Donnerstag, 4. Mai 2017

JobB 2007 - diese Maßnahme hat Tamsin verändert

Tamsin gehört zu den Menschen, die mit plötzlichen, harten Veränderungen nicht gut umzugehen vermögen. Als sie im Jahre 2007 aus der Schule in eine berufsvorbereitende Maßnahme geschickt wurde, wurde plötzlich alles anders. Am Anfang war Tamsin noch frohen Mutes. Etwas Neues kam. Normaler Alltag des Erwachsenen-Lebens. Geld. Für die Teilnahme erhielt sie 250€/Monat, was sie sehr motivierte, da sie mit dem Geld machen konnte, was immer sie wollte, ohne etwas abgeben zu müssen. Sie hat für eine Camara gespart.
In der Maßnahme gab es drei Bereiche zur Auswahl. Malen, Holz und Küche. Tamsin hat sich für Malen entschieden, weil sie gerne malt. Damals wusste sie nicht, dass es hauptsächlich um das einfarbige Streichen von Wänden ging - eine recht ermüdende Tätigkeit. Dennoch war sie enttäuscht, als es nach einem Eignungstest auf einmal hieß, sie würde in die Holzwerkstatt kommen. Müssen. Angeblich waren im anderen Bereich auch schon alles Plätze belegt.
Dort war sie das einzige Mädchen. Doch die Jungs in dem Bereich waren einigermaßen neutral ihr gegenüber, ganz im Gegensatz zu denen im Malerbereich, die in den Pausen immer über sie gelacht haben, als Tamsin alleine starr und steif vor der Tür stand, weil sie sich nicht zu den anderen auf die Bänke oder in den Pausenraum traute. Mit ihren langen, dunklen Haaren und einer langen, roten Plastikjacke hatte sie immer ausgesehen, wie so ein englischer Soldat. „Guck dir mal an, wie die aussieht!“, hatte einmal einer über den Hof gerufen, Tamsin nachgemacht und lachend mit dem Finger auf sie gezeigt. Alle starrten lachend zu ihr rüber.
Einmal hatte ein toter Vogel neben dem Eingang gelegen. An dem Tag mussten alle draußen auf den Anleiter warten. Es stank höllisch. Ein Typ hat ihn auf einen Stock aufgespießt und ist damit herumgelaufen. Tamsin hatte Angst, dass er ihn auf sie werfen würde, was zu ihrer Erleichterung nie geschah.
Zu Tamsins eigener Erleichterung blieb es immer beim verbalem... "Mobbing". Auch an den beiden Berufschultagen, die Wöchentlich stattfanden. Zwei verschiedene Klassen in zwei verschiedenen Räumen mit verschiedenen Lehrern an verschiedenen Tagen. Die Montage waren der reinste Horror. Denn die Gruppen/Klassen wurden aus Problemkindern/Schulabbrechern und anderen "Versagern" zusammengesetzt, die nicht einmal den Sonderschulabschluss geschafft haben und ihn dort nachholen sollten. Mit Hauptschulabschluss war Tamsin dagegen recht… schlau. Damals war sie noch stolz auf ihren Abschluss. Tamsin will nicht sagen, diese Menschen wäre alle dumm, doch deren asozialen Verhalten nach gäbe es einfach keine freundlichere Bezeichnung.
Diese Schüler waren alles andere, als nett. Tamsin hat sich bei den dummen Sprüchen und was sie sich alles anhören musste, während sie mit denen im Gang auf den Lehrer gewartet hat, nichts gedacht. Das redet sie sich zumindest ein. Die Lehrer blieben von denen ebenfalls nicht verschont. Der Mathelehrer wurde ausgelacht, im Unterricht mit Papier beworfen - und er hat selbst mitgelacht, was Tamsin bei heute nicht verstehen kann. Vielleicht hatte er ebenfalls Angst vor härteren Konfrontationen…?

In der Holzwerkstatt hat Tamsin immer ruhig vor sich hingearbeitet, bemüht, alle Aufträge anständig fertigzustellen. "Gearbeitet wird im Stehen!", lautete eine Anweisung, die ihr aber ziemlich egal war, weil sie keinen Sinn darin sah, Schmerzen zu ertragen, wenn sie doch vermieden werden konnten. So saß sie auf ihrem kleinen, harten Hocker, und wenn etwas von Hand geschliffen werden musste, ließ sie sich damit immer besonders viel Zeit. Sitzen tat gut.
Oft versank sie dabei in ihrer Gedankenwelt. Manchmal so sehr, dass ihre Tagträume sie zum Lachen brachten, was die anderen ein wenig irritierte. Aber das war ihr egal.

