„Ich
bin keine Sklavin der Bürokratie!“
Ich
vermisse es, glücklich zu sein.
Gestern
war Tamsin sehr früh ins Bett gegangen. Beinahe 10 Stunden hat sie
durchgeschlafen. Abends war es noch etwas warm, aber außer Fernsehen hat sie
nichts mehr geschafft, weil ihr die Füße wehtaten und sie keine Sekunde länger
mehr stehen wollte/konnte. Sobald sie wach ist, beginnen die Grübeleien. „Ich
muss etwas tun. Ich darf das nicht ertragen. Es darf nicht werden wie früher.“
Ist der Leidensdruck zu stark, wird sie etwas tun. „Ich bin keine Sklavin der
Bürokratie!“
Heute
ist Donnerstag. Doch anstatt mich aufs WE zu freuen, dominiert die Angst vor
der nächsten Woche, in der alles wieder von vorne losgeht. „Es wäre dumm,
einfach nichtmehr in die Maßnahme zu gehen und damit Ärger zu riskieren. Noch
dümmer jedoch wäre es, jedes Leid stumm über mich ergehen zu lassen.“ Allein
die Tatsache, dass die von ihr erwarten, dass sie ihre eigenen Grenzen und
Vorsätze über Bord wirft und alles tut und glaubt was die sagen, macht Tamsin
verdammt wütend!
„Ich
trage heute seit langer Zeit mal wieder eine Kette.“ Wegen der Arbeitskleidung
hatte Tamsin sonst keine Lust darauf. Nun ist April und es ist warm draußen. Windstill.
Wird dies der Traumsommer, auf den sie so lange gewartet hat?
Wie
dem auch sei, die Lage in ihrer Maßnahme spitzt sich zu. „In meinem Donnerstag
morgendlichen Therapiegespräch wurde das Thema Schmerzen in den Füßen
erläutert. Mir wurde geraten zum Orthopäden zu gehen, damit der dieses
sonderbar schmerzhafte Phänomen einmal untersucht. Ich habe mir vorgenommen,
dies auch zu tun. Sobald ich im Anschluss in meiner Maßnahme angekommen bin,
habe ich Frau Ti von diesem Plan Berichtet. Immerhin tue ich etwas gegen das
Problem Schmerz. Sie jedoch Tat meine
Aussagen leichtfertig ab. Sie beharrt darauf, dass ich mich an Arbeit im Stehen
gewöhnen müsse. >>4 Stunden lang zu stehen ist doch nicht viel. Nein das ist
absolut nicht viel. Ich würde mich schon daran gewöhnen.<< Ich hingegen
kenne meinen Körper und weiß aus Erfahrungen in der Vergangenheit, dass ich
mich an so etwas nicht so einfach gewöhnen werde. Nicht einmal, wenn ich wollen
würde. Dann meinte sie, damals 2007 habe ich mich nur nicht daran gewöhnt, weil
ich es nicht wollte. Ich ließ mich dadurch jedoch nicht verunsichern und blieb
standhaft in meiner Meinung und Entschlossenheit, keine unnötigen, vermeidbaren
Schmerzen mehr zu ertragen. Irgendwann im Laufe des Gesprächs meinte sie, ich
würde mir den Schmerz nur einbilden. Da kam ich mir vor als würde ich als
verrückte bezeichnet werden. Das hat mich verletzt. Solche Aussagen
verunsichern mich in jeder Hinsicht, sodass ich, wenn ich echt daran glaube,
selbst irgendwann nicht mehr weiß, was ist real und was nicht? Natürlich weiß
ich, dass ich mir Schmerzen nicht einbilde und sie nicht weggehen, nur, weil
ich es nicht wollen würde. Dass sie mir helfen will, indem sie mich drängt
meine Grenzen zu überschreiten, ist mir jedoch keine Hilfe. Ohne Motivation.
Ohne jegliche Freude. In tiefer Verzweiflung habe ich dann gefragt, ob ich nicht
lieber einen Tag mehr an die Kasse kann anstatt HWI. Denn sie meint, Kasse tut
mir so gut, und ohne die Kasse wäre ich bis heute nicht fähig, ganze Sätze zu
sprechen. Dickköpfig, wie sie ist, lässt sie keine andere Meinung zu. Ich
dagegen weiß, dass es alles ganz anders ist. Aber was solls. Zu meinem Staunen
hat sich der Tag dann aber doch noch zum Guten gewendet und ich konnte sogar
einmal wieder lachen. Frau Xai, die neue Anleiterin, hat mit mir über einige
Themen besprochen, die wir in Zukunft angehen werden. Es geht um Gesundheit und
Ernährung. Wir wollen mit der Gruppe eine Zeitung schreiben. Allerdings
bezweifle ich, dass daraus etwas wird – jedenfalls mit mir -, wenn Frau Ti mich
nicht aus den anstrengenden Bereichen rauslässt, und bis auf Kara besteht die
Gruppe aus Teilzeit Leuten. Hm. Ich habe der Frau meine Webseite gezeigt und
sie wirkte begeistert von meinen Ideen. Dazu kamen wir, als sie meine
selbstgebastelte Kette in Augenschein nahm und ich ihr davon erzählte. Da Kara
nicht da war, hat sie mich zum Sport animiert und wir haben ein Spiel gespielt
wo wir uns gegenseitig den Ball über ein Netz zu werfen und dabei Wörter sagen,
aus denen längere Sätze gebildet worden. Dabei konnte ich meinen Frust vorerst
vergessen. Danach hat sie mir noch gezeigt, wie man einen eigenen Roman
veröffentlichen kann. Erst am Abend, als ich mit einem Stück Torte und
Orangensaft vor dem Fernseher saß, kam die traurige Verzweiflung wieder hoch.
Einerseits habe ich Angst davor verrückt zu werden und in einer Psychiatrie zu
landen. Da gibt es bestimmt genauso viele Zwänge und unangenehme Dinge geben
wie in meiner jetzigen Realität. Andererseits werden die mich dort bestimmt
nicht zwingen über vier Stunden lang zu stehen und Schmerzen zu ertragen. Na ja
bis auf den Schmerz von spritzen. Die mochte ich noch nie.“ Tamsin will nicht
weinen. Sie mag es nicht, dass falls jemand an ihrer Tür klingelt, der dann die
Tränen in ihren Augen sieht. „Irgendwie fühlt es sich aber auch gut an, zu
weinen. Man fühlt sich danach erleichtert.“
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