> „Tamsin?“
„...............“
> „Tamsin!!“
„Äh,
ja?“
>
„Wahrscheinlich gibt es niemanden, der so oft über sein Leben
nachgrübelt, wie du. Inzwischen ist die positive Wunschvorstellung
deines Lebens bekannt. Doch wie sieht es mit dem Gegenteil aus? Was
wäre dein schlimmster Alptraum? Erzähle.“
„Aber
ich bin gerade nicht in Stimmung für negative Gedanken...“
>
„Sprich! Eines Tages wirst du einer der wenigen alten Menschen sein,
die in ihrem Schaukelstuhl vor einer voll aufgedrehten Heizung am
Fenster sitzen und das Privileg genießen, ihre Gedanken aus jüngster
Vergangenheit noch einmal nachlesen zu dürfen.“
„...Wie
ich mir mein Leben vorstelle, wenn nichts läuft, wie ich es gerne
hätte?“ Darüber grübelt Tamsin oft nach. Vieles kann sich zum
Guten entwickeln. Doch ebenso können Normen und Bestimmungen höherer
Gesellschaft ihren Willen bezwingen. Und das geht schneller, als so
mancher ahnt... „Es sähe so aus: In den Augen potentieller
Arbeitgeber werde ich immer die unterdurchschnittlich schlechte
Hauptschülerin bleiben, die ich 2006 war. Ich werde keine
Gelegenheit haben, mich zu beweisen, und falls doch, zählt letztlich
doch nur, was auf dem Papier steht. Ich kann geschickt und kreativ
sein, doch eine Ausbildung zum Goldschmied würde für eine
Hauptschülerin niemals in Frage kommen. Meine ausgeprägten IT
Kenntnisse können Verwandte beeindrucken, doch auch das ist
irrelevant.
Das
Arbeitsamt weiß das, und so werde ich mich letztlich zwischen
„Küchenhilfe“ oder „Reinigungskraft“ entscheiden dürfen.
Wenn mir diese Entscheidung überhaupt zusteht. Ich werde keine Wahl
haben, denn ich muss tun, was das Amt, von dem ich leider abhängig
bin, verlangt.
Endlich
habe ich eine eigene Wohnung. Die liegt in der Abgeschiedenheit am
Stadtrand, mit Blick auf die Lärmschutzmauer der nahen Autobahn.
Damit ich den Bus, der mich zu meiner Arbeitsstelle, einer Großküche
außerhalb der Stadt bringt erwische, muss ich ungefähr zwischen
fünf und sechs Uhr aufstehen. Immerhin möchte ich vorher noch
frühstücken und mich frisch machen. Ja, mein Frühstück muss groß
ausfallen, da ich erst abends heimkomme und meine Pingeligkeit aus
frühester Kindheit immer noch nicht überwinden kann und das
vorbestimmte Essen in der Kantine ablehne. Leider gibt es viel, was
ich nicht mag. Ebenso kann ich niemanden bestimmen lassen, was ich
esse. Das ist wie ein alter Zwang. Lieber esse ich gar nichts, als
oberen Bestimmungen nachzugeben und etwas zu akzeptieren, was mir
nicht einmal schmeckt.
Naja,
kommen wir zurück zum Bus. Der Weg von meiner Wohnung bis zur
Haltestelle wäre nicht gerade kurz. An der Haltestelle drängeln
sich bereits die ersten Kettenraucher. Mit angehaltenem Atem harre
ich nahe bei denen an einer bestimmten Stelle aus, von der ich weiß,
dass der Bus genau dort hält, weil es ein Schulbus ist und ich im
Gedrängel unbedingt noch einen freien Platz erwischen will. Ich bin
stets müde und schlecht gelaunt, und im Stehen Busfahren wäre das
letzte, was ich wollen würde!
Im
Bus ist es laut und riecht komisch, aber so zugequalmt von Nikotin,
wie ich dann wäre, wäre mir das auch egal. Wenigstens bekomme ich
Luft! Ich traue mich nicht, die Fahrt mit Lesen oder Musikhören zu
überbrücken, weil ich Angst habe, dass einer der vielen schlecht
erzogenen Jugendlichen um mich herum mir das Handy aus der Hand
reißt.
