Dienstag, 2. Mai 2017

Gesundheitsbelehrung

Im Rahmen der Maßnahme steht heuet eine Gesundheitsbelehrung auf den Plan. Weil der Termin leider recht früh angesetzt ist, findet das Zusammentreffen direkt dort statt. Dies sollte kein Problem sein. So spart Tamsin sich die Busfahrt, die sie - immer noch erleichtert, dass es kein vollgestopfter Schulbus ist - eigentlich gern tätigt. Wenn auch das Umsteigen zwar nicht unangenehm, aber Zeitraubend ist, da sie jeden Morgen 20 Minuten auf den nächsten Bus warten muss. Oft steht er schon an der Straße. Leider darf niemand früher einsteigen, weil der Fahrer noch Kaffee trinkt und Zeitung liest. Tamsin ist währenddessen nicht alleine. Eine andere Kollegin fährt mit ihr. Die Dame ist sehr gesprächig, was Tamsin zunächst irritiert hat. Es gibt Menschen, die können stundenlang im Stück reden, über die banalsten Dinge. Tamsin sieht es positiv. Zum einen ist sie froh, nicht wie üblich ganz alleine dastehen und warten zu müssen. Zum anderen sieht sie es als Übung. Als Herausforderung. Sie gibt sich Mühe, ihre Ängste in den Schatten zu zwingen und das Gespräch zu erwidern. Es gab eine Zeit, da konnte sie auf so etwas nur mit Ja oder Nein reagieren. In früher Kindheit war es oft nur ein Nicken. Tamsin merkt, dass sie nicht mehr ist, wie früher. Ihr Herz überschlägt sich nicht, wenn ihr jemand eine Frage stellt, und es gelingt ihr, diese, so komisch oder albern es auch klingen mag, in längeren Sätzen zu beantworten.

Die Gesundheitsbelehrung... Trotz einiger Fortschritte im Kampf gegen ihre Ängste steigt vertrautes Unbehagen in ihr hoch. So viele Fragen liegen ihr auf der Seele. Wird Tamsin den Treffpunkt finden? Es wurde nur eine Andresse genannt. Werden die anderen schon auf sie warten? Wird ihr Dad, der sie hinfährt, weil es direkt in der nahen Stadt stattfindet, wie üblich darauf bestehen, viel zu früh loszufahren, sodass Tamsin die erste ist, nicht weiß, wo sie hinmuss und frustriert eine halbe Ewigkeit in der Kälte vor der Tür ausharrt? Wie groß wird die Angst, auf die Gruppe zuzugehen, sofern noch niemand von den Leuten da ist, die sie von damals kennt? Dort wird ein Film geschaut. Wird Tamsin einen guten Platz abbekommen? Sie hasst es, wenn im Kino oder Theater so eine großgewachsene Person mit dickem Kopf oder buschigem Haar vor ihr sitzt, der 1/4 der Aussicht bedeckt. „Gerecht wäre, würde man dann ¼ des Eintrittspreises zurückbekommen!“
Was, wenn es sehr dunkel ist und ihr plötzlich ein Staubkorn ins Auge fliegt? Dann müsste sie eine Toilette mit Spiegel suchen und würde dadurch einen wichtigen Teil der Belehrung verpassen. Tamsin hat sogar auf ihren Kaffee verzichten, um zu verhindern, dass es währenddessen wieder in der Blase drückt. Sie hasst das Gefühl.
So viele überflüssige Sorgen. Tamsin will sie verdrängen, lässt es einfach auf sich zukommen... irgendwie.

Später…

Letztlich war Tamsin nicht die erste, sondern eine der ersten, da die anderen alle zu spät kamen. Warum? Gute Frage. Sie wussten die Zeit. Tamsin  war sich nicht sicher, ob sie da, wo sie war, wirklich richtig war. Auf einem Klinikgelände ohne sofort erkennbare Hausnummern einen bestimmten Eingang zu finden ist nicht immer ganz einfach. Die Leute, die bereits vor ihr da waren, zählten zu den neuen, mit denen sie noch nicht so ganz vertraut war. Folglich hatte sich Tamsin ein wenig abseits gestellt und mit denen vor der Tür gewartet. Sie hatte sich nicht einmal zu einer Begrüßung getraut, da sie sich nicht ganz sicher war, ob diese Leute wirklich Kollegen waren, oder nur so aussehen. Sie hasst diese ewige Unsicherheit. Ernst nach mehreren unauffälligen Blicken gewann sie Sicherheit. Doch dann war es zu spät, und ein Hallo hätte dann eher peinlich, als höflich gewirkt.
Sobald die anderen dann endlich eintrafen, lockerte sich ihre Anspannung ein wenig. Viele sind nett, neutral. Sie behandeln Tamsin nicht wie einen Geist, wenn sie erkennen, dass Tamsin schüchtern ist, einmal nicht sofort Antwortet oder sich nicht traut.
dEs gab Ärger, dass die Gruppe zu spät war, und beinahe hätten wir fast 2 Stunden warten müssen.“
Die Plätze im Belehrungsraum waren überaus unklug angeordnet. Fünf Sitzreihen akkurat hintereinander, als säße man in einem Bus. Und so dicht, dass man die Beine spreizen musste, um mit den Kienen nicht in den Rücken des Vorsitzenden zu drücken. Bereits in der zweiten Reihe konnte man die kleine Wandprojektion nur noch zur Hälfte erkennen. Tamsin, der nach Vorzeigung ihres Ausweises gesagt wurde, sie dürfe bereits Platznehmen, während der Rest ihrer Gruppe aus einem ihr unerklärlichen Grund noch im Gang wartete, trottete unsicher durch die Reihen. Jdeder Platz war gleich schlecht. Bis sie plötzlich ganz hinten angelangte. Kurzentschlossen schnappt sie sich den letzten, mittleren Stuhl. Von ganz hinten erschien ihr die Schrift vorne winzig, doch ihr Blick reichte durch den Gang und niemand saß vor ihr. Dort wartete sie, bis die anderen eintrafen und die „Dozentin“ mit ihrem belehrenden Vortrag begann. Es war ein wenig anstrengend, doch lehrreich.

Danach war Feierabend. Da Tamsins Mom heute Urlaub hatte, fuhren sie nach Lübeck ins LUV Center, wo es Sushi und Torte gab. Und Postkarten – der vermutlich eigentliche Grund für die Fahrt. Ihr Dad schnappt sich eine Menge, und Tamsin tat es ihm gleich, auch wenn sie keine Gewinnspiele mitmacht.

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