Es hat den Anschein,
als wollen die ewig quälenden Sorgen Tamsin niemals in Ruhe lassen. Kaum sind
welche vorbei, tauchen sofort neue auf. Inzwischen hat Tamsin keine große Panik
mehr, wenn sie in ihre Maßnahme fährt. Auch wenn es Busfahrer gibt, die sich
aufregen, wenn man die morgendliche Begrüßung beim Einsteigen nicht erwidert.
Oder wenn Tamsin sich einmal nicht auf die Toilette traut, weil sie Angst hat,
auf dem Weg dorthin von den Flüchtlingen, die in der Nähe wohnen und sich oft
im Gebäude aufhalten, oder einem Angestellten angesprochen zu werden.
Auch die Panik vor der
Küche hat nachgelassen, nun, da sie weiß, wann und was zu kochen ist. Dabei
entscheidet sie sich für Gerichte ohne Zwiebeln. „Wenn jemand sie schneiden
muss, dann sicher ich.“, weiß sie, und Schaudert bei der alten Erinnerung an
den brennenden Schmerz, bei dem ihr zusammen mit flutenden Tränen gefühlt die
Augen aus dem Kopf gequollen sind, als sie einmal ein ganzes Netz Zwiebeln
schneiden musste, überwältigt wurde und dasselbe in der folgenden Woche erneut
erleben musste. Diese für die meisten Menschen banale Erfahrung hat eine Angst
von beinahe phobischen Ausmaß entfacht.
Selbst ihren Ohren
geht es inzwischen besser. Größtenteils.
Doch seit gestern
schlägt ihre Zunge wieder Alarm. Ein wohlvertrauter Schmerz breitet sich
urplötzlich an einer ganz bestimmten Stelle aus. Dort, wo schon damals vor
einigen Monaten eine scharfe Kante an
einem Zahn war, die erst nach vielen Arztbesuchen vollständig entfernt wurde,
damit der Schmerz endlich nachließ. Nun ist er wieder da. Als wäre der Zahn
über Nacht ein ganzes Stück raus gewachsen, sodass die Zunge wieder gegen eine
kleine Ecke reibt. Dabei ist diese nicht einmal scharf, was es erschwert, die
genaue peinigende Stelle ausfindig zu machen und vom Arzt abschleifen zu
lassen. „Ich will nicht, dass der ganze Zahn abgeschliffen wird.“ Und Tamsin
will nicht wie damals wieder jeden Tag zum Zahnarzt, weil dieser immer zu wenig
abschleift, weshalb der Schmerz einfach nicht weggeht. Und das alles nur, weil
die Krankenkasse einst eine spezielle Form der Wurzelbehandlung aus
Kostengründen verweigert hatte. „Diese Form der Wurzelbehandlung ist keine
Kassenleistung!“, heiß es. Die Folge: Der Zahn wurde einfach entfernt. Der
darunterliegende wuchs wegen des fehlenden Gegendrucks nach oben, weswegen auch
der raus musste. Die dadurch entstandene Lücke ist riesig. Die Zunge reibt
gegen das Ende der Zahnreihe, weswegen die Zähne abgeschliffen werden müssen.
„Vermutlich sind diese „Folgebehandlungen“; das Zahnziehen, das ständige
Schleifen... letztlich sogar teurer, als es die damalige Wurzelbehandlung
gewesen wäre.“ Aber mit Logik ist gegen Bürokratie einfach nicht anzukommen.
Die Angstattacken,
dasselbe Drama erneut durchleben zu müssen, rauben Tamsin den Verstand. Die
Realität schient zu schwinden. Tamsin steigt in den Bus, fährt los, ohne dies
wirklich zu realisieren. Ihre Gedanken drehen sich nur um das Eine: Ihr Zahn...
Wie weit kann der noch abgeschliffen werden? Die Welt fühlt sich fremd an.
Unecht. Tamsin steigt aus, das Handy in der Hand, auf dem sie ihren Roman
korrektur-liest. Das Lob der vergangenen Tag motiviert sie sehr und sie arbeitet
fleißig daran. „Ich will viel schaffen, ehe das Interesse der anderen schwindet
und Lustlosigkeit über mich hereinbricht.“
Wider erwarten muss
Tamsin heute nicht kochen. Und auch das geplante Wandern fällt aus. Die Chefin
hat viel zu tun. Tamsin erfüllt ihre Aufgaben. Worte dingen in ihre Ohren,
erreichen jedoch kaum ihren Geist.
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