bekannte Gesichter widerzutreffen, nimmt eine sehr schwere, von Panik erfüllte Last von ihren Schultern! „Man kennt sich. Niemand guckt mich komisch an, weil ich anders bin. Man muss sich nicht lange vorstellen und erklären…“ Zudem sind es sehr nette Leute. Keine eingebildeten Weiber.

Dort angekommen gings zunächst ans Frühstück. Alles musste vorher eingekauft werden, aber da jeder sich aussehen durfte, was er mag - Brötchen, Grapefruitsaft - und nicht mal selbst dafür zahlen musste, konnte Tamsin nicht meckern. Sie mag keine Küchenarbeit, aber so lange es nur darum geht, ein bisschen Käse und Wurst aufzudecken und sie nicht vor einer riesigen Bratpfanne stehen muss, wo das Fett ihr auf die Arme spritzt und diese anschließend abgescheuert werden muss, ist Tamsin fast schon… glücklich.

Die kleine Küche ist dagegen weniger berauschend. Tatsächlich war sie ziemlich schittig! Fleckige Schränke, alte, abgenutzte Amateuren. Aus der Spüle steigt ein unangenehmer Geruch empor. Und im Kühlschrank stand faule Milch. Aber anscheinend stand die Küche eine Weile leer und wurde zuvor von Jugendlichen genutzt, so wie der Rest der Einrichtung. Es gab nicht einmal Seife. Tamsin hatte sich die Hände zuvor aufm Klo gewaschen. Wie und ob die anderen es getan haben weiß sie nicht. Aber da sie ihr Brötchen selbst belegen konnte, spielt es für sie auch keine Rolle.
Leider kann Tamsin nicht leugnen, sich wieder einmal vor dem Abwasch gedrückt zu haben. "Sobald es ans Aufräumen ging, habe ich den Tisch abgedeckt. Aus den Augenwinkeln hatte ich die Spüle im Blick." Tamsin hat sich Zeit gelassen, und wie immer übernahm währenddessen jemand anders diesen Job. Sie ist erleichtert, dass niemand sie fragen würde, ob sie dies vielleicht übernehmen möchte. Obwohl sie gerne ihre ehrliche Meinung kundtut, ganz gleich, ob sie anderen nicht gefällt, hätte sie wohl nicht abgelehnt. Sie will nicht schon am Anfang als "fauler Asi" dastehen. Ja, sobald der Abwasch anfing hat sich Tamsin erleichtert mit dem Handtuch zum Abtrocknen daneben gestellt. Obwohl sie gewisse Aufgaben meidet, trägt sie dennoch gerne einen Teil zum Wohle der Gruppe bei. Abtrocknen tut sie sogar gerne. Nur den Blick in das trübe Wasser, in dem Krümel und andere Essensreste schwammen, konnte sie nicht lange halten. Ihr stellen sich die Nackenhaare auf, müsste sie mit den eigenen Händen darin herumrühren, nach dem letzten, schmierigen Buttermesser suchend... Mh, es ist nicht schlimm, doch Ekel und Ängste folgen keiner Logik. Sie sind einfach da. Ob man will oder nicht.

Die Zeit verging recht schnell. Anschließend wurden noch Ideen gesammelt. Tamsin hat viel dazu beigetragen. Wenn sie es richtig verstanden hat, kann man sich dort aussuchen und man tun will und am liebsten mag. Den Angestellten schien die Äußerung der Wünsche sehr wichtig gewesen zu sein. Und das wiederum motiviert Tamsin. Noch hat sie früh Feierabend, und die Vorstellung, wenn sie bis abends dortbleiben muss und dann tun kann, was sie auch zuhause gern täte, ist sehr beruhigend. Gerne will sie mit Freude dorthin gehen! Ohne die Angst, etwas tun zu müssen, was sie hasst.

„Ich mag es nicht, Autoritätspersonen zu duzen.“, dachte Tamsin, als dort beschlossen wurde, dass ein „Sie“ zu förmlich klingt. Widerwillig hatte sie dem zugestimmt. Aber nur, weil sie nicht das Verlangen für eine längere, rechtfertigende Diskussion verspürte.

