Freitag, 21. Oktober 2016

Zorn & Hass

Dieser Samstag begann schon sehr früh mit höllischen Zahnschmerzen. Aber was Tamsin wirklich über den Abgrund getrieben hat, war, dass ihre Eltern sie gezwungen haben, wieder in der Kurwohnung in Aukrug zu übernachten. „Wie so oft wurde mein eigener Wille, meine Meinung, untergraben. Ich fühle mich wie ein Haustier, das essen muss, was es gibt und tun muss, was gesagt wird.“ Ihr Wille ist stark und sie kämpft stets für die eigenen Interessen. Aber ihr Dad ist gut darin, Worte und Tatsachen umzudrehen und zu seinem Vorteil zu verwenden. Vor der Wohnung mussten sie eine Weile warten, weil ihr Mom sich noch im Kurhaus aufgehalten hatte. Das Warten hat ihm nicht gepasst. Und so hatte er frustriert behauptet: „Sie will schonwieder nach Hause.“, und Tamsin einen bösen Blick zugeworfen. Dabei hatte sie etwas Derartiges nie behauptet.
Eine Übernachtung… Beim ersten Mal war es freiwillig. Sie wollte etwas erleben, ein Abenteuer. Wo anders zu schlafen fand sie aufregend. Aber einmal hat dann auch gereicht. Wirklich. „Ich habe immer wieder betont, dass ich kein Bedarf habe, dort zu übernachten.“ Aus diesem Grund hatte sie auch keine Decke und Kissen mitgenommen. Sie ging davon aus, dass sie dies akzeptieren würden. Aber letztlich kam dann doch alles anders.
Gegen Mittag wurden die Zahnschmerzen so schlimm, dass sie auf der Suche nach einen Zahnarzt quer durch Innien gefahren sind. „Ich hatte meine Karte nicht dabei, aber wir dachten, das könnte man schon regeln. Irgendwie.“

Naja, am Ende hatte keine der beiden dortigen Praxen geöffnet. Zuvor waren sie noch in Aukrug, eine Kirche besichtigen und im Shoppingcenter Sushi kaufen. Das hat gut geschmeckt. Und nachdem sie gegessen hatte, wurden auch die Zahnschmerzen weniger. „Ich denke, es lag am Zahnfleisch und nicht an dem Zahn, der oben gegen das Zahnfleisch drückt.“
Dennoch hatte sie sich weiterhin dagegen gesträubt, dort zu schlafen. Wollte diesem Zwang entkommen. „Ich denke, je mehr sie mich bedrängen, umso größer wird der Drang, mich zu widersetzen.“ Also hatte sie ihre Sachen genommen, sich angezogen und wollte gehen. Ebenso, wie sie davon überzeugt war, nicht dort schlafen zu müssen, war ihr Dad davon überzeugt, dass es geschehen wird. „Ich verstehe ja, dass sie zusammen Zeit verbringen wollen. Aber warum muss ich immer da mitreingezogen werden!?“ Als sie dann zur Tür trottete, sagte Dad in diesem wütenden, ungläubigen Ton: „Spinnt die jetzt total?“
Als ob es selbstverständlich wäre, dass sie sich mit 27 noch allen getroffenen Entscheidungen der Eltern fügen musste!
Dass sie „spinnt“ bekommt Tamsin oft zu hören. So oft, dass sie es mittlerweile schon selbst glaubt. Und selbst, wenn es so wäre, muss sie es nicht ständig unter die Nase gerieben kriegen! Oder?
Diesmal hat es das Fass zum Überlaufen gebracht. Angelockt von dem Zorn, der die stickige Luft erfüllte, erwachte Lucy aus den tiefsten Tiefen ihrer verborgenen Existenz. „Scheiß drauf!“, dachte sie. Ihre Gedanken rasten. Gefühle, die sie niemals vor anderen zeigte, drängten sich an die Oberfläche. Sie sollten sie nicht weinen sehen. Wütend, dass sie immer wie ein Haustier behandelt wurde, ist sie gegangen. Einfach so. So etwas tat sie sonst nie, da Tamsin ängstlich und schüchtern war. Aber nicht in diesem Moment. Beherrscht von Wut und Hass hatte sie die Tür ungehalten hinter sich zugeknallt. Sie wollte nur noch weg. Weg von diesen Leuten, die ihre Eltern waren und denen ihr Wille scheinbar vollkommen egal war. „Am liebsten wäre ich zu Fuß nach Hause gegangen, aber das wären fast 100Km.“ Sie hatte das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Ist gegangen, immer geradeaus, raus aus der Straße, die bitteren Tränen zurückhaltend. Immer weiter. Die Welt fühlte sich fremd an. Wie ein Alptraum, der endlich enden sollte.

Ihre Flucht endete schließlich auf einer Bank am Straßenrand. Dort wurde ihr bewusst, dass sie nicht anders konnte, als zu akzeptieren. Sie wollte keinen Streit und ihr wurde klar, dass sie bis zum nächsten Tag dort festsitzen würde.
Am meisten ärgerte sie, dass ihr Dad wütend auf sie war, obwohl er sie mit Zahnschmerzen und unter falschen Behauptungen („vielleicht schlafen wir da, nimm doch deine Decke mit“) dorthin mitgenommen hat. Ihr kam es vor, als wären ihre Bedürfnisse total egal. „Ich bin nur mit, damit er nicht alleine hinfahren muss. Damit er jemanden hat, der das Navi einstellt.“
Nun ja. Später sind sie dann noch spazieren und abends in einem Bauernrestaurant essen gegangen. Die Garnelen waren vorzüglich, doch die Situation blieb angespannt. Tamsin hatte beschlossen, sich zurückzuhalten, still ihr Schicksal zu akzeptieren, obwohl Wut und Hass tief in ihr brodelten. „Es ist doch sowieso alles zwecklos.“

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