Dieser Samstag begann schon sehr früh mit
höllischen Zahnschmerzen. Aber was Tamsin wirklich über den Abgrund getrieben
hat, war, dass ihre Eltern sie gezwungen haben, wieder in der Kurwohnung in
Aukrug zu übernachten. „Wie so oft wurde mein eigener Wille, meine Meinung,
untergraben. Ich fühle mich wie ein Haustier, das essen muss, was es gibt und
tun muss, was gesagt wird.“ Ihr Wille ist stark und sie kämpft stets für die
eigenen Interessen. Aber ihr Dad ist gut darin, Worte und Tatsachen umzudrehen
und zu seinem Vorteil zu verwenden. Vor der Wohnung mussten sie eine Weile
warten, weil ihr Mom sich noch im Kurhaus aufgehalten hatte. Das Warten hat ihm
nicht gepasst. Und so hatte er frustriert behauptet: „Sie will schonwieder nach
Hause.“, und Tamsin einen bösen Blick zugeworfen. Dabei hatte sie etwas Derartiges
nie behauptet.
Eine Übernachtung… Beim ersten Mal war es
freiwillig. Sie wollte etwas erleben, ein Abenteuer. Wo anders zu schlafen fand
sie aufregend. Aber einmal hat dann auch gereicht. Wirklich. „Ich habe immer
wieder betont, dass ich kein Bedarf habe, dort zu übernachten.“ Aus diesem
Grund hatte sie auch keine Decke und Kissen mitgenommen. Sie ging davon aus,
dass sie dies akzeptieren würden. Aber letztlich kam dann doch alles anders.
Gegen Mittag wurden die Zahnschmerzen so
schlimm, dass sie auf der Suche nach einen Zahnarzt quer durch Innien gefahren
sind. „Ich hatte meine Karte nicht dabei, aber wir dachten, das könnte man
schon regeln. Irgendwie.“
Naja, am Ende hatte keine der beiden
dortigen Praxen geöffnet. Zuvor waren sie noch in Aukrug, eine Kirche
besichtigen und im Shoppingcenter Sushi kaufen. Das hat gut geschmeckt. Und
nachdem sie gegessen hatte, wurden auch die Zahnschmerzen weniger. „Ich denke,
es lag am Zahnfleisch und nicht an dem Zahn, der oben gegen das Zahnfleisch
drückt.“
Dennoch hatte sie sich weiterhin dagegen
gesträubt, dort zu schlafen. Wollte diesem Zwang entkommen. „Ich denke, je mehr
sie mich bedrängen, umso größer wird der Drang, mich zu widersetzen.“ Also
hatte sie ihre Sachen genommen, sich angezogen und wollte gehen. Ebenso, wie sie
davon überzeugt war, nicht dort schlafen zu müssen, war ihr Dad davon
überzeugt, dass es geschehen wird. „Ich verstehe ja, dass sie zusammen Zeit
verbringen wollen. Aber warum muss ich immer da mitreingezogen werden!?“ Als sie
dann zur Tür trottete, sagte Dad in diesem wütenden, ungläubigen Ton: „Spinnt
die jetzt total?“
Als ob es selbstverständlich wäre, dass sie
sich mit 27 noch allen getroffenen Entscheidungen der Eltern fügen musste!
Dass sie „spinnt“ bekommt Tamsin oft zu
hören. So oft, dass sie es mittlerweile schon selbst glaubt. Und selbst, wenn
es so wäre, muss sie es nicht ständig unter die Nase gerieben kriegen! Oder?
Diesmal hat es das Fass zum Überlaufen
gebracht. Angelockt von dem Zorn, der die stickige Luft erfüllte, erwachte Lucy
aus den tiefsten Tiefen ihrer verborgenen Existenz. „Scheiß drauf!“, dachte
sie. Ihre Gedanken rasten. Gefühle, die sie niemals vor anderen zeigte,
drängten sich an die Oberfläche. Sie sollten sie nicht weinen sehen. Wütend,
dass sie immer wie ein Haustier behandelt wurde, ist sie gegangen. Einfach so. So
etwas tat sie sonst nie, da Tamsin ängstlich und schüchtern war. Aber nicht in
diesem Moment. Beherrscht von Wut und Hass hatte sie die Tür ungehalten hinter sich
zugeknallt. Sie wollte nur noch weg. Weg von diesen Leuten, die ihre Eltern
waren und denen ihr Wille scheinbar vollkommen egal war. „Am liebsten wäre ich
zu Fuß nach Hause gegangen, aber das wären fast 100Km.“ Sie hatte das Gefühl,
die Kontrolle zu verlieren. Ist gegangen, immer geradeaus, raus aus der Straße,
die bitteren Tränen zurückhaltend. Immer weiter. Die Welt fühlte sich fremd an.
Wie ein Alptraum, der endlich enden sollte.
Ihre Flucht endete schließlich auf einer
Bank am Straßenrand. Dort wurde ihr bewusst, dass sie nicht anders konnte, als
zu akzeptieren. Sie wollte keinen Streit und ihr wurde klar, dass sie bis zum
nächsten Tag dort festsitzen würde.
Am meisten ärgerte sie, dass ihr Dad wütend
auf sie war, obwohl er sie mit Zahnschmerzen und unter falschen Behauptungen
(„vielleicht schlafen wir da, nimm doch deine Decke mit“) dorthin mitgenommen
hat. Ihr kam es vor, als wären ihre Bedürfnisse total egal. „Ich bin nur mit,
damit er nicht alleine hinfahren muss. Damit er jemanden hat, der das Navi
einstellt.“
Nun ja. Später sind sie dann
noch spazieren und abends in einem Bauernrestaurant essen gegangen. Die
Garnelen waren vorzüglich, doch die Situation blieb angespannt. Tamsin hatte
beschlossen, sich zurückzuhalten, still ihr Schicksal zu akzeptieren, obwohl
Wut und Hass tief in ihr brodelten. „Es ist doch sowieso alles zwecklos.“
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