Freitag, 21. Juli 2017

Teilzeitstellenlehre



Heute haben in der Maßnahme zwei Damen einen Vortrag über Teilzeit Ausbildung gehalten. Tamsin hört diesen Vortrag nun schon zum dritten Mal. Gerne würde sie auch eine Ausbildung machen. In Teilzeit, ohne Stress, ohne Ärger, ohne Zeitdruck. „Würde ich sofort machen! Ich wäre motiviert. Hätte Spaß dran. Besonders wenn es ein Beruf wäre, der mir persönlich gefällt.“
Heimkommen, ohne zu wissen, dass der Tag vorüber ist und man nichts tun kann, außer Essen und früh schlafen zu gehen, damit man am nächsten Tag überhaupt erholt aus dem Bett kommt.
Aber in Teilzeit kommt für Tamsin nicht in Frage. Sie ist jung und fitt, hat keine Kinder und hat abgesehen von einer Angststörung, die sie zudem daran hindert, ihren Kummer zu äußern, keine Einschränkungen. Niemand weiß von dieser Angst, und niemand würde sie ernst nehmen. Tamsin sitzt in der Gruppe oft nur still am Rande. Ist die Stimmung heiter, lächelt sie auch mal. Verspüren andere Unmut, lassen sie ihn raus. Andere merken sofort, wenn es jemanden nicht gut geht. Doch ist Tamsin einmal den Tränen nahe, tosen depressive Gedanken in ihrem Kopf wie ein Wirbelsturm, bleibt dieser stets von der Außenwelt verborgen. Tamsin will keine Tränen zeigen, und so behält sie ihre ausdruckslose Miene stets bei. Unbemerkt und unbeachtet. 
Tamsin will auch gar nicht, dass andere sich um sie „kümmern“. Letztlich kann niemand etwas an der Gesamtsituation ändern.
„Menschen können Ängste nicht nachempfinden. Es ist wie bei einer Spinnenphobie. Andere lachen darüber, verstehen es nicht, während Betroffene im Boden versinken.“

Tamsin arbeitet weiterhin fleißig an ihrem Roman. Sie will im Leben etwas erreichen!
Dadurch wirkt ein Teilzeitjob noch verlockender. Man hat noch Zeit zum Schreiben und verdient sich damit ein wenig dazu, was vielleicht genügt, das, was einem durch die Teilzeitstelle fehlt, aufzustocken. Dadurch hat man letztlich genug Geld zum Leben, ist unabhängig, frei und kann dennoch tun, was man gerne macht. „Bis dahin ist es ein weiter Weg....“
Wieder einmal hat Tamsin ihre Lage in einem Forum geschildert. Hat nach „Nischenberufen“ gefragt, da in Google immer nur Standartberufe genannt werden. Verkäufer, Koch, Pfleger...  Auch wenn ihr in ihrer Maßnahme Hoffnung gemacht wurde, dass es auch für sie einen passenden Beruf gibt, glaubt sie den Leuten, die ihr in den Foren erzählen, dass sie mit ihrem Schulabschluss keine Chance auf einen ruhigen Bürojob hat, und dass sie ein naiver Träumer ist, wenn sie denkt, dass es so etwas überhaupt gibt. Mit ihrem Bildungsstand und ihrer Abneigung gehen Mathe bleibt ihr kaum etwas anderes übrig, als in eine Fabrik zu gehen, und anstatt sich über die Schmerzen vom Dauerstehen zu beklagen sollte sie froh sein, überhaupt einen Job bekommen zu haben.
Einmal hat Tamsin sich in einer Fabrik beworben. Das war vor vielen Jahren. Zu einer Zeit, wo dort noch im Sitzen gearbeitet wurde. Nach einem früheren Praktikum weiß Tamsin, dass eine derartige Tätigkeit das Leben alles andere, als bereichert. Aber das ist egal, denn viele Alternativen hat sie nicht.
Andere Menschen schütteln den Kopf, wenn Tamsin meint, dass ein Weg zur Arbeit, bei dem man eine Stunde mit dem Bus unterwegs ist, lang ist. Es gibt Menschen, die sind froh, wenn sie „nur“ eineinhalb Stunden unterwegs sind. 

...

Man sollte meinen, abends auf einem Hafenfest mit Rockkonzert hätte man viel Spaß. Tamsin hätte gerne Spaß gehabt. Aber so etwas mit den Eltern zu besuchen, das raubt einen jede Freude. Ihr Dad hat keine Lust darauf. Er mag die Musik nicht und sie ist ihm zu laut. Anstatt vor der Bühne, stehen sie am Abseits. Tamsin fühlt sich unwohl zwischen all den vielen, jungen, heiteren, beschwipsten Leuten, wie sie mit ihren Eltern da steht und überlegt, was sie Essen soll. Die denken, Essen macht glücklich und so bekommt Tamsin, was immer sie mag. Es schmeckt, ja, doch dies ist nicht das Glück, nach dem sie strebt. Tamsin hat keine Freunde, kein Auto und spät abends fährt auch kein Bus mehr über die elenden Kuhdörfer, den sie nehmen könnte – wäre sie frei von ihren Ängsten.
Und so verharrten sie wie üblich am Abseits, beobachteten das Spektakel, zogen nach wenigen Minuten zur nächsten Bühne und dann wieder zurück und fuhren nach ungefähr einer Stunde wieder heim. Tamsins Eltern waren müde und Tamsin hatte nicht wirklich Freude an diesem Abend.

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