Nach einem halben Jahr bekam Tamsin die Folgen der Veränderungen in diesem neuen Leben zu spüren. Montägliche Übelkeit. Dazu unerträgliche Kopfschmerzen, die im Laufe des Tages immer stärker anschwollen und manchmal sogar bis zum nächsten Tag andauerten. „Gegen Nachmittag fing es an. Mir wurde plötzlich schlecht. Jedes Mal kurz vor 17 Uhr hatte ich das Gefühl, mich jeden Augenblick übergeben zu müssen.“ Die Werkstatt war aufgeräumt und der Anleiter sagte noch ein paar Worte zum Abschluss des Tages. Tamsin weiß noch, wie sie auf ihren Tisch gestützt in Gedanken um Feierabend gebettelt hat. Sobald es dann soweit war, war sie als erste draußen! „Gottseidank hat diese Übelkeit, sobald ich meine blaue Arbeitshose ausgezogen und das Gebäude verlassen habe, rasch nachgelassen.“ Jedoch nicht immer. Beinahe Täglich gab es Pommes vom Imbiss, oder anderes Fastfood, da Tamsins Mom um 17 Uhr nicht mehr kochen wollte, Kochen zu lange gedauert hätte und Tamsin einfach Hunger hatte. Tamsin hat den ganzen Tag über nichts Anderes zu sich genommen, außer Kekse und EnergieDrink. „Ich wollte nicht zusammen mit der großen Gruppe speisen.“ …mit denen, die über sie lachten. Außerdem mag sie das normale Standartessen, dass in Kantinen serviert wird, nicht.
Warum kam diese Übelkeit immer nur Monatgs? Lag es an dem Mobbing, dass Tamsin so große Angst vor der Maßnahme und den Leuten hatte? An ihrer Ernährung? Oder an dem Holzstaub, wie eine Dame aus dem Büro vermutet hatte? Niemals wurde dies geklärt.

Also wurde Tamsin dem Hauswirtschaftsbereich zugeteilt. Von da an hieß es putzen, bügeln, abwaschen, wischen, fegen usw. Im Grunde war diese Arbeit nicht übel. Tamsin hat es sogar genossen, ganz alleine auf den Gängen zugange zu sein, zu fegen und die Tische zu decken. Das tat sie gerne, und sie tat es gut, weswegen sie dies von da an fast täglich machen durfte. Die Damen dort waren nett. Erwachsen. Anders als die kindischen Gören aus der Berufschulklasse. Leider konnte Tamsin auch dort ihre mutischtischen Zwänge und Sprachbarrieren nicht überwinden. Die montägliche Übelkeit schwand zwar nicht gänzlich, wie auch die Kopfschmerzen, dennoch fühlte sie sich in diesem Bereich gleich viel wohler. Abgesehen von den Rücken-Schmerzen - einem neuen Problem. Bereits gegen Mittag verspürte sie, wie ihre Füße gegen die ununterbrochene Belastung protestierten. Anschließend meldete sich ihr Rücken. Tätigkeiten, bei denen nur auf einem Fleck zu Stehen war, beschleunigten ihr Leiden. Tamsin begann, von einem Bein aufs andere zu treten. Beugte sich in unregelmäßigen Abständen vor und zurück. Doch der Schmerz ließ sich nicht vertreiben. Er kam. Täglich. Und unermesslich.

Irgendwann fasste Tamsin den Mut, davon zu berichten. Wenn sie wolle, so heiß es, könnte sie jederzeit in die Holzwerkstatt zurück. Tamsin erinnerte ich noch genau, wie sie damals vorsichtig gefragt hat: „Wann kann ich denn in die Holzwerkstatt zurück?“
  „Warum das denn? Gefällt es dir bei uns nicht“, erwiderte die Hauswirtschaftsleiterin argwöhnisch. Sie war dagegen. Wollte, das Tamsin da bleib, weil ihre Arbeit dem Bereich sehr zugute kam.
  „Doch, es ist nett hier. Nur… Ich habe vom ununterbrochenen Stehen ständig starke Schmerzen in Rücken und Füßen.“
  „Wir werden sehen. Sammle die Matten ein. Heute bist du mit Absaugen dran.“, kam die zickige Antwort.
  Alle der zehn schweren Fußmatten einzusammeln und im Lager einzeln abzusaugen - was für eine umständliche Arbeit! - zählte zu den unangenehmsten Tätigkeiten. Tamsin hat dies gehasst.
Da Tamsin im Grunde gar nicht zurück in den anderen Bereich wollte und es lediglich mit den Schmerzen zu tun hatte, wurde beschlossen, dass Tamsin statt einem Wechsel nun öfters Sitzpausen einlegen durfte, um ihren Körper ein wenig zu entlasten. Dabei durfte sie Dinge abschreiben und abzeichnen, was sie gerne tat. Immer hat sie sich besonders viel Zeit gelassen, denn ihr grauste davor, aufzustehen und der vertrauten Qual neuen Einzug zu gewähren.
Doch das half letztlich nicht viel. Die Schmerzen kamen dennoch wieder. Unerträglich. „Nach Feierabend bin ich mit krummen Rücken vorgebäugt nach draußen gehumpelt. Täglich.“ Tamsin wollte, dass es aufhört. Doch hat sie sich beklagt, erntete sie von den Anleitern Sprüche, wie: „Daran gewöhnst du dich schon noch. Das ist ganz normal. Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Du bist noch jung; du musst das schaffen! Schau her, ich bin doppelt so alt wie du und ich beklage mich auch nicht.“

Das Mobbing an den Schultagen dauerte ebenfalls weiter an. Oft hat Tamsin zuhause geweint. Hat ihre Mutter gebeten, in der Schule anzurufen, damit dies endlich geklärt wurde und die Typen in die Schranken gewiesen wurden. Doch das tat sie nie. „Wenn wir uns einmischen, wird es nur noch schlimmer.“, so ihre Meinung.

Tamsin hat es weiter ertragen.

Was dieser Hölle, zu der ihr Leben geworden war, noch mehr Zunder gab, waren nicht nur die Schmerzen, sondern die lange Zeit, die sie überhaupt erst entstehen ließen. Fast neun Stunden täglich nur auf den Beinen zu sein ist hart, und diese Pein war Tamsins ewiger Begleiter, sogar über den Feierabend hinaus.
Daheim angekommen, war Tamsin so sehr erschöpft, dass sie alle Tätigkeiten, die mit Stehen zu tun hatten, vermied. Sogar am Wochenende. Putzen, Aufräumen, Einkaufen, das alles war wie Arbeit - und von Arbeit hatte sie wirklich genug! Tamsin hatte endlich Zeit für sich, und die wollte sie mit Aktivitäten füllen, die ihr Freude bereiteten, sie ablenkten, wieder zum Lachen brachten. Freunde hatte sie seit Schulabschluss keine Mehr. Genaugenommen, seit dem Umzug in dieses von der Stadt entfernte Dorf. Ihre einzigen Freunde waren das Internet und der Fernseher. Damit verbrachte sie ihre Freizeit. Sobald sie aufstand, kam der Schmerz wieder, pochte in ihren Hacken und Zehen. Darum vermeid sie es, aufzustehen. Ihre Eltern erledigten alles Wichtige, sodass Tamsin sich um nichts zu kümmern brauchte.

Heute schämt Tamsin sich dafür. Selbst Duschen wurde zur unangenehmen, zeitraubenden Arbeit. Ihre Mom war traurig, weil ihre ungepflegte Tochter ihr peinlich war, doch Tamsin war es egal. Die zwanzig Minuten konnten sinnvoller genutzt werden, als mit unter der Dusche zu... stehen.

Zwischendurch gab es Praktika. Eines im Kino, das Tamsin selbst vorgeschlagen hat. Sie interessierte sich für die Technik mit den Filmspulen. Sie hatte erwartet, dort zu putzen. Stattdessen landete sie an der Kasse. Naja, an der Popkornausgabe. „Hätte ich so etwas geahnt…“ Tamsin, die sich nicht einmal traut, ihrer Chefin guten Morgen zu sagen, sollte plötzlich Kunden bedienen! Ohje. Nach zwei Tagen wurde das Praktikum abgebrochen.
Das zweite Praktikum in der Wäscherei hat Tamsin sich aus dem einzigen Grund gezwungen durchzuhalten, weil sie da schon um 14Uhr Feierabend hatte.
Im dritten wurden ihre „Probleme“ erkannt, weshalb sie in eine Behindertenwerkstatt geschickt wurde. „Ich dachte, ich könnte in die Monatge. Gelangweilt ein Teil aufs andere Stecken und dabei schlecht Musik aus einem plärrigen Radio hören.“ Stattdessen landete Tamsin in der Küche. Was ihren Hass gegenüber Großküchen nicht gerade mindern konnte. Ewiges Stehen, Tellerwaschen und eingefrorene Kartoffeln schneiden, die furchtbar gestunken hatten.

Tamsins einzige Motivation, die Maßnahme durchzuhalten, war das Geld und die Tatsache, dass diese Maßnahme nach einem Jahr vorbei sein würde.
Nun, das war sie. Nie hat Tamsin dabei bedacht, dass diese Maßnahme zeigen sollte, wie ein normales Arbeitsleben aussieht. Normal.... „Soll so ein Leben wirklich Normalität bedeuten?“
Bis heute ist es Tamsin unmöglich, dies zu akzeptieren. Denn selbst ohne Mobbing und vielleicht sogar ohne Schmerzen erscheint ihr ein Vollzeittag wie ein in unerträglich hoher Berg vor ihrem inneren Auge, den sie jeden Tag aufs Neue zu erklimmen gezwungen ist. Nur, um, sobald sie oben angekommen ist, benommen einen Abhang hinunterzugleiten, aufzuwachen und denselben Akt immer wieder und wieder aufs Neue auszufechten.






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