Als Tamsin
heute Früh in ihrer Maßnahme ankam, stand sogleich das Thema Arbeitszeiten auf
den Plan. Sie muss zusammen mit drei anderen in Vollzeit dableiben, während
alle anderen der zehn Teilnehmer früher gehen dürfen. Zudem sind die beiden
anderen junge Menschen in Tamsins Alter. Jedoch scheint sie sich mit denen nicht
ganz so gut zu verstehen, wie das oft bei jungen Menschen so ist. Tamsin will
nicht behaupten, diese Leute seien Kindisch. Nur… „Eine junge Dame hat in der
Pause das Wort „Nippel“ auf einen Zettel geschrieben und ihn grinsend den
anderen gezeigt, die daraufhin aufgeblickt und ebenfalls in Kichern
ausgebrochen sind.“ Zunächst dachte Tamsin, der Witz würde auf ihre Kosten
gehen. Unauffällig schaute sie auf ihre Brust. Nichts Auffälliges zu sehen. Gegen
ihren Willen grübelt Tamsin darüber nach, worum es dabei wohl gehen könnte. „Das
letzte Mal habe ich über so etwas gelacht, da war ich in der Grundschule!“
Diese Grübelei
lenkt sie kurzzeitig von anderen Sorgen ab. Unzufriedenheit, Traurigkeit und Gleichgültigkeit
fechten in ihrer Seele einen erbitterten Kampf aus. Jedes Mal, wenn sie zur
Tafel sieht und ihren Namen in der Vollzeit-Liste liest, explodieren kalte
Schauder in ihrem Magen. Ihre Stimmung ist im Keller. „Was solls.“
Nach der
morgendlichen Besprechung – Küche und Verkauf stehen in dieser Maßnahme im
Vordergrund – gingen alle in den Computerraum, um nach Rezepten zu suchen. Schließlich
müssen die Schulklassen, die demnächst ebenfalls in die Einrichtung kommen, um
dort eine berufsvorbereitende Maßnahme zu absolvieren, ja etwas essen! Trotz typischer
Computerpannen – der Drucker/Netzwerk funktioniert nicht – hat Tamsin einige leckere
Rezepte herausgesucht. Wraps, Smoothies.
Später wird
dann gefragt, wer bei der Zubereitung helfen möchte. Das allgemeine Interesse
ist gering. Doch obwohl Tamsin den Küchenbereich nicht besonders gut leiden
kann, wäre sie innerlich nicht abgeneigt, sich an neuen Rezepten zu versuchen,
damit sie später, wenn sie einmal eine eigene Küche haben sollte, wenigstens
etwas Gutes kann!
Dennoch
meldet sie sich nicht. Frustriert über ihren eigenen Unmut starrt sie auf ihre
Hände. Am Tag zuvor hatte sie sich an einer Postkarte geschnitten und die
Stelle fängt andauernd an zu bluten. Aber es tat nicht weh. „Warum tut es nicht
weh?“ Tamsin ist bedrückt. Die Chance, etwas Gutes zu kochen zu lernen wird
sich ihr nie wieder bieten. Aber letztlich ist es ihr auch egal. Sie kann keine
Freude empfinden. Sie starrt auf ihren Blutverschmierten Fingernagel, während
die anderen lachen und sich unterhalten. Gerne würde sie lachen. Stattdessen blinzelt
sie aufsteigende Tränen fort. Deprimierende Gedanken bezwingen jegliche Freude.
Sie findet es seltsam, beinahe ironisch, dass sie ausgerechnet in der Maßnahme,
die ihre Angst vor dem Zeitverlust vor zehn Jahren ausgelöst hat, zum ersten
Mal seit daher mit Vollzeit konfrontiert wird. Derselbe Name. Junge, kindische
Menschen. Küche.
Heute war
wieder früh Schluss. Jedoch war der Aufbruch zu spät. Der Bus kam drei Minuten
zu früh – und er fuhr geradewegs an Tamsin und den anderen Mitfahrern
vorbei. Ein Zebrastreifen und
zehn Meter Fußweg zu viel! Wütend entscheidet sie sich, nicht zurückzugehen und
auf den nächsten Bus in der Maßnahme zu warten, sondern geht mit den anderen zu
Fuß. In ihrer momentanen Gleichgültigkeitsphase war ihr sogar die eine Stunde
egal, die sie nun dadurch verloren hatte. Auf dem Weg grübelt sie weiter über
Dinge nach, die ein Mensch niemals aussprechen sollte. Der Marsch tat gut. Die
Windrichtung dagegen weniger. Denn bis der nächste Bus kam dauerte es noch eine
knappe halbe Stunde, in der sie sich von den Rauchern noch einmal ordenlich
vollstinkern lassen durfte.
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