Sonntag, 12. März 2017

Das Übliche



Tamsin ist nervös. Sie hat eine Einladung vom Jobcenter erhalten. Was könnten die nur von ihr wollen? Ihre Ängste verhindern, dass sie wie normale Menschen einer angenehmen Tätigkeit nachgehen kann, darum wartete sie, bis ein Therapieplatz frei wird. Doch dies kann dauern. „Seit der letzten Maßnahme bin ich nun schon ein paar Monate zuhause. Entgegen vieler Vorurteile hänge ich jedoch nicht wie ein fauler Arbeitsloser den ganzen Tag vor der Glotze. Ich verziere alte, schäbige Möbel und arbeite an meinem Buch. Täglich.“ Oft glaubt Tamsin, dies könnte die einzige Rettung in eine angenehme Zukunft sein. Gerne würde sie ihr Hobby zum Beruf machen.
Der Termin ist in fast zwei Wochen. Tamsin grübelt darüber nach, worum es wohl gehen könnte, da es aufgrund der anstehenden Therapie eigentlich keinen Grund für eine Einladung gibt. „Vielleicht geht es um eine neue Maßnahme zur Überbrückung der Wartezeit?“, vermutet sie. Das klingt am logischsten. Unwillkürlich erwartet sie das schlimmste, denn dann kann sie wenigstens nicht enttäuscht werden. „Schlimmstenfalls werde ich in eine Großküche geschickt.“ Seit Tamsin vor einigen Tagen eine Doku über Fischer in Alaska gesehen hat, stellt sie sich vor, wie es wohl wäre, auf einem Kutter in der nahen Hafenstadt zu arbeiten. „Es ist gewiss anstrengender als Küche und ich weiß gar nicht, was hier auf den Schiffen genau zu tun ist. Aber ich kann mir derweil nichts ermüdendereres vorstellen, als stundenlang in so einer Großküche zu stehen, auf einen Berg zu schneidendes Gemüse zu starren und dabei schlechte Musik aus einem plärrigen Radio zu hören.“ Vor einigen Jahren hatte Tamsin große Angst, dass man sie als Kanalarbeitern einsetzen würde. Durch dunkle Gänge kriechen und Rohre reinigen… „Seitdem war ich wieder in einem Küchenbereich, wenn auch nur kurz. Okay, es ist wirklich unwahrscheinlich, dass eine ungelenkige Person wie ich in die Kanalisation geschickt wird, aber, wenn ich genauer darüber nachdenke, würde ich sogar das einer Küche vorziehen.“ Sollten sie Tamsin wirklich in eine Großküche schicken, so überlegt sie, zu bitten, ob sie nicht lieber irgendwo Toiletten putzen dürfe. „Dabei muss man wenigstens nicht ununterbrochen auf einer Stelle stehen, und wenn die Rückenschmerzen zu unerträglich werden, kann man sich auch mal hinsetzen – sofern man alleine arbeitet.“

Tamsin war auf dem Flohmarkt. Gerne hätte sie einen zweiten Kassettenrecorder, nur für den Fall, dass ihrer mal kaputtgeht. Moderne Kassettenrecorder sind flatterig gebaut und halten nicht mehr so viel aus, wie noch vor dreißig Jahren. Auf dem Flohmarkt entdeckt sie einen. Die Verkäuferin versichert prompt, dass damit alles in Ordnung ist. Wirklich! „Das sagen alle!“, meint ihr Dad, worauf hin Tamsin eine Steckdose sucht. „Es war ein Hallenflohmarkt, aber die Hallenflohmarkt-Zeit ist bald vorbei. Ich muss die Gelegenheit nutzen, denn auf den Draußen-Flohmärkten wird es keine Steckdosen zum Ausprobieren geben, und ich werde mir ab sofort keine Elektrogeräte mehr kaufen, wenn nicht vorher zu beweisen ist, dass sie auch funktionieren!“
Voller Erwartung schiebt Tamsin ihre extra für diesen Fall mitgebrachte Kassette in den Kassettenrecorder und drückt auf Play. Nichts geschieht. Sie probiert herum, schaltetet das Radio ein, was beweist, dass das Gerät nicht gänzlich tot ist. Doch von der Kassette kommt kein Ton. Tamsin öffnet die Klappe und legt einen Finger an die Schrauben. Bedrückt stellt sie fest, dass sich diese trotz des im Hintergrund zu hörenden Rauschens des laufenden Bandleitwerkes nicht drehen. Sie ist enttäuscht. Aber auch erleichtert. Beinahe hätte sie wieder einmal fünfzehn Euro für Schrott weggeworfen. Enttäuscht gibt sie den Kassettenrecorder an die Verkäuferin zurück. Diese wirft ihrer Begleiterin, die in der Zwischenzeit aufgetaucht ist, einen verwirrten Blick zu. Offensichtlich war es ihr Kassettenrecorder. „Oh.“, gibt diese ebenfalls irritiert zurück. „Es funktioniert nicht? Ist ja komisch. Das wusste ich nicht.“
Tamsin ist sich nicht sicher, ob diese Leute ihre Elektrogeräte vorher wirklich nicht ausprobieren. Es könnte ja auch sein, dass mal ein Radio kaputtgeht, man keine Lust hat, es zu entsorgen und es in den Keller stellt. Jahre später sucht man Flohmakrtsachen zusammen und findet es. Man denkt: „Hä, was ist denn das für ein altes Ding? Brauche ich das noch? Nein, ich habe doch ein Neues. Weg damit.“ Und damit landet es auf dem Verkaufstisch.
Das ist eine Therorie. Das würde die verwirrte Unwissenheit wie auch die Überzeugung, dass es nicht kaputt ist, erklären. Man hat es schlichtweg vergessen. Denn Tamsin kann sich nämlich nicht vorstellen, dass wirklich alle älteren Damen sie dreist und ohne dabei rot zu werden übers Ohr hauen wollen.

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