Tamsin gehört zu den Menschen, die mit
plötzlichen, harten Veränderungen nicht gut umzugehen vermögen. Als sie im
Jahre 2007 aus der Schule in eine berufsvorbereitende Maßnahme geschickt wurde,
wurde plötzlich alles anders. Am Anfang war Tamsin noch frohen Mutes. Etwas
Neues kam. Normaler Alltag des Erwachsenen-Lebens. Geld. Für die Teilnahme
erhielt sie 250€/Monat, was sie sehr motivierte, da sie mit dem Geld machen
konnte, was immer sie wollte, ohne etwas abgeben zu müssen. Sie hat für eine Camara
gespart.
In der Maßnahme gab es drei Bereiche
zur Auswahl. Malen, Holz und Küche. Tamsin hat sich für Malen entschieden, weil
sie gerne malt. Damals wusste sie nicht, dass es hauptsächlich um das einfarbige
Streichen von Wänden ging - eine recht ermüdende Tätigkeit. Dennoch war sie
enttäuscht, als es nach einem Eignungstest auf einmal hieß, sie würde in die
Holzwerkstatt kommen. Müssen. Angeblich waren im anderen Bereich auch schon
alles Plätze belegt.
Dort war sie das einzige Mädchen. Doch
die Jungs in dem Bereich waren einigermaßen neutral ihr gegenüber, ganz im
Gegensatz zu denen im Malerbereich, die in den Pausen immer über sie gelacht
haben, als Tamsin alleine starr und steif vor der Tür stand, weil sie sich
nicht zu den anderen auf die Bänke oder in den Pausenraum traute. Mit ihren
langen, dunklen Haaren und einer langen, roten Plastikjacke hatte sie immer
ausgesehen, wie so ein englischer Soldat. „Guck dir mal an, wie die aussieht!“,
hatte einmal einer über den Hof gerufen, Tamsin nachgemacht und lachend mit dem
Finger auf sie gezeigt. Alle starrten lachend zu ihr rüber.
Einmal hatte ein toter Vogel neben dem Eingang
gelegen. An dem Tag mussten alle draußen auf den Anleiter warten. Es stank
höllisch. Ein Typ hat ihn auf einen Stock aufgespießt und ist damit
herumgelaufen. Tamsin hatte Angst, dass er ihn auf sie werfen würde, was zu
ihrer Erleichterung nie geschah.
Zu Tamsins eigener Erleichterung blieb
es immer beim verbalem... "Mobbing". Auch an den beiden Berufschultagen,
die Wöchentlich stattfanden. Zwei verschiedene Klassen in zwei verschiedenen
Räumen mit verschiedenen Lehrern an verschiedenen Tagen. Die Montage waren der
reinste Horror. Denn die Gruppen/Klassen wurden aus
Problemkindern/Schulabbrechern und anderen "Versagern"
zusammengesetzt, die nicht einmal den Sonderschulabschluss geschafft haben und
ihn dort nachholen sollten. Mit Hauptschulabschluss war Tamsin dagegen recht…
schlau. Damals war sie noch stolz auf ihren Abschluss. Tamsin will nicht sagen,
diese Menschen wäre alle dumm, doch deren asozialen Verhalten nach gäbe es einfach
keine freundlichere Bezeichnung.
Diese Schüler waren alles andere, als
nett. Tamsin hat sich bei den dummen Sprüchen und was sie sich alles anhören
musste, während sie mit denen im Gang auf den Lehrer gewartet hat, nichts
gedacht. Das redet sie sich zumindest ein. Die Lehrer blieben von denen ebenfalls
nicht verschont. Der Mathelehrer wurde ausgelacht, im Unterricht mit Papier
beworfen - und er hat selbst mitgelacht, was Tamsin bei heute nicht verstehen
kann. Vielleicht hatte er ebenfalls Angst vor härteren Konfrontationen…?
In der Holzwerkstatt hat Tamsin immer
ruhig vor sich hingearbeitet, bemüht, alle Aufträge anständig fertigzustellen.
"Gearbeitet wird im Stehen!", lautete eine Anweisung, die ihr aber
ziemlich egal war, weil sie keinen Sinn darin sah, Schmerzen zu ertragen, wenn
sie doch vermieden werden konnten. So saß sie auf ihrem kleinen, harten Hocker,
und wenn etwas von Hand geschliffen werden musste, ließ sie sich damit immer
besonders viel Zeit. Sitzen tat gut.
Oft versank sie dabei in ihrer
Gedankenwelt. Manchmal so sehr, dass ihre Tagträume sie zum Lachen brachten,
was die anderen ein wenig irritierte. Aber das war ihr egal.
Nach einem halben Jahr bekam Tamsin die
Folgen der Veränderungen in diesem neuen Leben zu spüren. Montägliche Übelkeit.
