Montag, 5. Dezember 2016

Tamsin hat einen Mann im Internet kennengelernt.

Tamsin hat einen Mann im Internet kennengelernt. Und das nicht zum ersten Mal. „Die meisten, die man dort kennenlernt, wohnen in den Großstädten; viel zu weit von meinem elenden Kuhdorf und mir entfernt.“ Diesmal jedoch nicht. Tamsin ist auf mehreren Partnersuch-Seiten angemeldet, wenn auch sie dort nicht aktiv ist und sich lieber finden lässt, statt selbst zu suchen. Dort jemanden zu entdecken, der weniger als zehn Minuten Busfahrt entfernt lebt, das passiert höchstens zweimal im Jahr. Sie weiß, wie unwahrscheinlich es ist, die wahre Liebe im Internet zu finden. Ihren ersten Freund hatte Tamsin ebenfalls im Internet kennengelernt. Er war nett, aber er wollte sie ständig verändern. „Er mochte meine Schüchternheit, fand es süß, doch meine Arbeitslosigkeit war für ihm ein NoGo!“ Die Bindung brach bereits nach zwei Monaten. Nicht, weil Tamsin keinen Job fand. Wie auch, mit solchen Ängsten? Sie denkt, ihre Eltern wären schuld. „Ständig haben sie mich ausgefragt und kontrolliert. Ich konnte nicht raus, ohne mich abmelden zu müssen.“ Angeblich haben sie sich nur um die kleine, schüchterne Tamsin gesorgt. „Wohin gehst du? Was machst du? Wann kommst du wieder? Bleib nicht länger als 23 Uhr weg!“ Für Tamsin wurde dieser Stress irgendwann so groß, dass sie den Schlussstrich gezogen hat. „Eltern, Ängste und Kinderzimmer – das passt einfach nicht zu Freund und Freiheit!“
Seither hat Tamsin sich mit niemandem mehr getroffen. Sie weiß, dass es sowieso wieder genauso werden würde, wie damals. „Dabei war es so schön. Er hatte ein Auto, wir waren viel unterwegs. Gegen den Willen meiner Eltern – ich war damals 23, also alt genug, oder? – habe ich sogar bei ihm übernachtet.
„Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht!“, hatte ihre Mom am nächsten Tag geklagt. „Wo warst du denn? Was ist passiert? Habt ihr „es“ schon getan?? Du kannst mit mir darüber sprechen. Das ist ganz normal. Dein Dad und ich machen „es“ auch jede Nacht.“

Tamsin weigert sich, auch heute noch, mit ihren Eltern über „Es“ zu sprechen. „Mein Gott, muss ich mich denn über alles rechtfertigen!?“
„Ich warte, bis ich eine Wohnung gefunden habe, oder irgendwo lebe, wo ich raus kann, ohne mich dafür erklären zu müssen.“, so Tamsins Plan. „Allerdings ist dieses Warten auf ein Glück, dass für alle anderen in meinem Alter selbstverständlich ist, eine Qual.“ Tamsin hat sich über die Jahre hinweg nicht von den Partnerbörsen abgemeldet. Schon mit jemandem zu schreiben, auch wenn die Chancen auf Glück gering sind, bereitet ihr Freude. „Gerne würde ich mich jemanden richtig kennenlernen. Auch wenn mein Dad denkt, ich bin naiv und kann die wahren Absichten dieser Typen nicht einschätzen. Aber es ist ja nicht so, dass ich mich nach zwei Zeilen Chat mit jedem treffe!“ Als Tamsin damals von einem Mann aus dem Chat erzählt hatte, ist ihr Dad ausgeratet. Tamsin hätte sie nicht mit ihm getroffen, ohne ihn vorher 2 Monate virtuell kennen zu lernen und ihn über Skype zu sehen. Das hat die Sache für sie einfacher gemacht. „Es war, als würden wir uns schon kennen, bevor wir uns das erste Mal vor dem Kino getroffen haben.“ Ihr Dad hingegen dachte – und hielt an dieser Meinung fest! – er wäre ein alter Knacker oder ein Junge mit Migrationshintergrund, der sowieso nur „das Eine“ will! Seine Meinung: „Kerle im Internet wollen immer nur das eine. Ausnahmslos! Was soll der Quatsch hier überhaupt? Lass uns nach Hause fahren, das bringt doch nichts!“ Man, war der überrascht, als plötzlich ein ganz normaler Typ in Tamsins Alter um die Ecke kam.

