Dienstag, 13. Dezember 2016

Trauer & Isolation



Lucy hat einen normalen Tag hinter sich. Dabei hat doch alles so friedlich angefangen. Ihre Eltern sind mit ihr – sie darf ja immer noch nicht alleine das Auto nehmen – zur Bank gefahren, weil sie dort etwas zu erledigen hatte. Es sollte alles ohne große Umschweife von Statten gehen. Doch dann kam wieder einmal alles komplett anders. Ihr Dad hatte Karten für ein Gewinnspiel dabei. Diese sind täglich im Städtischen Edeka abzugeben. Und – es ist wie eine Sucht, die einfach nicht zu bändigen ist – diese Gelegenheit hat er sogleich genutzt. Lucy hat dies zu nächst wenig gekümmert. Sie hatte kaum Geld dabei, war nicht gewillt, dies auszugeben und so lange der Edeka Besuch nicht zu einem längeren Einkauf ausartete, kümmerte sie der kleine Abstecher recht wenig. 

Doch der der Wunsch einen Preis abzusahnen ist groß, das Bedürfnis, noch mehr Karten abzugeben gewaltig! Also sind ihre Eltern anstatt heimzufahren in die nahe Hafenstadt ab gedüst, denn dort gibt es auch einen Edeka Markt – und ein Gewinnspiel. Und Lucy war natürlich mit dabei. Ihr blieb ja keine andere Wahl. Sie kann ja nicht aus dem fahrendem Auto springen. „Und wenn wir schon mal da sind, können wir auch gleich ein bisschen einkaufen.“, so die Meinung ihrer Mom. Lucys Hände ballten sich zu Fäusten. Sie fühlte sich wie ein kleines Kind, wie sie da auf der Rückbank saß und mit der Endscheidung rang: Mitgehen, oder im Auto warten? Nun, sie brauchte nichts. Außer vielleicht einen Pudding. Aber auf den zu verzichten wäre eine Wohltat für ihren Körper, denn sie weiß, dass sie wirklich anfangen sollte, abzunehmen.

Da es im Auto kalt und langweilig ist – trotz schwachem Gratis WLAN vor dem Laden – hatte sie beschlossen, mitzugehen. Es ärgerte sie schon genug, dass sie überhaupt mitfahren musste und nicht zuhause aussteigen durfte, obwohl das Haus auf dem Weg lag. Lucy brauchte etwas, um sich von ihrer Wut abzulenken. Mürrisch befreite sie direkt drei ihrer Lieblingspuddings Moussee mit Rum aus dem Kühlregal. Ihr Dad erfreute sich derweil an seinem Gewinnspiel. „Gut, dass pro Person nur eine Karte auszufüllen erlaubt ist.“, findet Lucy, weil dies ihr einen großen Teil an Wartezeit erspart. „Daneben zu stehen, während er eine Karte nach der anderen ausfüllt… Das ist sowas von ätzend!“
Nach dem Einkauf war Lucy froh, dass es endlich nach Hause gehen würde. „Ich möchte ein neues Bild anfangen zu malen.“

Diese Freude verwandelte sich binnen Sekunden in grauen Rauch, der ihr aus dem Kopf stieg, denn ihr Dad hatte Hunger. Er konnte sich nicht mehr bis nach Hause gedulden. Wie immer stand vor dem Geschäft einer dieser Hähnchenwagen. Den Mief der wie weiß wie lange vor sich hin beratenen Gockel war sogar von der Parkplatzauffahrt aus zu riechen. „Früher habe ich gerne von dort gegessen, doch in letzter Zeit ist das Essen wirklich ungenießbar. Fraß, es ist der reinste Fraß.“ Einmal waren die Pommes noch halb roh. Das Fett tropfte raus, sobald man sie ein wenig bog. „Ein anderes Mal warten sie hart und verkrustet, als hätte der Typ sie vorher schon dreimal frittiert und dann für mich noch einmal aufgewärmt.“ Ihrem Dad schmeckten sie auch nicht. 