Dazu unerträgliche Kopfschmerzen, die im Laufe des Tages immer stärker
anschwollen und manchmal sogar bis zum nächsten Tag andauerten. „Gegen Nachmittag
fing es an. Mir wurde plötzlich schlecht. Jedes Mal kurz vor 17 Uhr hatte ich
das Gefühl, mich jeden Augenblick übergeben zu müssen.“ Die Werkstatt war
aufgeräumt und der Anleiter sagte noch ein paar Worte zum Abschluss des Tages.
Tamsin weiß noch, wie sie auf ihren Tisch gestützt in Gedanken um Feierabend
gebettelt hat. Sobald es dann soweit war, war sie als erste draußen! „Gottseidank
hat diese Übelkeit, sobald ich meine blaue Arbeitshose ausgezogen und das
Gebäude verlassen habe, rasch nachgelassen.“ Jedoch nicht immer. Beinahe
Täglich gab es Pommes vom Imbiss, oder anderes Fastfood, da Tamsins Mom um 17
Uhr nicht mehr kochen wollte, Kochen zu lange gedauert hätte und Tamsin einfach
Hunger hatte. Tamsin hat den ganzen Tag über nichts Anderes zu sich genommen,
außer Kekse und EnergieDrink. „Ich wollte nicht zusammen mit der großen Gruppe
speisen.“ …mit denen, die über sie lachten. Außerdem mag sie das normale
Standartessen, dass in Kantinen serviert wird, nicht.
Warum kam diese Übelkeit immer nur
Monatgs? Lag es an dem Mobbing, dass Tamsin so große Angst vor der Maßnahme und
den Leuten hatte? An ihrer Ernährung? Oder an dem Holzstaub, wie eine Dame aus
dem Büro vermutet hatte? Niemals wurde dies geklärt.
Also wurde Tamsin dem Hauswirtschaftsbereich
zugeteilt. Von da an hieß es putzen, bügeln, abwaschen, wischen, fegen usw. Im
Grunde war diese Arbeit nicht übel. Tamsin hat es sogar genossen, ganz alleine
auf den Gängen zugange zu sein, zu fegen und die Tische zu decken. Das tat sie
gerne, und sie tat es gut, weswegen sie dies von da an fast täglich machen
durfte. Die Damen dort waren nett. Erwachsen. Anders als die kindischen Gören
aus der Berufschulklasse. Leider konnte Tamsin auch dort ihre mutischtischen
Zwänge und Sprachbarrieren nicht überwinden. Die montägliche Übelkeit schwand
zwar nicht gänzlich, wie auch die Kopfschmerzen, dennoch fühlte sie sich in
diesem Bereich gleich viel wohler. Abgesehen von den Rücken-Schmerzen - einem
neuen Problem. Bereits gegen Mittag verspürte sie, wie ihre Füße gegen die
ununterbrochene Belastung protestierten. Anschließend meldete sich ihr Rücken.
Tätigkeiten, bei denen nur auf einem Fleck zu Stehen war, beschleunigten ihr
Leiden. Tamsin begann, von einem Bein aufs andere zu treten. Beugte sich in
unregelmäßigen Abständen vor und zurück. Doch der Schmerz ließ sich nicht
vertreiben. Er kam. Täglich. Und unermesslich.
Irgendwann fasste Tamsin den Mut, davon
zu berichten. Wenn sie wolle, so heiß es, könnte sie jederzeit in die
Holzwerkstatt zurück. Tamsin erinnerte ich noch genau, wie sie damals vorsichtig
gefragt hat: „Wann kann ich denn in die Holzwerkstatt zurück?“
„Warum das denn? Gefällt es dir bei uns nicht“, erwiderte die
Hauswirtschaftsleiterin argwöhnisch. Sie war dagegen. Wollte, das Tamsin da bleib,
weil ihre Arbeit dem Bereich sehr zugute kam.
„Doch, es ist nett hier. Nur… Ich habe vom ununterbrochenen Stehen ständig
starke Schmerzen in Rücken und Füßen.“
„Wir werden sehen. Sammle die Matten ein. Heute bist du mit Absaugen
dran.“, kam die zickige Antwort.
Alle der zehn schweren Fußmatten einzusammeln und im Lager einzeln
abzusaugen - was für eine umständliche Arbeit! - zählte zu den unangenehmsten
Tätigkeiten. Tamsin hat dies gehasst.
Da Tamsin im Grunde gar nicht zurück in
den anderen Bereich wollte und es lediglich mit den Schmerzen zu tun hatte,
wurde beschlossen, dass Tamsin statt einem Wechsel nun öfters Sitzpausen
einlegen durfte, um ihren Körper ein wenig zu entlasten. Dabei durfte sie Dinge
abschreiben und abzeichnen, was sie gerne tat. Immer hat sie sich besonders
viel Zeit gelassen, denn ihr grauste davor, aufzustehen und der vertrauten Qual
neuen Einzug zu gewähren.