„Unser erstes Date hatte im Kino stattgefunden.“ Das Kino war unbeheizt und der Film eher mittelmäßig. Am meisten ärgerte es Tamsin, dass ihre Eltern sie hingebracht, gewartet und am Ausgang wieder abgeholt hatten. „Wir wollten uns nach dem Film noch unterhalten.“ Aber wie hätte Tamsin sich entspannen können, wenn ihre Eltern nur wenige Meter entfernt im Auto saßen, über sie reden und lächelnd zu ihr rüber glotzen?
„Ohje. Einmal und nie wieder!“ Als Tamsin Anfang des Jahres mit einem Mann schrieb, der gerne Fotos im Wald knipst und die Natur mag, kamen ihr die Tränen, weil sie wusste, dass daraus nie etwas werden würde, ohne, dass sie sich dem Kontrollwahn ihrer Eltern ein weiteres Mal aussetzt. „Oft fragte er mich, ob wir nicht mal zusammen Kaffeetrinken gehen könnten. Ich wollte es hinauszögern, in der Hoffnung, schnell eine Wohnung zu finden.“ Vergebens. Heute verdrängt Tamsin ihre Wut über diese Umstände, indem sie sich einredet, dass er vom Aussehen sowieso nicht zu ihr gepasst hätte. „Ich wohne bei Mutti und kann noch nicht mal alleine Einkaufen. Welcher selbstständig lebende Mann mit Job und Wohnung will so jemanden schon!?“ Ihre Ängste behindern sie, darauf folgt Demotivation und letztlich Gleichgültigkeit.
Lucy meint verbittert: „Wozu die Ängste überwinden, nur um dafür die Wut zu schüren? Du kaufst ein, bist stolz auf dich, nur um die Tüte ins Auto deiner Eltern zu schleppen, deinen Platz auf der Rückbank einzunehmen und die Einkäufe später in die nasse Schublade dieses miefenden Kühlschrankes zu quetschen? Vergiss es!“
O-kay…

Tamsin ist nicht dumm. Sie kann Menschen gut einschätzen. Sie erkennt, wenn im Internet jemand nur das Eine will. „Jemand, der nur auf eine schnelle Nacht hinaus ist, würde wohl kaum so viel Zeit opfern, mich über mehrere Monate hinweg kennenzulernen.“
Heute fürchtet Tamsin sich, ihren Eltern zu erzählen, dass sie jemanden gefunden hat, mit dem sie sich treffen will. Sie sieht die Reaktion ihrer Mom deutlich vor sich: „Was, du hast jemanden kennengelernt? Das ist ja toll! Komm, lass uns gleich zum Frauenarzt, damit du die Pille bekommst!“ Nicht, dass Tamsin das wollen würde. „Ich will nicht, dass sie über mich herrschen, mich bedrängen und bevormunden. Widersetze ich mich, kommt es zum Streit.“ Um diesen Streit zu vermeiden, ist es besser, erst gar nicht damit anzufangen.
„Einerseits bin ich dankbar, dass meine Eltern viel für mich tun. Andererseits behandeln sie mich wie ein Kind, dass gar nichts alleine kann.“ Und nichts hat. „Wenn ich einen Freund hätte, würde ich auch wollen, dass er zu mir kommt. Öfters. „Aber wenn er zu mir will, muss er bei den Eltern vorbei. Sie würden immer wissen, wann er da ist, über mich reden, was wir wohl gerade machen. Ich könnte ihm nicht mal etwas zu trinken anbieten, ohne dass wir (ich) meine Mom in der Küche treffen, aus deren Mund sofort wieder unzählige Fragen sprudeln.“ Und dann würde es nur Wasser oder Brause geben. Würde Tamsin etwas Alkoholhaltiges besorgen – sofern ihr das möglich wäre – würde ihr Dad schimpfen: „Was, Bier und Schnaps? Willst du jetzt zum Säufer werden, oder was!?“ Nicht, dass Tamsin das Verlangen verspürt, sich zu besaufen. „Naja, vielleicht manchmal.“, gibt sie kleinlaut zu.

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