Lucy hat einen normalen Tag hinter sich. Dabei hat doch alles
so friedlich angefangen. Ihre Eltern sind mit ihr – sie darf ja immer noch
nicht alleine das Auto nehmen – zur Bank gefahren, weil sie dort etwas zu
erledigen hatte. Es sollte alles ohne große Umschweife von Statten gehen. Doch
dann kam wieder einmal alles komplett anders. Ihr Dad hatte Karten für ein
Gewinnspiel dabei. Diese sind täglich im Städtischen Edeka abzugeben. Und – es
ist wie eine Sucht, die einfach nicht zu bändigen ist – diese Gelegenheit hat
er sogleich genutzt. Lucy hat dies zu nächst wenig gekümmert. Sie hatte kaum
Geld dabei, war nicht gewillt, dies auszugeben und so lange der Edeka Besuch
nicht zu einem längeren Einkauf ausartete, kümmerte sie der kleine Abstecher
recht wenig.
Doch der der Wunsch einen Preis abzusahnen ist groß, das
Bedürfnis, noch mehr Karten abzugeben gewaltig! Also sind ihre Eltern anstatt
heimzufahren in die nahe Hafenstadt ab gedüst, denn dort gibt es auch einen Edeka
Markt – und ein Gewinnspiel. Und Lucy war natürlich mit dabei. Ihr blieb ja
keine andere Wahl. Sie kann ja nicht aus dem fahrendem Auto springen. „Und wenn
wir schon mal da sind, können wir auch gleich ein bisschen einkaufen.“, so die
Meinung ihrer Mom. Lucys Hände ballten sich zu Fäusten. Sie fühlte sich wie ein
kleines Kind, wie sie da auf der Rückbank saß und mit der Endscheidung rang:
Mitgehen, oder im Auto warten? Nun, sie brauchte nichts. Außer vielleicht einen
Pudding. Aber auf den zu verzichten wäre eine Wohltat für ihren Körper, denn
sie weiß, dass sie wirklich anfangen sollte, abzunehmen.
Da es im Auto kalt und langweilig ist – trotz schwachem
Gratis WLAN vor dem Laden – hatte sie beschlossen, mitzugehen. Es ärgerte sie
schon genug, dass sie überhaupt mitfahren musste und nicht zuhause aussteigen
durfte, obwohl das Haus auf dem Weg lag. Lucy brauchte etwas, um sich von ihrer
Wut abzulenken. Mürrisch befreite sie direkt drei ihrer Lieblingspuddings Moussee
mit Rum aus dem Kühlregal. Ihr Dad erfreute sich derweil an seinem Gewinnspiel.
„Gut, dass pro Person nur eine Karte auszufüllen erlaubt ist.“, findet Lucy,
weil dies ihr einen großen Teil an Wartezeit erspart. „Daneben zu stehen,
während er eine Karte nach der anderen ausfüllt… Das ist sowas von ätzend!“
Nach dem Einkauf war Lucy froh, dass es endlich nach Hause
gehen würde. „Ich möchte ein neues Bild anfangen zu malen.“
Diese Freude verwandelte sich binnen Sekunden in grauen
Rauch, der ihr aus dem Kopf stieg, denn ihr Dad hatte Hunger. Er konnte sich nicht
mehr bis nach Hause gedulden. Wie immer stand vor dem Geschäft einer dieser
Hähnchenwagen. Den Mief der wie weiß wie lange vor sich hin beratenen Gockel
war sogar von der Parkplatzauffahrt aus zu riechen. „Früher habe ich gerne von
dort gegessen, doch in letzter Zeit ist das Essen wirklich ungenießbar. Fraß,
es ist der reinste Fraß.“ Einmal waren die Pommes noch halb roh. Das Fett
tropfte raus, sobald man sie ein wenig bog. „Ein anderes Mal warten sie hart
und verkrustet, als hätte der Typ sie vorher schon dreimal frittiert und dann
für mich noch einmal aufgewärmt.“ Ihrem Dad schmeckten sie auch nicht.