Ihre Mom beschloss, während er aß noch einmal nach Aldi zu gehen. Der Laden stand direkt nebenan. Dahinter die Autobahn und ein Wohngebiet. Und Lucy? „Ja, mein Gott, ich war wütend. Ich weiß nicht, ob zu Recht oder zu Unrecht, aber ich sehe nicht ein, dass ich zwei Stunden des Tages damit verbringen muss, meinen Eltern hinterherzudackeln, auf sie zu warten, zu warten und noch mehr zu warten!“ Aus Frust – Wieso sollte sie alles Tatenlos mit sich machen lassen; sie ist schließlich kein Hund? – hat sie ihrem Dad die Gewinnspielkarten geklaut. Sie wusste, wieviel sie ihm bedeuteten. Er würde den Abend damit verbringen, sie alle auszufüllen und dann Tag für Tag jeweils welche in die Edeka Gewinnbox schmeißen. „Die Gewinne sind mir egal. Er gewinnt doch sowieso nicht.“ Das einzige, was er dieses Jahr gewonnen hat, waren zwei Gläser Honig.   

Ihr Vater versteifte sich, während Lucys Wut einem Hauch von Belustigung wich, als sie sich auf die Karten draufsetzte, nach denen er bereits panisch die Finger ausstreckte.  


 „Ich frage mich oft warum. Warum muss ich in einem Dorf leben, in dem nur dreimal täglich ein Bus fährt. Warum liegt dieses Dorf auf einem zwei Kilometer hohen Berg, der mir jegliche Motivation zum Fahrradfahren raubt? Warum beherrschen mich diese Ängste, die verhindern, dass ich all diesen Hindernissen trotze?“
Der Abend wurde auch nicht gerade erheiternd. Lucy war im Internet unterwegs. Doch anstatt sich zu freuen, jemandem gefunden zu haben, der sie gernhat, gern mit ihr schreibt und sie näher kennenlernen mag, verspürt sie einen Anflug von Traurigkeit. Gerne würde sie rausgehen, reden, und dem Lebensglück seinen Lauf lassen. „Oft fühle ich mich wie in einem Gefängnis.“ Sie hasst die Vorstellung, von ihren Eltern zu einem Date gefahren zu werden. Sie dabei zu haben. Beobachtet und abgeholt zu werden. Wie ein Kind behandelt zu werden. Wie das Kind, dass sie ihren Eltern nach ist! „Wieso sollte ich überhaupt mal Glück haben? Wahrscheinlich wird es so wie immer ablaufen. Ich finde keine Wohnung, zögere die Begegnung hinaus und die Bindung versickert ganz langsam wie im Treibsand.“ Lucy kann dies verstehen. Einmal hatte sie jemanden von ihren neugierigen Eltern erzählt, die darauf bestehen würden, beim ersten Treffen dabei zu sein. „Er war wenig begeistert. Naja, wenn ich jemanden kennenlerne und die Chance hätte, ihn zu treffen, würde ich auch nicht zuerst die Eltern kennenlernen wollen. Wer will das schon noch im 21. Jahrhundert?!“


Bereits vor einigen Jahren hat Lucy sich folgendes geschworen: „Spätestens mit 30 werde ich dieses Kinderzimmer verlassen haben. Ich werde hier nicht alt werden, einsam und alleine, während das Leben an mir vorbeizieht! Ich werde frei sein, tun und kaufen können, was ich will, ohne mir dazu Kommentare anhören zu müssen: Das hast du schon, das hattest du schon mal gehabt, das brauchst du nicht, dafür bist du zu alt, spar für etwas Sinnvolles…“ Der Zorn sprudelt aus ihr wie Lava aus einem Vulkan, wenn sie nur einen dieser Sätze hört. „Und plötzlich ist mir alles egal. Mir ist egal, was sie meinen, mir ist egal, was andere von mir denken.“

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