Montag, 10. April 2017

Der erste Tag

Tamsin ist froh, das Geld von ihrem Laptop zurückbekommen zu haben. „Nach dem, was ich so über den Shop gelesen habe, hätte es mich auch schlimmer treffen können.“ Dort wird sie zukünftig nicht mehr bestellen, auch wenn die Sachen dort so billig sind. Einfach Gebrauchtware versenden und Geld für Neuware zu kassieren, das ist doch die Höhe! Anscheinend gibt es Kunden, die das nicht merken. In dem Fall ein gutes Geschäft für den Shop.


Wenn Tamsin aufgeregt oder nervös ist, fällt ihr das klare Denken schwer. Sie ist irritiert. Vor einiger Zeit beim Gespräch im Jobcenter hieß es, sie solle sich die neue Maßnahme zunächst nur ansehen. Deshalb war sie vergangenen Freitag dort. Doch dort wiederum hieß es, es würde erstmal nur ein Gespräch stattfinden. Nichts von Probe Tag! Tamsin grübelt darüber nach, ob es ihr beim Jobcenter falsch erklärt wurde, ob sie es falsch verstanden hatte, oder ob sich der Plan ohne ihr Mittwissen nur nachträglich verändert hatte.

Letztlich spielt es keine Rolle. Es war, wie es war und heute ist Montag. Doch die Vorstellung, die Realität zu verdrehen und Worte und Tatsachen falsch wahrzunehmen erschüttert sie. Als beispielsweise gefragt wurde, ob Tamsin Halb- oder Vollzeit machen soll und vom Amt her prompt Vollzeit bestimmt wurde, weil Tamsin keine Kinder hat und daher ruhig bis abends dortbleiben kann, hatte die Angst ihr Gedächtnis kurzzeitig lahmgelegt. Dies mag seltsam und übertrieben klingen, schließlich prägt Vollzeitarbeit das genormte, nicht zu hinterfragende Standartleben dieser Gesellschaft, doch die Umstellung wird Tamsin schwerfallen. Und wie sehr, ja, wen kümmert das schon?

Jedenfalls war dieses Gefühl, Worte zu hören, ohne ihnen eine Bedeutung zuordnen zu können, erschütternd. Und sie weiß nicht, was sie dagegen tun soll?

Tamsin erinnert sich an eine Zeit vor den Maßnahmen. Einer Zeit, in der sie, nachdem sie bereits mehrere Jahre ganz alleine in ihrem Kinderzimmer verbracht hatte, weil sie weder Arbeit noch Freunde hatte/fand, sich sogar nach JOBB ins Jahre 2007 zurückgewünscht hatte. Es war hart, aber Jahrelang alleine nur zuhause zu verbringen und höchstens mal kurz rausgehen, wenn Mom abends von der Arbeit kam, wurde mit der Zeit ebenfalls unerträglich.
Dies ist nun ungefähr vier, fünf Jahre her. „Ich weiß noch, wie ich traurig in meinem Zimmer auf und abgegangen bin, weil ich das ewige Sitzen vor Fernseher oder PC nicht ehr ausgehalten habe. Ich wollte raus, aber wohin? Ganz alleine ohne Auto in einem Dorf, wo der Bus nur dreimal Täglich fährt? Meine einstige Lieblingsbeschäftigung, das Chatten, wurde zur Qual.“ Langeweile paarte sich mit Lustlosigkeit, und das trieb sie beinahe in den Wahnsinn.
Ihren Ängsten unterlegen, fühlte sie sich wie gefangen in einem goldenen Käfig. Sie hatte alles, doch nicht das, was sie wirklich brauchte. „Ich glaube, letztlich ist kein Leben so furchtbar, wie eines in ewiger Einsamkeit.“

Tamsin nimmt Puckis und Wasser mit. Ihr wurde erklärt, in der Maßnahme gäbe es einen Kiosk und Mittagessen. Die bizarre Angst, dass mitgebrachte Nahrung dort nicht erlaubt sein könnte, packt sie.
Mit gemischten Gefühlen legt sie ihre Kette um. „Es ist doch schön, endlich wieder Schmuck zu tragen, schönere Klamotten anzuziehen und etwas zu erleben.“, sagt sie sich. Gerne trägt sie ihren selbst entworfenen Schmuck. Sie genießt die Anerkennung, wenn andere ihn bewundern. Ganz gleich, ob geheuchelt oder ehrlich gemeint.

  > Und wie war der erste Tag?

Tamsin hat ihren ersten Tag in der neuen Maßnahme gut überstanden. Sogar sehr gut. Die anderen Teilnehmer, die zusammen mit ihr dort starten, waren ihr bereits aus einer früheren Maßnahme bekannt. Die sind alle sehr nett. Auch die Angestellten scheinen sehr um das Wohl der Teilnehmer bemüht. Der Chefin gefällt, dass Tamsin gerne schreibt. Sie ist fasziniert. Zudem wurde Tamsin erklärt, dass es dort keine Zwänge geben soll; niemand wird gezwungen, stundenlang in der Küche zu stehen. Aber wie es wirklich sein wird, wird sich später zeigen. Tamsin ist oft skeptisch. Sie kann Dinge oft erst richtig glauben, wenn diese sich ihr bewiesen haben.

Tamsin ist erleichtert, dass um Mittag Feierabend war, denn so konnte sie noch zum Ohrenarzt. „Ich kam in den Flur, da stand erst eine Frau vor mir vor der verschlossenen Tür. Fünf Minuten später drängelte sich eine ganze Schlange durch den Hausflur. Man, hatte ich ein Glück!“

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