Die Leute sagen, mit 27 noch bei den Eltern
zu wohnen, ist nicht normal.
Tamsin weiß, dass es nicht normal ist. „An
manchen Tagen ist es der reinste Horror!“
Es heißt, die Zwanziger seien die prägenden
Zeiten, an die man sich im Alter noch am besten Erinnert. Die besten Zeiten des
Lebens. Man ist jung und schön und kann so vieles erreichen.
Ihr schaudert bei der Vorstellung, dass
dieses Leben das sein soll, woran sie sich später noch am besten erinnern
sollte. Sie stellt sich vor, wie sie irgendwann sechzig werden würde, an die Vergangenheit
zurückdachte, ihr Tagebuch las und erkannte, wie es wirklich war.
Man – zumindest Tamsin – hatte die
Angewohnheit, zu glauben, „früher war alles besser.“ Dies denkt sie ebenfalls
in diesem Moment. Sie weiß, dass dieser Glaube daher rührt, dass man sich immer
hauptsächlich an positive Ereignisse zurückerinnert und alles Schlechte
unbewusst verdrängt. Sicher, wenn sie nur genau hindachte, fielen ihr auch
schlechte Geschehnisse sein, wie zum Beispiel, dass sie während der
Grundschulzeit kurz vor Ende des Schuljahres ihr Mathebuch zerstört hatte –
Seitenzahlen rausgeschnitten und falsche Ergebnisse in die Aufgaben
eingetragen. Ohne lange darüber nachzugrübeln kommen ihr sofort die damit
verbundenen Absichten in den Sinn: Sie wollte ihrem Nachfolger, der das Buch
nach ihr bekommen würde, ärgern. Sie mochte die Jungs aus ihrer Klasse nicht.
Ständig hatten sie sich geprügelt und jeden Schwächeren geärgert. Vielleicht
empfand sie diese Tat schlichtweg als Genugtuung. Damit nicht nur sie durch den
Ärger anderer litt, sondern auch mal jemand anderes an einem kaputten
Mathebuch.
Nun ja, ihre Mom hatte ihr übles Vergehen am
Schuleigentum rasch bemerkt, ihr Hausarrest gegeben und sie gezwungen, den
Schuldirektor anzurufen, um zu beichten. Tamsin weiß noch genau, wie sie dasaß
und kleinlaut „Ich habe mein Mathebuch kaputt gemacht“ in den Hörer gemurmelt
hatte. Dass sie das Buch dann von ihrem Taschengeld ersetzen musste und dabei
wusste, dass irgendein Drittklässler dank ihr der einzige mit einem nagelneuen
Mathebuch sein würde, hat sie dann doch schwer getroffen.
Aber wenn sie heute ganz spontan ihre
Gedanken in die Vergangenheit zurückschweifen lässt, kommen ihr immer zuerst
haufenweise Positive Erinnerungen in den Sinn. Es war eine schöne Kindheit.
Obwohl sie schon damals sehr ruhig und ängstlich war, hatte Tamsin Freunde, war
nie allein und hatte mit ihnen Dinge erlebt, von denen sie heute nur noch träumen
kann. Sie waren in die Stadt gegangen, von einem Spielplatz zum anderen
gezogen, immer mit dem Roller unterwegs. „Kickroller“, wurden sie genannt.
Sie hatte ihre Tamagotchis, Jojos und
Lenkdrachen geliebt. Auf Drachenfensten war sie immer das einzige kleine
Mädchen mit Lenkdrachen. Sie fand’s toll, musste aber immer im Abseits stehen,
weil ihre Eltern Angst hatten, sie würde den Drachen jemanden auf den Kopf
knallen lassen. Das trauten sie ihr zu. Dabei hätte sie so etwas nie
getan.
Leider hatte sie ihre damaligen Freiheiten
nie geschätzt. Hielt sie für selbstverständlich. So, wie man alles, was man hat
und woran man gewöhnt ist, für selbstverständlich hält.