Doch das half letztlich nicht viel. Die
Schmerzen kamen dennoch wieder. Unerträglich. „Nach Feierabend bin ich mit
krummen Rücken vorgebäugt nach draußen gehumpelt. Täglich.“ Tamsin wollte, dass
es aufhört. Doch hat sie sich beklagt, erntete sie von den Anleitern Sprüche,
wie: „Daran gewöhnst du dich schon noch. Das ist ganz normal. Das Leben ist
kein Zuckerschlecken. Du bist noch jung; du musst das schaffen! Schau her, ich
bin doppelt so alt wie du und ich beklage mich auch nicht.“
Das Mobbing an den Schultagen dauerte
ebenfalls weiter an. Oft hat Tamsin zuhause geweint. Hat ihre Mutter gebeten,
in der Schule anzurufen, damit dies endlich geklärt wurde und die Typen in die
Schranken gewiesen wurden. Doch das tat sie nie. „Wenn wir uns einmischen, wird
es nur noch schlimmer.“, so ihre Meinung.
Tamsin hat es weiter ertragen.
Was dieser Hölle, zu der ihr Leben
geworden war, noch mehr Zunder gab, waren nicht nur die Schmerzen, sondern die
lange Zeit, die sie überhaupt erst entstehen ließen. Fast neun Stunden täglich
nur auf den Beinen zu sein ist hart, und diese Pein war Tamsins ewiger
Begleiter, sogar über den Feierabend hinaus.
Daheim angekommen, war Tamsin so sehr
erschöpft, dass sie alle Tätigkeiten, die mit Stehen zu tun hatten, vermied. Sogar
am Wochenende. Putzen, Aufräumen, Einkaufen, das alles war wie Arbeit - und von
Arbeit hatte sie wirklich genug! Tamsin hatte endlich Zeit für sich, und die
wollte sie mit Aktivitäten füllen, die ihr Freude bereiteten, sie ablenkten,
wieder zum Lachen brachten. Freunde hatte sie seit Schulabschluss keine Mehr.
Genaugenommen, seit dem Umzug in dieses von der Stadt entfernte Dorf. Ihre
einzigen Freunde waren das Internet und der Fernseher. Damit verbrachte sie
ihre Freizeit. Sobald sie aufstand, kam der Schmerz wieder, pochte in ihren
Hacken und Zehen. Darum vermeid sie es, aufzustehen. Ihre Eltern erledigten
alles Wichtige, sodass Tamsin sich um nichts zu kümmern brauchte.
Heute schämt Tamsin sich dafür. Selbst
Duschen wurde zur unangenehmen, zeitraubenden Arbeit. Ihre Mom war traurig,
weil ihre ungepflegte Tochter ihr peinlich war, doch Tamsin war es egal. Die
zwanzig Minuten konnten sinnvoller genutzt werden, als mit unter der Dusche
zu... stehen.
Zwischendurch gab es Praktika. Eines im
Kino, das Tamsin selbst vorgeschlagen hat. Sie interessierte sich für die Technik
mit den Filmspulen. Sie hatte erwartet, dort zu putzen. Stattdessen landete sie
an der Kasse. Naja, an der Popkornausgabe. „Hätte ich so etwas geahnt…“ Tamsin,
die sich nicht einmal traut, ihrer Chefin guten Morgen zu sagen, sollte
plötzlich Kunden bedienen! Ohje. Nach zwei Tagen wurde das Praktikum
abgebrochen.
Das zweite Praktikum in der Wäscherei hat
Tamsin sich aus dem einzigen Grund gezwungen durchzuhalten, weil sie da schon
um 14Uhr Feierabend hatte.
Im dritten wurden ihre „Probleme“
erkannt, weshalb sie in eine Behindertenwerkstatt geschickt wurde. „Ich dachte,
ich könnte in die Monatge. Gelangweilt ein Teil aufs andere Stecken und dabei
schlecht Musik aus einem plärrigen Radio hören.“ Stattdessen landete Tamsin in
der Küche. Was ihren Hass gegenüber Großküchen nicht gerade mindern konnte. Ewiges
Stehen, Tellerwaschen und eingefrorene Kartoffeln schneiden, die furchtbar
gestunken hatten.
Tamsins einzige Motivation, die
Maßnahme durchzuhalten, war das Geld und die Tatsache, dass diese Maßnahme nach
einem Jahr vorbei sein würde.
Nun, das war sie. Nie hat Tamsin dabei bedacht,
dass diese Maßnahme zeigen sollte, wie ein normales Arbeitsleben aussieht.
Normal.... „Soll so ein Leben wirklich Normalität bedeuten?“
Bis heute ist es Tamsin unmöglich, dies
zu akzeptieren. Denn selbst ohne Mobbing und vielleicht sogar ohne Schmerzen
erscheint ihr ein Vollzeittag wie ein in unerträglich hoher Berg vor ihrem inneren
Auge, den sie jeden Tag aufs Neue zu erklimmen gezwungen ist. Nur, um, sobald
sie oben angekommen ist, benommen einen Abhang hinunterzugleiten, aufzuwachen
und denselben Akt immer wieder und wieder aufs Neue auszufechten.
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