Seit Tamsin ihre vorige Maßnahme
verlassen hatte, hat sie den Montag nicht mehr positiv gesehen. Es war immer
schön aus dem Wochenende an einen Ort zu gehen, wo einen alle kennen, wo alle
nett sind und wo man weiß, eine angenehme Beschäftigung zu haben. Ohne Stress.
Ohne Angst. Diese Freude hatte sich nach dem Wechsel in die neue Maßnahme rasch
verflüchtigt. Anstatt entspannten Unterrichts und ein bisschen gemeinsames Wandern
hatte sie der Ernst des Arbeitsalltags erwartet. Ungewohnt, wenn man so lange
nicht derartig beschäftigt war. Nun ist auch das vorbei. Obwohl Tamsin froh
ist, dem Stress, Ärger und Angst entkommen zu sein, fühlt sie sich wie ein
Versager. „Die Arbeit war nicht so schwer und ist für jeden normalen Menschen
zu schaffen.“, weiß sie, während sie ihre Ängste verflucht.
Tamsin ist kein normaler Mensch. Sie
verachtet den Mainstream und lehnt Standards, wie auch Trends strikt ab. Wozu
sind Trends gut? „Ach, Trends sind etwas für Leute, die keine eigene Meinung
haben.“ In ihrer Kindheit war der neuste Trend auch für sie ein Muss! „Wir
hatten alle das gleiche. Trugen die gleichen Röcke, die gleichen Jacken und
Taschen derselben coolen Marke. Teuer und schick!“ Das redete sie sich zumindest
ein. Fischborn war damals ihre Marke. „Wenn alle es toll finden, dann muss es
doch auch toll sein! Oder?“ Selbst, wenn sie es hässlich findet. Es ist IN und
man gehört dazu! Darauf kommt es an.
Heute ist
Tamsin froh, sich durch Individualität von der Masse abheben zu können. Was gar
nicht so einfach ist. Kik und Takko haben sich dem Standard angepasst. Etwas
Besonderes, Ausgefallenes sucht man dort vergebens. Schlichte Schnitte,
eintönige, schlichte Farben. Grau, weiß, jeansblau. „Es ist schrecklich, wenn
alle gleich aussehen. Alle das gleiche mögen. Alle gleich denken.“ Tamsin hört auch
kein Radio. Schon lange nicht mehr. Sie bevorzugt anspruchsvollere Künstler als
die, die den Massengeschmack decken. In der Maßnahme gab es ein Radio, das von
früh bis spät durch die Werkstatt plärrte. Beim Hören dachte Tamsin: „Oh. Es
kommt immer noch dieselbe Musik wie damals. Dazwischen modernes Plastik-Gedudel
aus Amerika. Wie kann man so etwas Musik nennen?“ Tamsin findet es schade, dass
im Radio nie Musik von Großstadtgeflüster, Marilyn Manson oder Samsas Traum zu
hören ist. „Nur, weil die breite Masse so etwas nicht mag.“ Niemand ist
gezwungen, Radio zu hören. Zumindest nicht in seiner Freizeit. Und das ist gut
so.
Tamsin
hat ein angenehmes Wochenende hinter sich. „Ich habe mir Der Herr der Ringe -
Die Spielfilm Trilogie Extended angeschaut.“ Jeden Tag einen Film. „Ich kannte
die ungekürzte Version bisher noch gar nicht.“ Vier Stunden für einen Film ist
schon eine Menge Zeit. „Aber es ist es wert. Der Film ist keine Sekunde
langweilig! Allerdings verstehe ich nicht, warum es von Filmen immer verschieden
lange Fassungen geben muss. Einen Film sollte man immer ungekürzt schauen. Ist
doch blöd, wenn so viele schöne, wichtige Szenen rausfallen, nur um Zeit zu
sparen.“
Gegen
Nachmittag hat Tamsin mit ihrer Mom ein Lebkuchenhaus gemacht. Das erinnerte
sie an ihre Kindheit. Früher hatte sie immer ein Haus zu Weihnachten bekommen. „Es
scheint mir ein wenig früh. Wir haben erst November. Aber was solls.“ Im
Anschluss wurde das übrig gebliebene Eigelb in Zuckerei verwandelt. Rohes
Eigelb, gerührt mit Zucker – als Kind hat Tamsin es geliebt! Wenn sie heute
davon kostet, schießen ihr Gedanken über Salmonellen und Krankheiten in den Sinn.
Trotzdem leert sie die komplette Tasse!
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