Gegen Mittag verließ Tamsin zusammen mit einer ihr bekannten Teilnehmerin von damals die Einrichtung. Ihr wurde angeboten länger zu bleiben, doch Tamsin muss gestehen, dass es ihr sehr half, das erste Mal beim Umsteigen und die richtige Haltestelle zu finden nicht alleine zu sein. Eine gute Entscheidung, wie sich herausstellte! Denn der Anschlussbus kam nicht - wegen den Ferien. Alleine wäre Tamsin ratlos. Hätte eine Stunde auf den nächsten warten oder ihren Vater zum Abholen anrufen müssen. Die andere Teilnehmerin hatte jedoch die Nummer von der Einrichtung dabei. Dass sie Tamsin bat, das Gespräch zu führen hätte Tamsin in anderen Situationen sehr beunruhigt, doch die Leute sind so nett, dass sie schnell Vertrauen zu ihnen fasst und ihre Ängste teilweise in Vergessenheit gerieten. „Ich war ein wenig verärgert. Das half ebenfalls, Mut zu erlangen.“ Jemand von dort kam und hat die beiden dann gefahren.

Inzwischen ist es wieder so kalt und windig, dass der Gasofen an muss. Tamsin spürt, wie die klebrige Flüssig-Hitze an ihrem Körper anhaftet.

Einerseits ist Tamsin glücklich, etwas erlebt zu haben und dennoch den ganzen Tag vor sich zu haben. Die frühen Stunden bis Mittag sind immer die langweiligsten. Man ist müde und gerne unterwegs. Besonders wenn’s Warm ist. Vielleicht hat die Angst vor dem Zeitverlust gar nichts damit zu tun, dass Tasmsin bei einer Vollzeitbeschäftigung weniger Freizeit hat, überlegt sie. Sicher, wenn sie unter Schmerzen ackern müsste wäre es etwas Anderes, als wenn sie etwas tut, was ihr Freude bereitet. Doch diese Verlustangst, keine Zeit mehr für sich zu haben - in schweren Fällen auch als Chrono Phobie bezeichnet - begleitet sie schon seit mehr als einem Jahrzehnt, vermutlich ausgelöst durch JOBB 2007. "Ich will immer möglichst früh zu Hause sein, egal, was ich tue. Selbst, wenn ich um 12 Uhr Feierabend habe." Muss der Bus an vielen roten Ampeln halten, ärgert sie sich. Als der Bus früher einmal zehn Minuten am Bahnhof vor Tamsins letzter Station stand - normalerwiese fährt er zügig weiter - und es aussah, als würde er Pause machen, da vor der Weiterfahrt niemand eingestiegen war, wäre Tamsin am liebsten aufgesprungen, um ihn zu fragen, was denn los sei.
Sie spürt, wie die Sekunden sinnlos verstreichen. Wünscht sich, diese sinnvoll zu füllen. Egal, ob sie weiß, dass sie sich zuhause langweilen wird. Und das ist seltsam.
Auch darüber hat sich Tamsin einst in einem Forum geäußert. Sie will wissen, was mit ihr los ist. Prompt wurde ihr Faulheit vorgeworfen. Die Gesellschaft scheint zu meinen: Jeder, dem Freizeit wichtiger ist als Arbeit, ist ein Faulpelz! Okay, Tamsin will nicht leugnen, dass sie hin und wieder gerne ein wenig Bequem ist. Jeder Mensch ist mal faul. Einer mehr, andere weniger.

Tamsin bemerkt, dass sich auf ihrem Plattenteller schon wieder ölige Tropfen gebildet haben. Was kann das nur sein? „Ich schätze fast, der damals geschenkte Plattenspieler, wo wir die Nadel mit Draht befestigt haben, ist viel besser, als dieser.“

Tamsin analysiert die Zeit von Feierabend bis 17Uhr. Bis auf ihr Bild fertigzustellen und ihren Roman zu überarbeiten hat sie nicht viel Sinnvolles vollbracht. Sie redet sich ein, dass sie nichts verpassen würde, was diese Panik vor den Zeitverlust rechtfertigt. Sie geht Duschen. Abends zu duschen ist ebenfalls eine Umstellung. Da sie keine Tür zur Dusche hat, breitet sich die Feuchtigkeit in ihrer ganzen Behausung aus. Sie kann nicht lange lüften, weil sie danach fernsieht und das Rauschen der ständig vorbeifahrenden Autos sie nervt.

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