Momentan ist ihre Mom zur Kur. Tamsin und ihr
Dad sind losgefahren, um sie zu besuchen. Sie schlafen da, heimlich, obwohl man
das eigentlich nicht unangemeldet darf. Aber es gibt ein Gästebett in ihrem
Apartment. Tamsin hatte sich auf diesen Tag gefreut. „Ich sehne mich immer
danach, mal etwas zu erleben, etwas Neues.“ Hinaus aus dem Alltag aus Fernsehen
und Computer. Hier gibt es kein Internet, darum hatte sie sich in einen stillen
Raum gesetzt und beschlossen, ein bisschen an ihrem Roman weiter zu schreiben. „Hier
habe ich Zeit. Und Ruhe.“ Auch wenn das Rauschen der vorbeifahrenden Autos auf
der nahen Straße durch das offene Fenster zu hören ist und sie bereits mehrfach
nachgeschaut hatte, ob das Fenster wirklich richtig geschlossen ist. „Ist es. Ich
hasse nächtlichen Lärm. Wie soll ich hier überhaupt ein Auge zu bekommen?“
Früher dachte sie immer, nach der Schule
würde das Leben richtig losgehen. Heute weiß sie, erst damit ging es wirklich
zu ende. Naja, oder zumindest nach der Maßnahme, in der sie anschließend ein
Jahr untergebracht war. Holzwerkstatt und Hauswirtschaft. Ja, sie hatte es gehasst,
den ganzen Tag stehen, auf den Beinen zu sein und dazu auch noch das Mobbing in
der Schule. Jungs, die sie auslachten, weil sie so ruhig und zurückhaltend war
und nie ein Wort herausgebracht hatte. Mädchen, die sie ignorierten, weil
Tamsin einfach anders war. Das Internet hatte ihr geholfen, darüber
hinwegzusehen, bis die Maßnahme zu Ende war und sie das Web und der Chat vollkommen
in seinen Bann gezogen hat. Auf Grund ihrer Ängste bekam sie nie Arbeit. Flog
sogar aus einem Praktikum, weil sie dem Andrang einer Kinokasse am ersten Tag
der Neuerscheinung von Fluch der Karibik nicht gewachsen war. Aber wie sollte
sie auch Kunden bedienen, wenn ihre Ängste ihr nicht einmal erlaubten, mit den
Kollegin in Kontakt zu treten? Damals hatte sie nichts dagegen, zuhause zu
sitzen und von einen Tag in den anderen hineinzuleben. Ihr blieb dadurch mehr
Zeit zum Chatten. Den ganzen Tag, von morgens bis spät in die Nacht,
ununterbrochen, fast sieben Jahre lang. Dort hatte sie Freunde, ein Leben. Der
Moment, an dem viele gegangen sind, weil sie wussten, dass Chat nicht alles ist
und auch sie aufgewacht war und erkannt hatte, dass dies kein Leben ist, kam
einfach zu spät. Oft fragt sie sich, wieso ihre Eltern dies so lange tatenlos
mitangesehen haben. Ja, wegen ihrer Ängste – Sei es Mutismus oder soziale
Phobie – war und ist es ihr nicht möglich, den ersten Schritt alleine zu wagen,
aber dass sie wegen schlechter Erfahrungen jede Therapie ablehnen und es
schweigend akzeptieren, ist auch nicht richtig. Finde ich. Denn wenn Chatten
keinen Spaß mehr macht und auch der Fernseher seine anziehende Wirkung
verliert, kann ewige Langeweile zur Höllenqual werden.
Es ist ungefähr zwei Jahre her. Tamsin
erinnert sich noch gut daran, wie es war, diese Verzweiflung, diese
Hoffnungslosigkeit, dass das Leben so, wie es ist, immer bleiben wird. Sie hatte
keine Motivation, alleine in die Stadt zu gehen und so wurde ihr Zimmer in
diesem Dorf, in dem sie immer noch „festsitze“ zum Gefängnis. Sie bekam Essen,
Internet und alles, was sie wollte, aber nie das, was sie wirklich brauchte.
Morgens aufzustehen mit dem einzigen Grund, zu Essen und auf den Abend zu
warten… Nachts konnte sie träumen. Da gab es keine Sorgen, keine Verzweiflung. Doch
die Tage waren das reinste Grauen. Sie fühlte sich, als würde sie still und
unbemerkt dahinsiechen. Fühlte sich nutzlos und alleine. Es gab einige
Geburtstage, an denen Tränen geflossen sind. Während andere Spaß haben und mit
Freunden feiern, hatte sie nur ihre Eltern, die mit mir rumgefahren sind. Nach Kiel
Shoppen oder einen anderen Ort ihrer Wahl. „Ich musste eben das Beste daraus
machen.“
Eine richtige Party mit Sekt und Musik gab
es nie. Früher, während der Schulzeit hatte sie noch mit Freunden gefeiert. Der
16. Geburtstag war ihr letzter mit schönen Erinnerungen. Am 18. War eine
Freundin aus dem Chat bei ihr, aber wegen ihrer Schüchternheit hatte sie kaum
etwas gesagt. Die andere hat viel geredet, schien aber so wenig begeistert von ihr
(obwohl Tamsin sie vorgewarnt hatte), dass sie danach auch nicht mehr so viel
gechattet haben, wie vorher.
Irgendwie ging es immer weiter Bergab. Sie hatte
Angst vor harter Arbeit, wo sie wieder den ganzen Tag stehen und Schmerzen
ertragen musste. Hatte sich daher nur ganz selten für einzelne Stellen
beworben. Sicher, es gibt schöne Jobs, wo man gerne hingeht, aber wie soll sie
darankommen, ängstlich wie sie ist und mit einem Hauptschulabschluss? Ohne
Ausbildung.
