Zehn Jahre ist es nun her, dass Tamsin ihr
komplettes Realleben ins Internet verlegt hatte. Ungefähr vier Jahre hat es
gedauert, bis sie erkannt hatte, wie Sinnlos so ein Leben ist. Bis um 11Uhr
schlafen und von da an bis spät nach Mitternacht nur vor dem Computer gammeln.
Zwischendurch mal etwas essen, mal aufs Klo oder die CD wechseln. Was für ein…
Leben.
Aber nochmal zurück zum Anfang:
Alles begann im Jahre 2005. Tamsin war 16
und ist mit ihren Eltern aus der Stadt ins Dorf gezogen. Damit der Kontakt zu
ihren Schuldfreunden nicht abbricht, bekam Tamsin einen eigenen
Internetanschluss. Wow! Sogleich hat sie den berühmten Chat Knuddels entdeckt,
in dem fast ihre ganze Klasse angemeldet war. „Ich war sofort begeistert. Alle
haben immer nur von Knuddels geredet. Millionen Menschen, nur einen Klick entfernt.“
Ganz zu Anfang hatte Tamsin noch keine günstige Flat und durfte nur eine Stunde
täglich online. Aber als sich dies geändert hatte, änderte sich ihr ganzes
Leben.
Immer, wenn sie Zeit hatte, war sie in
Knuddels. Einmal hatte sie eine Klassenkameradin, die sie nicht mochte und die
sie in der fünften Klasse immer als "Mülleimer" beschimpft hatte, im
Chat verarscht. „So ein Chat steck voller Möglichkeiten!“, erkannte sie
schnell. Man ist anonym. Es gibt kaum Grenzen.
Bereits nach kurzer Zeit erschien eine neue
Serie im TV: Naruto, nach der alle verrückt waren. „Im Chat gab es viele Anime
Fans!“ Tamsin hat einen Naruto-Clan für alle Fans dieser Serie gegründet. Es
gab einige Clans im Chat, aber Tamsin wusste, worauf es bei so etwas ankommt,
und ihr Clan wurde rasch mit über 200 Mitgliedern einer der Größten von
Knuddels. "Es war berauschend. Alle hatten Naruto -Nicks, alle kannten
mich und meinen Hyuugaclan." Tamsins Ziel war es, einen eigenen Channel zu
gründen; einen, der ihr allein gehört und vom dem sie der Boss war.
Doch mehr als zwanzig Mitglieder waren nie
gleichzeitig im Channel. Dennoch hat Tamsin diese virtuelle Macht über eine
Gruppe Jugendlicher genossen. „Endlich
gab es etwas, wo ich nicht als Außenseiter unbeachtet in der Abgeschiedenheit
stehe und zuschaue. Nein, ich war der Clanchef. Jeder blickte zu mir auf. Wenn
ich Games starten wollte, wurden sie gestartet. Ich hatte die Macht, zu
bestimmen, wer Vieze-Anführer wurde, und, was dieser zu tun hatte! Fügte er
sich nicht, wurde er abgesetzt.“
Ja, es war toll. Aber auch das hat ihr
irgendwann nicht mehr gereicht. Der Clan verlor mit der Zeit an Popularität.
Tamsin hatte keine Lust mehr, die Prüfungen für neue Mitglieder durchzuführen.
"Ich habe unter der Werbung: Clanführer gesucht einfach jemand anderen
diese Aufgabe übergeben. Mir gehörte immer noch der Channel und damit der Ruf
als Clangründer." Dies ging einige Zeit lang gut. Bis Tamsin durchschaut
wurde, und der Clan zerbrach.
Um im Chat noch berühmter zu werden, ganz
nach dem Motto: "Im echten Leben bin ich ein Versager ohne Freunde, ohne
Arbeit. Aber hier im Chat kann ich sein, was ich will." legte sie sich
über dreihundert Nicks an. Nun, sie war nicht die einzige Nicksammlerin im
Chat, aber die Größte! Sie schenkte sich selbst die Herzen, was in ihrem Profil
dann so aussah, als hätte sie über dreihundert Freunde. „Dabei hatte ich nur
sehr wenige. Ich war albern, arrogant und habe viele nette Leute ohne es zu
merken vergrault.“ Sie machte Werbung für ihr Profil, um auf den Chatweiten Toplisten
auf Platz 1 zu landen. Letztlich kam sie nie tiefer als unter die ersten zehn.
„Oft bekam ich Anerkennung durch Mails wie:
Wow hast du viele Herzen. Omg, hast du viele Knuddels, wie machst du das nur!?“
Um ihre Gier nach Mehr zu stillen, begann sie eines Tages, sogenannte Fakebots
zu programmieren. Bots gab es im Chat viele. Sie waren verboten und halfen,
Minuten oder Spielpunkte zu sammeln. Wer erwischt wurde, wurde gesperrt. Naja,
mithilfe dieser Fakebots ergaunerte Tamsin Knuddels, die sie so lange sammelte,
bis sie 2000 Stück zusammenhatte, mit denen sie sich einen Smiley kaufen
konnte, der ihren Nick leuchten ließ. Wow. Das war seinerzeit der Hammer!
