Heute haben in der
Maßnahme zwei Damen einen Vortrag über Teilzeit Ausbildung gehalten. Tamsin hört diesen Vortrag nun schon zum dritten Mal. Gerne
würde sie auch eine Ausbildung machen. In Teilzeit, ohne Stress, ohne Ärger,
ohne Zeitdruck. „Würde ich sofort machen! Ich wäre motiviert. Hätte Spaß dran.
Besonders wenn es ein Beruf wäre, der mir persönlich gefällt.“
Heimkommen,
ohne zu wissen, dass der Tag vorüber ist und man nichts tun kann, außer Essen
und früh schlafen zu gehen, damit man am nächsten Tag überhaupt erholt aus dem
Bett kommt.
Aber
in Teilzeit kommt für Tamsin nicht in Frage. Sie ist jung und fitt, hat keine
Kinder und hat abgesehen von einer Angststörung, die sie zudem daran hindert,
ihren Kummer zu äußern, keine Einschränkungen. Niemand weiß von dieser Angst,
und niemand würde sie ernst nehmen. Tamsin sitzt in der Gruppe oft nur still am
Rande. Ist die Stimmung heiter, lächelt sie auch mal. Verspüren andere Unmut,
lassen sie ihn raus. Andere merken sofort, wenn es jemanden nicht gut geht.
Doch ist Tamsin einmal den Tränen nahe, tosen depressive Gedanken in ihrem Kopf
wie ein Wirbelsturm, bleibt dieser stets von der Außenwelt verborgen. Tamsin
will keine Tränen zeigen, und so behält sie ihre ausdruckslose Miene stets bei.
Unbemerkt und unbeachtet.
Tamsin
will auch gar nicht, dass andere sich um sie „kümmern“. Letztlich kann niemand
etwas an der Gesamtsituation ändern.
„Menschen
können Ängste nicht nachempfinden. Es ist wie bei einer Spinnenphobie. Andere
lachen darüber, verstehen es nicht, während Betroffene im Boden versinken.“
Tamsin
arbeitet weiterhin fleißig an ihrem Roman. Sie will im Leben etwas erreichen!
Dadurch
wirkt ein Teilzeitjob noch verlockender. Man hat noch Zeit zum Schreiben und
verdient sich damit ein wenig dazu, was vielleicht genügt, das, was einem durch
die Teilzeitstelle fehlt, aufzustocken. Dadurch hat man letztlich genug Geld
zum Leben, ist unabhängig, frei und kann dennoch tun, was man gerne macht. „Bis
dahin ist es ein weiter Weg....“
Wieder
einmal hat Tamsin ihre Lage in einem Forum geschildert. Hat nach
„Nischenberufen“ gefragt, da in Google immer nur Standartberufe genannt werden.
Verkäufer, Koch, Pfleger... Auch wenn
ihr in ihrer Maßnahme Hoffnung gemacht wurde, dass es auch für sie einen
passenden Beruf gibt, glaubt sie den Leuten, die ihr in den Foren erzählen,
dass sie mit ihrem Schulabschluss keine Chance auf einen ruhigen Bürojob hat,
und dass sie ein naiver Träumer ist, wenn sie denkt, dass es so etwas überhaupt
gibt. Mit ihrem Bildungsstand und ihrer Abneigung gehen Mathe bleibt ihr kaum
etwas anderes übrig, als in eine Fabrik zu gehen, und anstatt sich über die
Schmerzen vom Dauerstehen zu beklagen sollte sie froh sein, überhaupt einen Job
bekommen zu haben.
Einmal
hat Tamsin sich in einer Fabrik beworben. Das war vor vielen Jahren. Zu einer
Zeit, wo dort noch im Sitzen gearbeitet wurde. Nach einem früheren Praktikum
weiß Tamsin, dass eine derartige Tätigkeit das Leben alles andere, als
bereichert. Aber das ist egal, denn viele Alternativen hat sie nicht.
Andere
Menschen schütteln den Kopf, wenn Tamsin meint, dass ein Weg zur Arbeit, bei
dem man eine Stunde mit dem Bus unterwegs ist, lang ist. Es gibt Menschen, die
sind froh, wenn sie „nur“ eineinhalb Stunden unterwegs sind.
Man
sollte meinen, abends auf einem Hafenfest mit Rockkonzert hätte man viel Spaß.
Tamsin hätte gerne Spaß gehabt. Aber so etwas mit den Eltern zu besuchen, das raubt
einen jede Freude. Ihr Dad hat keine Lust darauf. Er mag die Musik nicht und
sie ist ihm zu laut. Anstatt vor der Bühne, stehen sie am Abseits. Tamsin fühlt
sich unwohl zwischen all den vielen, jungen, heiteren, beschwipsten Leuten, wie
sie mit ihren Eltern da steht und überlegt, was sie Essen soll. Die denken,
Essen macht glücklich und so bekommt Tamsin, was immer sie mag. Es schmeckt,
ja, doch dies ist nicht das Glück, nach dem sie strebt. Tamsin hat keine
Freunde, kein Auto und spät abends fährt auch kein Bus mehr über die elenden
Kuhdörfer, den sie nehmen könnte – wäre sie frei von ihren Ängsten.
Und
so verharrten sie wie üblich am Abseits, beobachteten das Spektakel, zogen nach
wenigen Minuten zur nächsten Bühne und dann wieder zurück und fuhren nach
ungefähr einer Stunde wieder heim. Tamsins Eltern waren müde und Tamsin hatte
nicht wirklich Freude an diesem Abend.
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