Mittwoch, 3. Mai 2017

Alle lachen, nur Tamsin nicht.


Als Tamsin heute Früh in ihrer Maßnahme ankam, stand sogleich das Thema Arbeitszeiten auf den Plan. Sie muss zusammen mit drei anderen in Vollzeit dableiben, während alle anderen der zehn Teilnehmer früher gehen dürfen. Zudem sind die beiden anderen junge Menschen in Tamsins Alter. Jedoch scheint sie sich mit denen nicht ganz so gut zu verstehen, wie das oft bei jungen Menschen so ist. Tamsin will nicht behaupten, diese Leute seien Kindisch. Nur… „Eine junge Dame hat in der Pause das Wort „Nippel“ auf einen Zettel geschrieben und ihn grinsend den anderen gezeigt, die daraufhin aufgeblickt und ebenfalls in Kichern ausgebrochen sind.“ Zunächst dachte Tamsin, der Witz würde auf ihre Kosten gehen. Unauffällig schaute sie auf ihre Brust. Nichts Auffälliges zu sehen. Gegen ihren Willen grübelt Tamsin darüber nach, worum es dabei wohl gehen könnte. „Das letzte Mal habe ich über so etwas gelacht, da war ich in der Grundschule!“

Diese Grübelei lenkt sie kurzzeitig von anderen Sorgen ab. Unzufriedenheit, Traurigkeit und Gleichgültigkeit fechten in ihrer Seele einen erbitterten Kampf aus. Jedes Mal, wenn sie zur Tafel sieht und ihren Namen in der Vollzeit-Liste liest, explodieren kalte Schauder in ihrem Magen. Ihre Stimmung ist im Keller. „Was solls.“

Nach der morgendlichen Besprechung – Küche und Verkauf stehen in dieser Maßnahme im Vordergrund – gingen alle in den Computerraum, um nach Rezepten zu suchen. Schließlich müssen die Schulklassen, die demnächst ebenfalls in die Einrichtung kommen, um dort eine berufsvorbereitende Maßnahme zu absolvieren, ja etwas essen! Trotz typischer Computerpannen – der Drucker/Netzwerk funktioniert nicht – hat Tamsin einige leckere Rezepte herausgesucht. Wraps, Smoothies.
Später wird dann gefragt, wer bei der Zubereitung helfen möchte. Das allgemeine Interesse ist gering. Doch obwohl Tamsin den Küchenbereich nicht besonders gut leiden kann, wäre sie innerlich nicht abgeneigt, sich an neuen Rezepten zu versuchen, damit sie später, wenn sie einmal eine eigene Küche haben sollte, wenigstens etwas Gutes kann!

Dennoch meldet sie sich nicht. Frustriert über ihren eigenen Unmut starrt sie auf ihre Hände. Am Tag zuvor hatte sie sich an einer Postkarte geschnitten und die Stelle fängt andauernd an zu bluten. Aber es tat nicht weh. „Warum tut es nicht weh?“ Tamsin ist bedrückt. Die Chance, etwas Gutes zu kochen zu lernen wird sich ihr nie wieder bieten. Aber letztlich ist es ihr auch egal. Sie kann keine Freude empfinden. Sie starrt auf ihren Blutverschmierten Fingernagel, während die anderen lachen und sich unterhalten. Gerne würde sie lachen. Stattdessen blinzelt sie aufsteigende Tränen fort. Deprimierende Gedanken bezwingen jegliche Freude. Sie findet es seltsam, beinahe ironisch, dass sie ausgerechnet in der Maßnahme, die ihre Angst vor dem Zeitverlust vor zehn Jahren ausgelöst hat, zum ersten Mal seit daher mit Vollzeit konfrontiert wird. Derselbe Name. Junge, kindische Menschen. Küche.

Heute war wieder früh Schluss. Jedoch war der Aufbruch zu spät. Der Bus kam drei Minuten zu früh – und er fuhr geradewegs an Tamsin und den anderen Mitfahrern vorbei. rEin Zebrastreifen und zehn Meter Fußweg zu viel! Wütend entscheidet sie sich, nicht zurückzugehen und auf den nächsten Bus in der Maßnahme zu warten, sondern geht mit den anderen zu Fuß. In ihrer momentanen Gleichgültigkeitsphase war ihr sogar die eine Stunde egal, die sie nun dadurch verloren hatte. Auf dem Weg grübelt sie weiter über Dinge nach, die ein Mensch niemals aussprechen sollte. Der Marsch tat gut. Die Windrichtung dagegen weniger. Denn bis der nächste Bus kam dauerte es noch eine knappe halbe Stunde, in der sie sich von den Rauchern noch einmal ordenlich vollstinkern lassen durfte.

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