Tamsin wollte eigentlich Admin werden, denn die hatten rote Nicks. Aber das
Leuchten war viel cooler und mit keinen Verpflichtungen verbunden. Viele
Chatter waren neidisch, weil es diesen Smiley nur ein paar Mal im ganzen Chat
gab. "Der Tag, an dem ich den Ufosmiley bekam, der war nicht wie
Weihnachten. Er war viel besser!"
Eines Tages kam sie auf die Idee, Mottos für
Profile zu entwerfen. Mottoseiten waren beliebt. Im Grunde wurden einfach nur
irgendwelche komischen Sprüche mit für Knuddels passende Farbcodes versehen.
Aber unter diesen Entwürfen war das Copyright des Erstellers! "Noch etwas,
dass meine Berühmtheit weiter ankurbelt!", dachte Tamsin, die sich prompt
an die Arbeit machte, bis sie die größte und schönste Mottoseite im Web besaß!
Das Designen war einfach. HTML-Codes für die Page gab es viele. Es dauerte
nicht lange, bis ihre Seite durch ein wenig Werbung - wie untertrieben! - eine
tägliche Besucheranzahl von über 500Klicks aufwies. "In jedem Profil von
denen, die sich eines meiner Mottos kopiert hatten, stand mein Nick."
So widmete Tamsin ihre Existenz dem Chat.
Was für ein Fehler, den sie heute noch immer
bedauert. "Vom ersten Tag bis zu dem Moment, an dem ich meine Sucht
bezwungen habe, sind ungefähr sieben Jahre vergangen." Naja, im Grunde
wurde ihr Nick bereits 2010 auf Grund eines Verrates gesperrt, aber bereits
davor wusste sie, dass Knuddels ihr nicht guttat. "Einerseits war ich
dankbar. Die Sperre hat mir gezeigt, dass ich die ganzen Jahre etwas erarbeitet
habe, was im Grunde gar nichts wert ist!" Andererseits war sie traurig.
Was sollte sie machen ohne ihren Nick? Ohne Knuddels? "Ich habe mir einen
Neuen Nick gemacht, aber das war nicht dasselbe. Ich konnte meinen Smiley vor
der Sperre retten, aber kurz darauf hatte ich mir aus Leichtsinn einen Virus
eingefangen. Ca. 80% meiner Nicks wurden geklaut und gesperrt. Ich hatte nicht
das Verlangen, sie entsperren zu lassen." Tamsin wollte weg von Knuddels.
Wollte leben! „Ich gebe zu, ein Teil hat Knuddels selbst dazu beigetragen.
Nicht nur wegen der Sperre. Knuddels selbst wurde langweilig. Smileys verloren
an Wert, weil es immer mehr gab. Die Leute wurden, wie ich, erwachsen. Die
Gespräche waren anders, als früher. Statt locker und albern wurde es ernst und
spießig.“ Heute, nach zehn Jahren hat sich der ganze Chat komplett gewandelt.
Nichts hat mehr einen Wert. Nicht einmal Spielränge oder Herzen. Es gibt
Leuchtende Nicks im Überfluss. Gespräche bestehen nur noch aus Fragen wie „Wie
geht’s? – was machst du?“. Tamsin kommt sich manchmal vor wie das letzte
intelligente Wesen in einem Haufen Affen, die alle nur „Wie geht’s? – was
machst du, Wie geht’s? – was machst du??“ fragen. Und das ununterbrochen. Hey,
wer’s nicht glaubt, probier’s doch aus!
;)
Seither hat Tamsin angefangen, nichtmehr ins
Netz, sondern auf Office zu tippen. Sie hatte einen neuen Plan: Ein Buch
schreiben. "Schreiben - ich tu immer noch, was ich immer gerne tat, nur
diesmal hat es einen Sinn!" Das hofft sie. Noch immer träumt sie, eines
Tages eines ihrer Werke der Öffentlichkeit preiszugeben.
„Ich gebe zu, heute denke ich oft an diese
Zeit zurück. Knuddels war damals so groß und beliebt, wie das heutige Facebook.
Ich war bekannt und berühmt. Aber sowas vergeht, im Gegensatz zu echten
Freundschaften. Heute weiß ich: Ein echter Freund ist viel mehr wert, als von
hunderten von Leuten gekannt, gesehen, aber doch nicht beachtet zu
werden."
"Mh, ich hätte so viel mehr
erreichen können. Hätte eine Ausbildung abschließen und ausziehen können. Viele
meiner alten Schuldfreunde haben inzwischen Familie, Kinder, Arbeit. Sind
erfolgreich. Und verheiratet. Und ich lebe immer noch in meinem
Kinderzimmer.", weiß Tamsin voller Bedauern.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen