Dienstag, 7. Februar 2017

Channelmoderatorversammlung

Seit Jahren hat Tamsin wieder einmal einen Abend, einen ganzen Abend, im Chat verbracht. Nun, dort ist sie in letzter zeit wieder öfters unterwegs, jedoch nicht zum Chatten. „Ich denke, dass mit dem Chatten hat sich erledigt. Oft habe ich die Hoffnung, die Chatter kommmen zur Besinnung und erkennen von selbst, wie öde es ist, immer dieselben Fragen zu stellen (Wie geht’s, was machst du?...), aber stattdessen wird es immer schlimmer. Warum interessiert es jemanden, der am anderen Ende des Landes wohnt, wie groß ich bin!? Ich finde das nicht nur sinnlos, sondern richtig dämlich. Besonders, da diese Fragen sich immer wiederholen, von unzähligen verschiedenen Chattern! Es wird wohl nie mehr wieder so, wie früher. Oder ich bin wohl einfach nicht mehr der Mensch für so etwas.“ Nunja, an diesen Abend ging es nicht um eintönige Fragen, sondern um eine CMV. (Channelmoderatoren Versammlung) Bereits vor zehn Jahren hatte Tamsin in ihrem Lieblingschat viele eigene Channels eröffnet. Mit etwas Glück gelang es ihr immer wieder, diese mit Nutzern zu füllen. Im gesamten Chat gibt es hunderte, wenn nicht sogar tausende von Channels. Die meisten davon stehen leer. Es gibt viele Möglichkeiten dort Channelmoderator zu werden, doch am wohlsten fühlt Tamsin sich in ihrem eigenen Raum, in dem sie sich nicht an bestehende Regeln halten muss, sondern ihre eigenen Regeln aufstellen kann. „Es ist erstaunlich. Schon seit 2006 hatte ich Schwierigkeiten, mich Teams (anderen Chaträumen/Channels) anzuschließen. (Im Realleben, der Schule, war so etwas unmöglich. Teamarbeit war Horror; ich saß immer nur stumm am Rand, während das Team mich ignoriert hat. Wobei ich heute weiß, es lag nicht nur an mir, sondern auch an den Leuten, die mich nicht mochten, weil irgendwie ich.. anders war.) Ich habe mich immer am wohlsten gefühlt, wenn ich meinen eigenen Raum mit meinem eigenen Channelmoderator-Team führen konnte. Es gab immer schon Versammlungen, in denen über den Channel geplaudert wird. Mal gibt es Channelmoderatoren, die ihre Funktionen missbrauchen und es liegt an mir, der Channelleitung, dies zu klären. Ich bin die Chefin, und ehrlich gesagt liebe ich es, die Macht zu haben, zu entscheiden, wer CM werden darf, wer nicht, wie die CMs handeln dürfen, wie nicht und was die Konsequenzen für Fehler sind. Einfach alles zu bestimmen!“ Tamsin glaubt, die geborene Chefin zu sein. Ja, dies ist nur ein Chat, aber Tamsin weiß, wie man anleitet, bestimmt, Befehle erteilt – und erkennt, was falsch, richtig, sinnvoll oder sinnlos ist. Auf einer alten Kassette hat sie eine Aufnahme, wie sie als Kind Kommandant spielt. Heute ist sie erstaunt, wie gut sie schon als Kleinkind in diese Rolle gepasst hat. 

Tamsins Channels funktionierten schon immer am besten. Ob Videochat, Russenchannel oder Rollenspielchannel. „Am liebsten würde ich auch im Berufsleben eine führende Rolle übernehmen. Es macht Spaß und ich weiß, dass ich es kann. Wenn ich meine Phobien überwunden habe, werde ich nicht als Tellerwäscher in einer miefigen Küche enden!“ Ja, einige Leute würden sich freuen, überhaupt solche Arbeit ausführen zu dürfen, aber für Tamsin wäre so ein Leben nicht lebenswert. Sie will etwas erreichen. Etwas aus sich machen, dass ihr, wie auch anderen guttut!  Kommen wir zurück zum Thema. Die Channelmoderatorversammlung war diesmal kaum anders, als die damaligen von vor zehn Jahren. „Wir saßen in einem externen Channel und haben diverse Probleme ausdiskutiert.“ Und doch konnte Tamsin einen deutlichen Unterschied zu damals fühlen. „Es hat Spaß gemacht eine Diskussion anzuführen, wenn auch nur schriftlich im Chat. Aber es war auch... stressig. Früher dauerte so etwas mehrere Stunden. Heute war ich schon nach einer halben Stunde ziemlich fertig. Ich empfand es sogar als anstrengend, zu warten, bis sich jemand zu den Vorwürfen, wieso er andere Leute grundlos beleidigt hat, äußert.“ Tamsin fühl sich alt. „Ich frage mich, wie ich es damals nur geschafft habe, 12 Stunden täglich ununterbrochen im Chat zu hocken. Ich bewundere diese Ausdauer, während ich sie gleichzeitig verabscheue. Es war so viel Zeit, die für Nichts draufgegangen ist. Ich hätte stattdessen so viel erreichen können. Eine Ausbildung abschließen, Karriere machen...“ Wenn nur diese Phobien nicht wären!

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