Eines Tages wurde ihr klar: „ich muss das
Schicksal selbst in die Hand nehmen. Es gibt niemanden, der dies für mich tun
würde.“ Sie wollte nicht in ihrem „Kinderzimmer“ alt werden, wobei ihr immer
klar war, dass sie dort auch nie besonders alt werden würde. Oder konnte. Kein
Mensch kann in Isolation ein ganzes Leben durchhalten. Nie hatte sie einen
Geburtstag so sehr herbeigesehnt, wie den Fünfundzwanzigsten, an dem sie, gegen
den Willen ihres Dads, endlich bereit war, den ersten Schritt zu wagen.
Wissend, dass sie vielleicht Arbeit bekommen würde, die ihr nicht gefällt, hatte
sie all ihre Sorge, Wut und Verzweiflung genommen, in Mut verwandelt und mit
klopfendem Herzen die Schwelle ins Jobcenter überschritten. Ja, die
Verzweiflung, entfacht durch pure Langeweile, war so groß, dass sie selbst
schlechte Arbeit aufgebrummt zu kriegen in Kauf genommen hätte. „Ich wollte
raus. Wollte leben!“
Die Leute dort waren erstaunt, wo sie denn
herkäme und dass sie in ihrem Alter noch nie gearbeitet hatte. Aber letztlich
blieb der erwartete Horror aus. Wie zu erwarten kam sie in eine Maßnahme. Eine,
die ihr ganzes Leben verändert hat. Zuvor hatte sie viel über langweilige,
nutzlose Maßnahmen gelesen, zu die man verdonnert werden konnte. Doch diese war
anders und wahrscheinlich das Beste, was ihr je passiert ist. Kein Mobbing,
keine lange, schwere Arbeit. Der Unterricht ist lehrreich und die
Menschlichkeit, die einem dort entgegengebracht wird, überwältigend. Nie war
sie Leuten begegnet, die so nett waren. Nicht jeder stellt das Wohlbefinden der
Leute über Bürokratie und Vorschriften. „Meiner Meinung nach sollte es ein
Gesetz geben, dass das menschliche Wohl immer über jegliche Vorschriften
stellt!“ Damit meinte sie, dass man, wenn man Schmerzen hat und nicht lange
stehen kann, dies auch nicht müssen soll. Aber es gibt Firmen, dort wird nur im
Stehen gearbeitet, weil dies angeblich die Produktivität steigert. Obwohl diese
Tätigkeiten ebenso gut im Sitzen ausgeführt werden können. Wieso nur soll Geld
und Profit wichtiger sein, als Gefühle und Bedürfnisse der Angestellten?
Dank dieser Maßnahme und den Schritten, die
anschließend eingeleitet werden sollten, wird der Horror „als Erwachsene im
Elternhaus“ bald ein Ende finden. Klar, dort zu leben hat auch Vorzüge, wie,
dass sie sich um nichts, wie Einkauf oder Wäsche, kümmern muss, aber
mittlerweile fühlt sie, dass die Nachteile dem einfach überliegen. Es gibt kaum
Freiheiten. Immer ist sie auf die Eltern angewiesen. Und immer sind es
dieselben Sprüche, die sie sich anhören muss und die sie zunehmend in den
Wahnsinn treiben: „Zieh dir was Anderes an. Iss das, Hauptsache du bist satt
und ruhig. Setz die Mütze auf. Zieh dir vernünftige Schuhe an, so geh ich mit
dir nicht raus, …“ Worte; sie entfachen eine Wut, aus der ein Hass entsteht,
der mit jedem Mal stärker und stärker anschwillt. Gedanken entstehen, die
Frage, warum sie sich das anhören muss, ob es je enden wird, bis zu der
Vermutung, dass ihr Leben eine Strafe ist, für etwas oder eine Tat, von der sie
nichts weiß. Manchmal ist das Verlangen, frei und unabhängig zu sein und tun zu
können, was sie will, ohne sich dafür lästige Kommentare anhören zu müssen,
einfach unermesslich.
„Ich sehne diesen Moment herbei, an dem
dieser Wunsch endlich in Erfüllung geht.“
Gerade ist es kurz nach acht. Eigentlich
wollte sie Nachrichten gucken, aber ihr Dad sitzt vorm Fernseher. Obwohl es nur
eine Landstraße ist, fühlt sie sich, als säße sie neben einer Autobahn. Sie hatte
sich auf diesen Tag gefreut, doch nun wünscht sie sich einfach nur nach Hause. Sie
wollte in den Wald gehen, aber ihr Dad wollte nicht und wäre sie alleine
gegangen, hätte er sich wieder aufgeregt. „Ich würde mich verlaufen.... Wildschweine
würden mich anfallen…“, meinte er.
Es ist einfach langweilig. Sie
guckt ein paar Japanische Musikvideos und weiß: Internet zu haben ist keine
Selbstverständlichkeit.
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