Mittwoch, 14. Juni 2017

Alte Sorgen in neuen Zeiten



Es hat den Anschein, als wollen die ewig quälenden Sorgen Tamsin niemals in Ruhe lassen. Kaum sind welche vorbei, tauchen sofort neue auf. Inzwischen hat Tamsin keine große Panik mehr, wenn sie in ihre Maßnahme fährt. Auch wenn es Busfahrer gibt, die sich aufregen, wenn man die morgendliche Begrüßung beim Einsteigen nicht erwidert. Oder wenn Tamsin sich einmal nicht auf die Toilette traut, weil sie Angst hat, auf dem Weg dorthin von den Flüchtlingen, die in der Nähe wohnen und sich oft im Gebäude aufhalten, oder einem Angestellten angesprochen zu werden.
Auch die Panik vor der Küche hat nachgelassen, nun, da sie weiß, wann und was zu kochen ist. Dabei entscheidet sie sich für Gerichte ohne Zwiebeln. „Wenn jemand sie schneiden muss, dann sicher ich.“, weiß sie, und Schaudert bei der alten Erinnerung an den brennenden Schmerz, bei dem ihr zusammen mit flutenden Tränen gefühlt die Augen aus dem Kopf gequollen sind, als sie einmal ein ganzes Netz Zwiebeln schneiden musste, überwältigt wurde und dasselbe in der folgenden Woche erneut erleben musste. Diese für die meisten Menschen banale Erfahrung hat eine Angst von beinahe phobischen Ausmaß entfacht.
Selbst ihren Ohren geht es inzwischen besser. Größtenteils.
Doch seit gestern schlägt ihre Zunge wieder Alarm. Ein wohlvertrauter Schmerz breitet sich urplötzlich an einer ganz bestimmten Stelle aus. Dort, wo schon damals vor einigen  Monaten eine scharfe Kante an einem Zahn war, die erst nach vielen Arztbesuchen vollständig entfernt wurde, damit der Schmerz endlich nachließ. Nun ist er wieder da. Als wäre der Zahn über Nacht ein ganzes Stück raus gewachsen, sodass die Zunge wieder gegen eine kleine Ecke reibt. Dabei ist diese nicht einmal scharf, was es erschwert, die genaue peinigende Stelle ausfindig zu machen und vom Arzt abschleifen zu lassen. „Ich will nicht, dass der ganze Zahn abgeschliffen wird.“ Und Tamsin will nicht wie damals wieder jeden Tag zum Zahnarzt, weil dieser immer zu wenig abschleift, weshalb der Schmerz einfach nicht weggeht. Und das alles nur, weil die Krankenkasse einst eine spezielle Form der Wurzelbehandlung aus Kostengründen verweigert hatte. „Diese Form der Wurzelbehandlung ist keine Kassenleistung!“, heiß es. Die Folge: Der Zahn wurde einfach entfernt. Der darunterliegende wuchs wegen des fehlenden Gegendrucks nach oben, weswegen auch der raus musste. Die dadurch entstandene Lücke ist riesig. Die Zunge reibt gegen das Ende der Zahnreihe, weswegen die Zähne abgeschliffen werden müssen. „Vermutlich sind diese „Folgebehandlungen“; das Zahnziehen, das ständige Schleifen... letztlich sogar teurer, als es die damalige Wurzelbehandlung gewesen wäre.“ Aber mit Logik ist gegen Bürokratie einfach nicht anzukommen.
Die Angstattacken, dasselbe Drama erneut durchleben zu müssen, rauben Tamsin den Verstand. Die Realität schient zu schwinden. Tamsin steigt in den Bus, fährt los, ohne dies wirklich zu realisieren. Ihre Gedanken drehen sich nur um das Eine: Ihr Zahn... Wie weit kann der noch abgeschliffen werden? Die Welt fühlt sich fremd an. Unecht. Tamsin steigt aus, das Handy in der Hand, auf dem sie ihren Roman korrektur-liest. Das Lob der vergangenen Tag motiviert sie sehr und sie arbeitet fleißig daran. „Ich will viel schaffen, ehe das Interesse der anderen schwindet und Lustlosigkeit über mich hereinbricht.“
Wider erwarten muss Tamsin heute nicht kochen. Und auch das geplante Wandern fällt aus. Die Chefin hat viel zu tun. Tamsin erfüllt ihre Aufgaben. Worte dingen in ihre Ohren, erreichen jedoch kaum ihren Geist.

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