Sobald
ich auf der Arbeit ankomme, muss ich meine Arbeitskleidung anziehen,
vielleicht noch ein bisschen warten, da der Busfahrplan sich nicht so
gut an meine Arbeitszeiten anpasst und dann noch einmal meine
Arbeitskleidung ablegen, weil ich zur Toilette muss. Der Alltag
beginnt. Ich bin den ganzen Tag auf den Beinen. Vielleicht arbeite
ich auch im Sitzen, falls ich einer Fabrik zugewiesen werde, aber
selbst dort gibt es heutzutage nur noch Stehplätze, weil im Stehen
arbeiten angeblich effektiver ist. Naja, momentan sind wir in der
Großküche. Einem Lehrling fällt die Kelle in den Suppentopf, doch
ich, schadenfroh wie ich leider bin, kann nicht lachen, weil mir vom
Zwiebeln-schneiden die tränenden, brennenden Augen fast aus dem Kopf
quillen. Aber ich muss das tun, weil der Chef es verlangt! Sobald es
Pause ist, stürze ich zu einem Stuhl, denn mir tun Füße und Rücken
weh und ich kann mich einfach nicht an dieses elende Gefühl
gewöhnen. Ich genieße jede freie Sekunde. Esse Kekse von Zuhause
und trinke Wasser, aber nicht zu viel, da ich sonst wieder so oft zur
Toilette muss. Der Chefkoch ist ein patziger Egoist, der Arbeit über
Wohlergehen stellt.
Nach
der Pause und dem Essen geht’s ans Aufräumen. Ich brauch nicht
beim Schrubben helfen - ich bin zu langsam und setze zu wenig Kraft
ein, wie der Chef meint. Darum spüle ich die Teller. Der Anblick
nasser, zusammenklebender Essensreste verursacht mir Übelkeit. Und
das ist keine Einbildung. Ich kneife die Augen zusammen, überwinde
den Ekel und pule sie mit meinen verschrumpelten Fingern aus dem
Abfluss. Immerhin muss ich meinen Arbeitsplatz sauber verlassen!
Ich
mache, was getan werden muss, bis es irgendwann siebzehn Uhr ist.
Draußen ist es bereits dunkel. Im Winter sehe ich das Tageslicht nur
durch ein fettiges Fenster. Ich muss mich beeilen und mit brennenden
Füßen zur Haltestelle hetzen. Sollte ich den Bus verpassen, müsste
ich eine Stunde warten. Inzwischen knurrt mir der Magen. Doch aufs in
der Küche stehen und mir etwas zu kochen habe ich keine Lust. Wenn
ich Glück habe, liegt ein Imbiss in der Nähe meiner Wohnung. Obwohl
ich weiß, dass Pommes, Hähnchen oder Pizza auf Dauer nicht gesund
sind, wird dies zu meiner Grundversorgung. Die Folgen wären mir in
so einem Leben egal.
Endlich
wieder zuhause, lasse ich mich erschöpft auf meine Couch fallen.
Gerne möchte ich schlafen, mich ausruhen, aber ich weiß: dies ist
meine Zeit in der ich tun kann, was ich will, möchte, muss!
Einkaufen tue ich nur an den Wochenenden, da ich in der Woche weder
Zeit, noch Motivation dazu hätte. Gähnend schmeiße ich die Glotze
an, verzehre meine Pommes, die labberig und ungewürzt sind, aber ein
anderer Imbiss wäre mir zu weit weg. Ja, ich habe mein eigenes Geld
verdient, sogar mehr als ich zum Überleben brauche, und mir einen
riesigen 4K Fernseher zugelegt. Meine Lieblingssendung läuft. Aber
ich bin zu müde und gehe früh ins Bett. Dass muss ich sowieso,
damit ich am nächsten Morgen überhaupt wieder hochkomme. Der
Schmerz in meinen Füßen lässt langsam nach. Gerne wollte ich ein
Buch schreiben, doch müde lässt es sich nicht so gut denken und
alles was ich wirklich will, ist schlafen. Gleichzeitig hasse ich
mich dafür, denn ich könnte noch so viel tun und ich weiß, wenn
ich erst einmal eingeschlafen bin, ist prompt der Morgen da und alles
geht wieder von vorne los. Ein Leben lang.“
Tamsin
weiß, für einen Großteil der Gesellschaft ist so ein Leben normal.
Niemand beklagt sich. Nur die Einstellung „Hauptsache man hat
Arbeit, egal welche!“ kann Tamsin nicht teilen. Sicher, gerne hätte
sie etwas zu tun. Ob mit Phobien oder ohne. „Aber man sollte ich
dabei wohlfühlen. Wir leben nicht mehr wie vor zweihundert Jahren,
wo es hieß: auf dem Feld ackern oder verhungern! Heute gibt es so
viele Möglichkeiten!“
>
„Jedem das Seine.“
„...Ähm,
du?“
>
„..“
„Sag
mal, wer bist du überhaupt?“
>
„Wer ich bin?“
„Ja.“
>
„Ich bin der (oder die), der (oder die) hier die Fragen stellt!“
„Aber
wer...“
>
„Das ist ein Geheimnis.“
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