Ihre Mom beschloss, während er aß noch einmal nach Aldi zu
gehen. Der Laden stand direkt nebenan. Dahinter die Autobahn und ein
Wohngebiet. Und Lucy? „Ja, mein Gott, ich war wütend. Ich weiß nicht, ob zu
Recht oder zu Unrecht, aber ich sehe nicht ein, dass ich zwei Stunden des Tages
damit verbringen muss, meinen Eltern hinterherzudackeln, auf sie zu warten, zu
warten und noch mehr zu warten!“ Aus Frust – Wieso sollte sie alles Tatenlos mit
sich machen lassen; sie ist schließlich kein Hund? – hat sie ihrem Dad die
Gewinnspielkarten geklaut. Sie wusste, wieviel sie ihm bedeuteten. Er würde den
Abend damit verbringen, sie alle auszufüllen und dann Tag für Tag jeweils
welche in die Edeka Gewinnbox schmeißen. „Die Gewinne sind mir egal. Er gewinnt
doch sowieso nicht.“ Das einzige, was er dieses Jahr gewonnen hat, waren zwei
Gläser Honig.
Ihr Vater versteifte sich, während Lucys Wut einem Hauch von
Belustigung wich, als sie sich auf die Karten draufsetzte, nach denen er
bereits panisch die Finger ausstreckte.
„Ich frage mich oft
warum. Warum muss ich in einem Dorf leben, in dem nur dreimal täglich ein Bus
fährt. Warum liegt dieses Dorf auf einem zwei Kilometer hohen Berg, der mir
jegliche Motivation zum Fahrradfahren raubt? Warum beherrschen mich diese
Ängste, die verhindern, dass ich all diesen Hindernissen trotze?“
Der Abend wurde auch nicht gerade erheiternd. Lucy war im
Internet unterwegs. Doch anstatt sich zu freuen, jemandem gefunden zu haben,
der sie gernhat, gern mit ihr schreibt und sie näher kennenlernen mag, verspürt
sie einen Anflug von Traurigkeit. Gerne würde sie rausgehen, reden, und dem
Lebensglück seinen Lauf lassen. „Oft fühle ich mich wie in einem Gefängnis.“ Sie
hasst die Vorstellung, von ihren Eltern zu einem Date gefahren zu werden. Sie
dabei zu haben. Beobachtet und abgeholt zu werden. Wie ein Kind behandelt zu
werden. Wie das Kind, dass sie ihren Eltern nach ist! „Wieso sollte ich
überhaupt mal Glück haben? Wahrscheinlich wird es so wie immer ablaufen. Ich
finde keine Wohnung, zögere die Begegnung hinaus und die Bindung versickert ganz
langsam wie im Treibsand.“ Lucy kann dies verstehen. Einmal hatte sie jemanden
von ihren neugierigen Eltern erzählt, die darauf bestehen würden, beim ersten
Treffen dabei zu sein. „Er war wenig begeistert. Naja, wenn ich jemanden
kennenlerne und die Chance hätte, ihn zu treffen, würde ich auch nicht zuerst
die Eltern kennenlernen wollen. Wer will das schon noch im 21. Jahrhundert?!“
Bereits vor einigen Jahren hat Lucy sich folgendes geschworen:
„Spätestens mit 30 werde ich dieses Kinderzimmer verlassen haben. Ich werde
hier nicht alt werden, einsam und alleine, während das Leben an mir vorbeizieht!
Ich werde frei sein, tun und kaufen können, was ich will, ohne mir dazu
Kommentare anhören zu müssen: Das hast du schon, das hattest du schon mal
gehabt, das brauchst du nicht, dafür bist du zu alt, spar für etwas Sinnvolles…“
Der Zorn sprudelt aus ihr wie Lava aus einem Vulkan, wenn sie nur einen dieser
Sätze hört. „Und plötzlich ist mir alles egal. Mir ist egal, was sie meinen,
mir ist egal, was andere von mir denken.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen