Dienstag, 21. Februar 2017

Gedankenwelt III


> Tamsin?“

„...............“

> Tamsin!!“

Äh, ja?“

> „Wahrscheinlich gibt es niemanden, der so oft über sein Leben nachgrübelt, wie du. Inzwischen ist die positive Wunschvorstellung deines Lebens bekannt. Doch wie sieht es mit dem Gegenteil aus? Was wäre dein schlimmster Alptraum? Erzähle.“

Aber ich bin gerade nicht in Stimmung für negative Gedanken...“

> „Sprich! Eines Tages wirst du einer der wenigen alten Menschen sein, die in ihrem Schaukelstuhl vor einer voll aufgedrehten Heizung am Fenster sitzen und das Privileg genießen, ihre Gedanken aus jüngster Vergangenheit noch einmal nachlesen zu dürfen.“

...Wie ich mir mein Leben vorstelle, wenn nichts läuft, wie ich es gerne hätte?“ Darüber grübelt Tamsin oft nach. Vieles kann sich zum Guten entwickeln. Doch ebenso können Normen und Bestimmungen höherer Gesellschaft ihren Willen bezwingen. Und das geht schneller, als so mancher ahnt... „Es sähe so aus: In den Augen potentieller Arbeitgeber werde ich immer die unterdurchschnittlich schlechte Hauptschülerin bleiben, die ich 2006 war. Ich werde keine Gelegenheit haben, mich zu beweisen, und falls doch, zählt letztlich doch nur, was auf dem Papier steht. Ich kann geschickt und kreativ sein, doch eine Ausbildung zum Goldschmied würde für eine Hauptschülerin niemals in Frage kommen. Meine ausgeprägten IT Kenntnisse können Verwandte beeindrucken, doch auch das ist irrelevant.
Das Arbeitsamt weiß das, und so werde ich mich letztlich zwischen „Küchenhilfe“ oder „Reinigungskraft“ entscheiden dürfen. Wenn mir diese Entscheidung überhaupt zusteht. Ich werde keine Wahl haben, denn ich muss tun, was das Amt, von dem ich leider abhängig bin, verlangt.
Endlich habe ich eine eigene Wohnung. Die liegt in der Abgeschiedenheit am Stadtrand, mit Blick auf die Lärmschutzmauer der nahen Autobahn. Damit ich den Bus, der mich zu meiner Arbeitsstelle, einer Großküche außerhalb der Stadt bringt erwische, muss ich ungefähr zwischen fünf und sechs Uhr aufstehen. Immerhin möchte ich vorher noch frühstücken und mich frisch machen. Ja, mein Frühstück muss groß ausfallen, da ich erst abends heimkomme und meine Pingeligkeit aus frühester Kindheit immer noch nicht überwinden kann und das vorbestimmte Essen in der Kantine ablehne. Leider gibt es viel, was ich nicht mag. Ebenso kann ich niemanden bestimmen lassen, was ich esse. Das ist wie ein alter Zwang. Lieber esse ich gar nichts, als oberen Bestimmungen nachzugeben und etwas zu akzeptieren, was mir nicht einmal schmeckt.
Naja, kommen wir zurück zum Bus. Der Weg von meiner Wohnung bis zur Haltestelle wäre nicht gerade kurz. An der Haltestelle drängeln sich bereits die ersten Kettenraucher. Mit angehaltenem Atem harre ich nahe bei denen an einer bestimmten Stelle aus, von der ich weiß, dass der Bus genau dort hält, weil es ein Schulbus ist und ich im Gedrängel unbedingt noch einen freien Platz erwischen will. Ich bin stets müde und schlecht gelaunt, und im Stehen Busfahren wäre das letzte, was ich wollen würde!
Im Bus ist es laut und riecht komisch, aber so zugequalmt von Nikotin, wie ich dann wäre, wäre mir das auch egal. Wenigstens bekomme ich Luft! Ich traue mich nicht, die Fahrt mit Lesen oder Musikhören zu überbrücken, weil ich Angst habe, dass einer der vielen schlecht erzogenen Jugendlichen um mich herum mir das Handy aus der Hand reißt.
Sobald ich auf der Arbeit ankomme, muss ich meine Arbeitskleidung anziehen, vielleicht noch ein bisschen warten, da der Busfahrplan sich nicht so gut an meine Arbeitszeiten anpasst und dann noch einmal meine Arbeitskleidung ablegen, weil ich zur Toilette muss. Der Alltag beginnt. Ich bin den ganzen Tag auf den Beinen. Vielleicht arbeite ich auch im Sitzen, falls ich einer Fabrik zugewiesen werde, aber selbst dort gibt es heutzutage nur noch Stehplätze, weil im Stehen arbeiten angeblich effektiver ist. Naja, momentan sind wir in der Großküche. Einem Lehrling fällt die Kelle in den Suppentopf, doch ich, schadenfroh wie ich leider bin, kann nicht lachen, weil mir vom Zwiebeln-schneiden die tränenden, brennenden Augen fast aus dem Kopf quillen. Aber ich muss das tun, weil der Chef es verlangt! Sobald es Pause ist, stürze ich zu einem Stuhl, denn mir tun Füße und Rücken weh und ich kann mich einfach nicht an dieses elende Gefühl gewöhnen. Ich genieße jede freie Sekunde. Esse Kekse von Zuhause und trinke Wasser, aber nicht zu viel, da ich sonst wieder so oft zur Toilette muss. Der Chefkoch ist ein patziger Egoist, der Arbeit über Wohlergehen stellt.
Nach der Pause und dem Essen geht’s ans Aufräumen. Ich brauch nicht beim Schrubben helfen - ich bin zu langsam und setze zu wenig Kraft ein, wie der Chef meint. Darum spüle ich die Teller. Der Anblick nasser, zusammenklebender Essensreste verursacht mir Übelkeit. Und das ist keine Einbildung. Ich kneife die Augen zusammen, überwinde den Ekel und pule sie mit meinen verschrumpelten Fingern aus dem Abfluss. Immerhin muss ich meinen Arbeitsplatz sauber verlassen!
Ich mache, was getan werden muss, bis es irgendwann siebzehn Uhr ist. Draußen ist es bereits dunkel. Im Winter sehe ich das Tageslicht nur durch ein fettiges Fenster. Ich muss mich beeilen und mit brennenden Füßen zur Haltestelle hetzen. Sollte ich den Bus verpassen, müsste ich eine Stunde warten. Inzwischen knurrt mir der Magen. Doch aufs in der Küche stehen und mir etwas zu kochen habe ich keine Lust. Wenn ich Glück habe, liegt ein Imbiss in der Nähe meiner Wohnung. Obwohl ich weiß, dass Pommes, Hähnchen oder Pizza auf Dauer nicht gesund sind, wird dies zu meiner Grundversorgung. Die Folgen wären mir in so einem Leben egal.
Endlich wieder zuhause, lasse ich mich erschöpft auf meine Couch fallen. Gerne möchte ich schlafen, mich ausruhen, aber ich weiß: dies ist meine Zeit in der ich tun kann, was ich will, möchte, muss! Einkaufen tue ich nur an den Wochenenden, da ich in der Woche weder Zeit, noch Motivation dazu hätte. Gähnend schmeiße ich die Glotze an, verzehre meine Pommes, die labberig und ungewürzt sind, aber ein anderer Imbiss wäre mir zu weit weg. Ja, ich habe mein eigenes Geld verdient, sogar mehr als ich zum Überleben brauche, und mir einen riesigen 4K Fernseher zugelegt. Meine Lieblingssendung läuft. Aber ich bin zu müde und gehe früh ins Bett. Dass muss ich sowieso, damit ich am nächsten Morgen überhaupt wieder hochkomme. Der Schmerz in meinen Füßen lässt langsam nach. Gerne wollte ich ein Buch schreiben, doch müde lässt es sich nicht so gut denken und alles was ich wirklich will, ist schlafen. Gleichzeitig hasse ich mich dafür, denn ich könnte noch so viel tun und ich weiß, wenn ich erst einmal eingeschlafen bin, ist prompt der Morgen da und alles geht wieder von vorne los. Ein Leben lang.“
Tamsin weiß, für einen Großteil der Gesellschaft ist so ein Leben normal. Niemand beklagt sich. Nur die Einstellung „Hauptsache man hat Arbeit, egal welche!“ kann Tamsin nicht teilen. Sicher, gerne hätte sie etwas zu tun. Ob mit Phobien oder ohne. „Aber man sollte ich dabei wohlfühlen. Wir leben nicht mehr wie vor zweihundert Jahren, wo es hieß: auf dem Feld ackern oder verhungern! Heute gibt es so viele Möglichkeiten!“

> „Jedem das Seine.“

...Ähm, du?“

> „..“

Sag mal, wer bist du überhaupt?“

> „Wer ich bin?“

Ja.“

> „Ich bin der (oder die), der (oder die) hier die Fragen stellt!“

Aber wer...“

> „Das ist ein Geheimnis.“

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